Leon Goretzka ist es gewohnt, älter zu wirken als er eigentlich ist. Das fing schon zu Teenager-Zeiten an, in der deutschen U16- und U17-Nationalmannschaft. "Leon war der unstrittige Leader im Team", erinnerte sich sein damaliger Trainer Stefan Böger mal im Interview mit SPOX und GOAL. "Er war vom ersten Tage an derjenige, dem alle anderen zuschauten und zuhörten."
Die noch so jugendlichen Mitspieler hätten sich laut Böger Ratschläge vom reiferen Goretzka geholt: "Es war beeindruckend, wie schnell die anderen ihm vertraut haben und er die Mannschaft als Kapitän geführt hat." Diese Mitspieler nannten sich unter anderem Niklas Süle, Serge Gnabry oder Timo Werner.
Der gleichaltrige Joshua Kimmich kam damals übrigens kaum in den Genuss von Goretzkas Tipps - er spielte in diesen Altersklassen keine ernsthafte Rolle. Mittlerweile gilt Kimmich trotz aller (oftmals unberechtigter) Kritik und den zuletzt aufgekommenen Gerüchten um einen möglichen Abgang vom FC Bayern als Schlüsselfigur des deutschen Fußballs. Als Kapitän der Zukunft.
Goretzka, der einstige Leader und der Ratgeber, vor nicht allzu langer Zeit noch unumstrittener Leistungsträger, kommt in der öffentlichen Wahrnehmung und wohl auch klubintern im Alter von 28 Jahren dagegen plötzlich wie ein Auslaufmodell daher. Aktuell wirkt es, als wäre Goretzka deutlich mehr als nur zwei Tage älter als Kimmich. Als wären seine besten Zeiten vorbei.
Leon Goretzkas schwächste Saison beim FC Bayern
Goretzkas fünfte Saison beim FC Bayern war in der Tat seine schwächste. Zeigte er in der Hinrunde noch einige gute Auftritte, baute er vor allem seit der Amtsübernahme von Trainer Thomas Tuchel bedenklich ab. "Natürlich waren auch schlechte Leistungen dabei - mehr, als man es von mir gewohnt ist", sagte er selbstkritisch bei Sport1.
Bei den Champions-League-Viertelfinals gegen Manchester City durfte Goretzka noch durchspielen, dann verlor er seinen Stammplatz. Beim alles entscheidenden letzten Bundesligaspiel gegen den 1. FC Köln wurde er nur 14 Minuten nach seiner Einwechslung schon wieder ausgewechselt. Jamal Musialas Meistertitel-bringender Treffer erlebte er von der Bank.
An Stellenwert eingebüßt hat Goretzka beim FC Bayern dem Vernehmen nach nicht nur durch die Ankunft von Tuchel, sondern auch durch den Abschied von Sportvorstand Hasan Salihamidzic. Als dessen erster Neuzugang genoss Goretzka laut tz intern stets die volle Unterstützung Salihamidzics.
Im Trainingslager am Tegernsee empfahl man Goretzka in der Fußball-Geheimsprache, über einen Transfer nachzudenken. Tuchel wollte nicht versichern, dass Goretzka nach der sommerlichen Transferperiode noch im Kader des FC Bayern stehen wird: "Für Leon war es mit Sicherheit ein unbefriedigendes Ende der Saison. Nicht nur im letzten Spiel, in der letzten Phase. Nicht nur für ihn, für uns auch."
Angeblich beschäftigt sich Manchester United mit einer Verpflichtung, gehandelt wird er aber auch bei Mittelklasse-Klubs wie West Ham United. Obwohl Goretzka selbst einen Verbleib anstrebt, würde ihn der FC Bayern fünf Jahren nach seiner Ankunft bei einem Angebot in Höhe von 40 bis 50 Millionen Euro wohl abgeben.
