Der FC Bayern München plant einen Paradigmenwechsel bei der Transferpolitik. Die neue Strategie ähnelt der des Rivalen Borussia Dortmund, gegen den der FCB am Samstag den zehnten Bundesligatitel in Serie klarmachen kann. Doch kann das überhaupt funktionieren? Oder müssen sich die Münchner von ihrem Selbstverständnis als Titelhamster verabschieden?
So richtig groß ist die Vorfreude bei Julian Nagelsmann offenbar nicht. Gewinnt der FC Bayern München das Topspiel der Bundesliga gegen Borussia Dortmund (Sa., 18:30 Uhr im LIVETICKER), ist der Klub bereits zum zehnten Mal in Serie Deutscher Meister - eine in Deutschland beispiellose Dominanz, die selbst in den Top 4-Ligen Europas seinesgleichen sucht.
Für Nagelsmann wäre es der erste Meistertitel seiner Karriere. Doch trotz der besonderen Situation, gegen den einzigen Verfolger und ewigen Rivalen im direkten Duell Meister werden zu können, verspürt der Trainer nur wenig Euphorie. "Die letzten zwei Wochen trüben das Stimmungsbild", sagt Nagelsmann, es gebe "viele Dinge, die mich beschäftigen".
Allen voran natürlich das Aus im Viertelfinale der Champions League gegen den FC Villarreal.
In der Bundesliga ohne Konkurrenz, in Europa in dieser Saison überraschend früh abgehängt. Nicht erst seit dem Champions League-Aus arbeiten die Bosse um den Vorstandsvorsitzenden Oliver Kahn an einem Plan, wie die Vormachtstellung des Vereins in Deutschland in den kommenden Jahren erhalten werden kann. Und wie die Münchener gleichzeitig auf lange Sicht mit den Top-Klubs in Europa konkurrieren können.
FC Bayern will sich dem BVB anpassen
Eine zentrale Rolle spielt dabei die Transferpolitik - in der sich der FC Bayern ausgerechnet dem BVB anpassen will. Muss sich der Rekordmeister deshalb vielleicht sogar vom Selbstverständnis verabschieden, in der Champions League jedes Jahr unter die Top-4 zu kommen?
Hintergrund: Wie der kicker berichtete, sollen künftig vielversprechende Spieler "zwischen 20 und 22 Jahren" im Fokus stehen, die in der Folge gewinnbringend verkauft werden können. Somit würde sich der deutsche Rekordmeister der Transferstrategie des BVB annähern, der in den vergangenen Jahren immer wieder Leistungsträger wie etwa Jadon Sancho entwickelte und für viel Geld weiterverkaufte.
"Es ist ein Unterschied, ob man 16- oder 17-jährige Spieler verpflichtet, sie dann drei Jahre lang ausbildet und dann als fertige Spieler Real Madrid verkauft. Oder ob man 22-, 23-jährige Spieler zu einem noch vernünftigen Preis verpflichtet, die schon in der Lage sind, mit Bayern München alles zu gewinnen, die drei bis vier Jahre bei unserem Verein bleiben und dann - um eine Re-Finanzierung von Gehälter und Ablösen zu generieren - auch wieder verkauft werden", konkretisierte Nagelsmann Ende Februar den Fokus zwar auf Spieler mit Profi-Erfahrung.
Doch nach Informationen von SPOX und GOAL umfassen die Planspiele durchaus auch den Jugendbereich. Sprich: Bayern könnte ähnlich wie Erzrivale Dortmund schon früh - und künftig noch mehr - in talentierte Nachwuchskräfte aus dem Ausland investieren, diese dann selbst zu Profis entwickeln und wieder zu verkaufen.
Und auch wenn es keiner aussprechen mag: Ungeachtet des Alters der potentiellen Neuzugänge würde sich der FC Bayern damit de facto zu einer Art hochklassigem Ausbildungs- bzw. Verkäuferverein für die absoluten Top-Klubs entwickeln. Das wäre ein grundlegendes Umdenken in der Transferstrategie.
FC Bayern: Warum die Münchner umdenken müssen
Für Bayerns Umdenken gibt es gleich mehrere Gründe - alle sind sie wirtschaftlicher Natur.