FC Bayern München: Wie Goretzka die Corona-Pause perfekt ausnutzte
Nach Lehrjahren bei seinem Jugendklub VfL Bochum und dem internationalen Durchbruch beim Revier-Nachbarn FC Schalke 04 wechselte Goretzka 2018 im Alter von 23 Jahren ablösefrei zum FC Bayern. Als Leistungsträger war er damals nicht direkt eingeplant, bei der missratenen WM in Russland hatte er in der Nationalmannschaft zuvor nur eine Nebenrolle gespielt. In München musste Goretzka in einem hochkarätig besetzten Mittelfeld mit Thiago Alcántara, Javi Martínez, James und Corentin Tolisso um seinen Platz kämpfen.
Goretzka selbst erklärte bei seiner Ankunft, dass er zwar "relativ flexibel" einsetzbar sei, aber "am liebsten auf der Achterposition" spiele. Der damalige Trainer Niko Kovac testete ihn auch in ungewohnten Rollen, beispielsweise als Linksverteidiger, seitlichen Mittelfeldspieler oder klassischen Zehner. Meist agierte Goretzka versetzt vor Thiago und/oder Martínez als Achter. Er sammelte in seiner Premierensaison überraschend viele Einsatzminuten, mehr sogar als in allen folgenden Spielzeiten.
In der Triple-Saison 2019/20 war Goretzka bis zur Corona-Pause oftmals Rotationsopfer, sofern er wegen irgendeiner Blessur nicht gerade ohnehin fehlte. Die Pandemie-bedingte Unterbrechung nutzte Goretzka dann aber besser als jeder andere Profi. Innerhalb weniger Wochen verwandelte sich der bis dahin schmächtige Schlacks in eine durchtrainierte Maschine.
Plötzlich strahlte Goretzka eine beeindruckende Präsenz aus, glänzte mit seiner unvergleichlichen Dynamik und Torgefahr wie nie zuvor. Plötzlich war er unumstritten gesetzt. Nach dem Restart stand er auf dem Weg zum Triple in jedem Spiel in der Startelf. In Abwesenheit des verletzten Thiago bildete Goretzka zunächst gemeinsam mit Kimmich die Doppelsechs. Just als Thiago zurückkehrte, fiel Benjamin Pavard aus. Goretzka bekam mit Thiago einen neuen Mittelfeld-Partner, Kimmich half als Rechtsverteidiger aus.
Leon Goretzka: Ein "Gesicht dieser Mannschaft"
Parallel zum sportlichen Durchbruch entwickelte sich der rhetorisch starke und reflektierte Goretzka abseits des Platzes zu einer Art Außenminister des FC Bayern. Gemeinsam mit Kimmich gründete er die erfolgreiche Spendenaktion #WeKickCorona. Bereits zuvor hatte er sich klar gegen die AfD positioniert, zum Blutspenden und zum Klimaschutz aufgerufen.
In der darauffolgenden Saison musste Goretzka aufgrund mehrere kleineren Blessuren zwar immer wieder passen, war sofern fit an der Seite von Kimmich aber stets gesetzt. Man hatte den Eindruck, dass dieses Duo den Maschinenraum des FC Bayern und der Nationalmannschaft über Jahre prägen würde. Im September 2021 verlängerte Goretzka seinen Vertrag zu deutlich verbesserten Bezügen vorzeitig bis 2026.
"Leon Goretzka passt aus vielen Gründen optimal zum FC Bayern: Zum einen werden seine sportlichen Qualitäten europaweit geschätzt. Zum anderen wirkt er als Persönlichkeit über das Spielfeld hinaus. Goretzka ist ein Meinungsbildner auf und neben dem Fußballplatz - und genau solche Spieler wünschen wir uns hier beim FC Bayern", sagte Präsident Herbert Hainer im Zuge der Vertragsverlängerung. Sportvorstand Hasan Salihamidzic nannte ihn ein "Gesicht dieser Mannschaft".
Leon Goretzkas problematisches Zusammenspiel mit Kimmich
Im Sommer 2022 rückte Goretzka nach Robert Lewandowskis Abschied in den Mannschaftsrat auf, gleichzeitig kamen aber vermehrt Zweifel an ihm auf. Das Zusammenspiel mit Kimmich im Mittelfeld-Zentrum klappte längst nicht mehr so reibungslos wie in der Endphase der Triple-Saison. Aufgrund des Offensivdrangs der beiden fehlte regelmäßig die defensive Absicherung. Es wurde deutlich: Sie wiegen ihre Schwächen nicht auf, sondern verstärken sie nur.
Zur Bekämpfung der Probleme testeten sowohl Tuchel als auch Bundestrainer Hansi Flick Goretzka in der vergangenen Saison entgegen seines eigentlichen Naturells in einer tieferen Rolle, um Kimmich mehr Freiräume zu gewähren.
"Ich habe in den letzten Monaten oft gehört: 'Der Goretzka ist gar nicht mehr im Sechzehner, der schießt gar keine Tore mehr oder kreiert zu wenig'", sagte er neulich. "Das war in einer Phase, in der ich ganz andere Aufgaben hatte. Da ging es in erster Linie viel um Restverteidigung, viel um Spielaufbau im ersten Spieldrittel und nicht mehr darum, in Sechzehner-Nähe zu gelangen. Ich wurde an Sachen gemessen, die vorher von mir verlangt wurden, als ich noch mehr auf der Acht war - mit anderen taktischen Vorgaben."
Goretzka fremdelte aber mit den neuen Aufgaben, weil ihm dafür auf höchstem Niveau die nötige Handlungsschnelligkeit und Passqualität fehlt. Gleichzeitig büßte er sukzessive seine Torgefahr ein. Verzeichnete er in der Triple-Saison noch 0,57 Scorerpunkte pro 90 Minuten, fiel der Wert seitdem Jahr für Jahr ab und lag vergangene Saison nur noch bei 0,25.
Leon Goretzka: Warum er es beim FC Bayern schwer hat
Am besten kommen seine Fähigkeiten auf der Acht neben einem absichernden Sechser zur Geltung. Dann kann Goretzka ein Spiel mit seiner Dynamik und seiner Torgefahr beleben. Aber diese Position dürfte beim FC Bayern auf absehbare Zeit verbaut sein.
Jamal Musiala ist als Zehner nicht mehr wegzudenken, Kimmich dahinter gesetzt. Dazu braucht es eigentlich einen klassischen Sechser - der Goretzka nun einmal nicht ist. Trainer Thomas Tuchel drängt auf dieser Position auf die Verpflichtung eines hochkarätigen Neuzugangs. Sein Wunschspieler Declan Rice wechselte zum FC Arsenal, gehandelt wird aktuell Aurélien Tchouaméni von Real Madrid.
Beim ersten Testspiel gegen den FC Rottach-Egern agierte Neuzugang Konrad Laimer an Kimmichs Seite. Auf Einsatzzeiten im Mittelfeld hoffen darüber hinaus auch Raphaël Guerreiro, Ryan Gravenberch und - sofern er überraschenderweise doch bleibt - Marcel Sabitzer. Es herrscht ein Überangebot, dem der noch vor kurzem unumstrittene Goretzka zum Opfer fallen könnte.
So rasant wie sein Aufstieg zum Leistungsträger und Führungsspieler in der Triple-Saison erfolgte, verlief sein vorläufiger Abstieg zum vermeintlichen Auslaufmodell. Aber zur Erinnerung: Goretzka ist immer noch erst 28 Jahre alt. Eine Rückkehr zu alter Stärke ist ihm unbedingt zuzutrauen, vielleicht bedarf es dafür aber tatsächlich einen Klubwechsel.
FC Bayern München: Die wichtigsten Termine der Vorbereitung des FCB
Datum | Ereignis |
15. - 20. Juli 2023 | Trainingslager am Tegernsee |
18. Juli 2023 | Testspiel gegen FC Rottach-Egern (27:0) |
23. Juli 2023 | Teampräsentation in der Allianz Arena |
24. Juli - 3. August 2023 | "Audi Summer Tour" in Japan und Singapur |
26. Juli 2023 | Testspiel gegen Manchester City in Tokio, Japan |
29. Juli 2023 | Testspiel gegen Kawasaki Frontale in Tokio, Japan |
2. August 2023 | Testspiel gegen den FC Liverpool in Singapur |
7. August 2023 | Testspiel gegen AS Monaco in Unterhaching |
12. August 2023 | Super Cup gegen RB Leipzig in München |
18.-20. August 2023 | Start der Bundesliga-Saison 2023/24 |