1. Die finanziellen Einbußen der Corona-Pandemie
Auch der Bundesliga-Krösus FC Bayern München musste in der Corona-Pandemie erhebliche finanzielle Einbußen verkraften. Im Geschäftsjahr 2020/2021 erwirtschaftete der FC Bayern einen Gesamtumsatz in Höhe von 643,9 Mio. Euro.
Zum Vergleich: Der Rekordmeister bewegt sich damit aktuell auf dem Niveau aus der Saison 2016/2017 (damals 640,5 Mio. Euro). Im ersten Jahr der Pandemie (2019/2020) setzten die Münchner noch 698 Mio. Euro um. Im Rekord-Geschäftsjahr 2018/19 hatte der Verein noch rund 750 Millionen Euro erlöst.
Zahlen, die verdeutlichen, dass auch der Branchenprimus den Gürtel in Zukunft etwas enger schnallen muss.
"Wir müssen schauen, dass unsere Qualität in der Mannschaft und die wirtschaftliche Komponente zusammenpassen. Wir haben weiterhin eine Pandemie und kein volles Stadion", sagte deshalb Sportvorstand Hasan Salihamidzic Ende März über die Kaderplanung beim Rekordmeister. "Es ist finanziell eine schwierige Phase, aber wir versuchen, unseren Weg zu gehen."
FC Bayern AG: Umsatzentwicklung
Geschäftsfjahr | Umsatz in Mio. Euro | Gewinn in Mio. Euro nach Steuern |
2016/2017 | 640,5 | 39,2 |
2017/2018 | 657,4 | 29,5 |
2018/2019 | 750,4 | 52,4 |
2019/2020 | 698,0 | 9,8 |
2020/2021 | 643,9 | 1,9 |
2. Die Ablösesummen steigen weiter
Entgegen allen Prognosen und Demutsbekundungen aus der Branche selbst bewegen sich die Ablösesummen weltweit trotz der Corona-Pandemie weiter nur in eine Richtung: nach oben. Die Folge: Internationale Topspieler wie Kylian Mbappe oder Erling Haaland sind für den FC Bayern längst nicht mehr finanzierbar. Im Wettbieten um die besten Spieler der Welt kann der Klub nicht mehr mithalten.
"Man ist in den nächsten Jahren vielleicht nicht immer in der Lage, bei einem 27-jährigen, fertigen Profi, der vielleicht auch ein Angebot von Paris, Chelsea oder ManCity hat, mitzubieten", ließ Nagelsmann vor einigen Wochen durchblicken.
Kahn legte im Sport1-Doppelpassin Sachen Haaland letzte Woche nach: "Es wird ja oft vom Haaland-Paket gesprochen. Matthias Sammer hat das gar nicht so schlecht ausgedrückt, als er sagte, da wird einem ein bisschen schwindelig. Das sind Bereiche, die sind sehr weit weg von dem, was wir uns vorstellen".
Das Problem wird noch verschärft, wenn man sich vor Augen führt, welche Summen mittlerweile sogar für Nachwuchsspieler ausgegeben werden. Nur ein Beispiel: Für den damals 16-Jährigen Hannibal überwies Manchester United im Sommer 2020 nach Informationen von SPOX und GOAL rund 10 Millionen Euro an die AS Monaco. Marcel Sabitzer (kam als Stammspieler und Kapitän von RB Leipzig) kostete die Bayern nur fünf Millionen Euro mehr.
3. Das hohe Gehaltsniveau
Wahr ist aber auch: Einen Teil des Problems haben sich die Verantwortlichen selbst geschaffen. Denn die Gehaltskosten des Kaders sind in den vergangenen Jahren krass gestiegen. Inklusive der Spitzengehälter beliefen sich die gesamten Personalkosten im abgelaufenen Geschäftsjahr auf rund 350 Millionen Euro - wie immer der größte Ausgabenposten.
Angesprochen auf die Langeweile nach neun Meistertiteln des FC Bayern in Folge erklärte Dortmunds Boss Hans-Joachim Watzke zuletzt in Sport-Bild: "Was man sich vor Augen halten muss: Der Abstand im Gehaltsvolumen zwischen dem Tabellenersten Bayern und dem -zweiten Dortmund beträgt mittlerweile wahrscheinlich mehr als 150 Millionen Euro. Und ist damit größer als der Abstand zwischen uns und Greuther Fürth auf Platz 18."
Die Gehaltsgrenze nach oben verschoben hat vor allem Bundesliga-Rekordspieler Lucas Hernandez. Der Abwehrspieler, der bei Atletico Madrid Medien zufolge vier Millionen Euro netto bekam, gehört seit seinem Transfer im Sommer 2019 zu den Topverdienern in München und erhält Schätzungen zufolge wohl immerhin rund 17 Millionen Euro brutto.
Damit verdiente er zunächst offenbar sogar mehr als Kapitän Manuel Neuer und dessen Stellvertreter Thomas Müller vor deren Vertragsverlängerungen im Frühjahr 2020. Entsprechend groß soll vorher die Unruhe in der Kabine gewesen sein.
Die meisten Leistungsträger respektive deren Berater sollen sich seitdem in den Verhandlungen auf Hernandez' Entlohnung berufen und die 20-Millionen-Marke als Ziel gesetzt haben. Bei Spitzenverdiener Robert Lewandowski, Müller, Neuer sowie offenbar auch Joshua Kimmich scheint dies bei ihren jeweils letzten Vertragsverlängerungen gelungen zu sein. Nun schnallt Bayern aber den Gürtel enger - was unter anderem Niklas Süle zu spüren bekam, der nächste Saison beim BVB spielen wird.
Insgesamt scheint der FC Bayern damit fast schon gezwungen zu sein, seine Transferpolitik künftig neu auszurichten und - entsprechend dem Vorbild BVB - Transfererlöse zu erzielen.
Doch kann das Dortmunder Modell in München überhaupt funktionieren? Kann der Rekordmeister den Kampf um die weltweit besten Talente auf lange Sicht überhaupt gewinnen?
FC Bayern steht vor zwei großen Problemen
1. Bayern verlor schon den Poker um Bellingham - Fehlende Perspektive für Talente
Beim 6:1 gegen den VfL Wolfsburg schrieb der BVB Geschichte. Zum ersten Mal überhaupt in der Bundesliga kamen bei einer Mannschaft gleich drei 17-Jährige zum Einsatz: Tom Rothe, Jamie Bynoe-Gittens und Yousouffa Moukoko. In Dortmund ein Geschäftsmodell. Wie kein zweiter Verein in Europa haben es die Schwarz-Gelben geschafft, sich die Entwicklung hochtalentierter Jugendlicher zu Top-Profis auf ihre Fahnen zu schreiben. Neben Jadon Sancho (für 85 Mio. Euro an Manchester United verkauft) und mit Abstrichen Erling Haaland (schon in Salzburg ein Star) steht dafür vor allem Jude Bellingham. Der BVB holte den zentralen Mittelfeldspieler vor rund zwei Jahren von Zweitligist Birmingham City, ließ sich den damals 17-Jährigen satte 25 Mio. Euro kosten.
Spannend: Auch der FC Bayern stieg damals in den Poker mit ein, bot Bellingham nach Informationen von SPOX und GOAL ein Vielfaches von dem, was der BVB letztendlich zu zahlen bereit war. Bellingham ging nach Dortmund - und ist dort längst Stammspieler und Leistungsträger.
Ausschlaggebender Punkt für seine Entscheidung gegen den FCB: Die fehlende Perspektive. Die Aussicht auf regelmäßige Einsatzzeiten bei den Profis bewertete er in Dortmund als schlicht und ergreifend größer. Das wäre heute und wahrscheinlich auch morgen nicht anders. Auch für Haaland war 2020 ein Wechsel zum FC Bayern nicht in Frage gekommen. Und auch Karim Adeyemi wechselt eher zum BVB als nach München.
Grundsätzlich eine Abwägung, die jedes Talent treffen muss, wenn ein Angebot des FC Bayern ins Haus flattert. Jedes Talent muss sich die Frage stellen: Bekomme ich im teuren Profi-Kader, in dem die Stars immer gesetzt sind, wirklich genug Spielpraxis? Und wenn nicht bei den Profis, wo dann? Ist es für meine Entwicklung wirklich von Vorteil, wenn ich in der Regionalliga Bayern gegen Pipinsried spiele?
Doch wie verhält es sich bei den von Nagelsmann angesprochenen 22-23-Jährigen?
2. Bayerns Problem mit dem Titeldruck
Ryan Gravenberch ist zwar erst 19, passt aber durchaus in die Kategorie, die Nagelsmann meint. Der Sechser, der sich mit Bayern bereits über einen Wechsel einig sein soll, sammelte bei Ajax Amsterdam bereits Profi-Erfahrung auf hohem Niveau, würde in München deshalb nicht bei Null starten.
Und doch besteht auch beim Niederländer eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass er beim Rekordmeister mit Anpassungsschwierigkeiten oder Leistungsschwankungen zu kämpfen haben würde. So wie in der aktuellen Saison auch schon Dayot Upamecano (23), Tanguy Nianzou (19) oder auch Marcel Sabitzer (28).
Würde Gravenberch weiterhin das Vertrauen des Trainers genießen oder müsste Nagelsmann ihn stattdessen, letztendlich um den Erfolg des Klubs nicht zu gefährden, nicht auf die Bank setzen?
Der Punkt ist: Der FC Bayern hat das Selbstverständnis, jede Saison Deutscher Meister zu werden und den DFB-Pokal zu holen, dazu mindestens das Halbfinale der Champions League zu erreichen. "Dann wäre ich hier nicht mehr Trainer", sagte Nagelsmann erst am Donnerstag auf die Frage, was passieren würde, wenn der FC Bayern in dieser Saison auch die Meisterschaft verspielt hätte.
Der BVB muss das nicht. Der Klub bietet Talenten nicht nur eine bessere Perspektive, sondern nimmt es deshalb auch bewusst in Kauf, dass die Hoffnungsträger Fehler machen dürfen, um sich bestmöglich entwickeln zu können. In München angesichts des Titeldrucks undenkbar.
Bayerns Transfer-Dilemma: Das Fazit
So richtig kopieren kann der FC Bayern das Transfer-Modell des BVB (noch) nicht. Der Verein steckt in einem Dilemma. Zwischen wirtschaftlichem Druck auf der einen, und sportlichem Druck auf der anderen Seite. Wollen die Bosse die neue Strategie wirklich durchziehen und den Kampf um die weltweit besten Talente für sich entscheiden, muss sich der Verein fast zwangsläufig vom Selbstverständnis verabschieden, in der Champions League jedes Jahr unter die Top-4 zu kommen. Und gleichzeitig den Umbruch im Kader weiter vorantreiben.
Dass Kahn und Sportchef Hasan Salihamidzic die 2023 auslaufenden Verträge mit Manuel Neuer (36) und Thomas Müller (32) nach kicker-Informationen nur um ein weiteres Jahr verlängern wollen, ist deshalb durchaus auch als Signal eines Erneuerungsprozess zu werten.
Und was passiert mit Robert Lewandowski, dessen Zukunft offen scheint?
"Ich denke, Robert hat in den letzten zwei oder drei Jahren die Anerkennung bekommen, die er wirklich verdient hat, auch in Bezug auf die individuelle Anerkennung, die Wahl zum Weltfußballer des Jahres und einige individuelle Trophäen aufgrund dessen, was er in den letzten Jahren bei Bayern München geleistet hat", sagte Ex-Bundes-und Bayern-Trainer Jürgen Klinsmann in einer internationalen Medienrunde, in der auch SPOX und GOAL dabei waren.
"Das zeigt auch, dass das Umfeld bei Bayern München ihm die Möglichkeit gibt, herauszustechen und so viele Tore zu schießen, weil er Spieler hat, die ihn einfach fantastisch unterstützen." Den ganz großen Druck, mit dem Polen möglichst schnell zu verlängern, sieht Klinsmann aber nicht: "Ich denke, es gibt eigentlich keine Dringlichkeit für Bayern München. Aber natürlich ist Robert Lewandowski das wichtigste Element. Wenn er bei Bayern bleibt, wovon ich überzeugt bin, dann sind alle Teile (für weitere Titel, die Red.) vorhanden."
Kahn sieht diese Argumente natürlich, erinnerte im Doppelpass aber eben auch daran: "Ganz nebenbei geht es da eben auch um finanzielle Dinge und da muss man sich als Verein Gedanken machen, wie man das hinbekommt. Denn auch der FC Bayern hat in den letzten zwei Jahren gelitten."