SPOX: In Anlehnung an den "Geist von Juanito" twitterten Sie gleich nach Dortmunds 4:1 im Hinspiel gegen Real Madrid: "90 Minuten im Bernabeu sind lang." Glauben Sie tatsächlich an ein Weiterkommen Ihres Ex-Klubs?
Bodo Illgner: Das 1:4 ist ein schwieriges, aber kein unlösbares Ergebnis. Es werden gerade nicht umsonst die alten Ergebnisse herausgekramt: Das 5:1 gegen Derby County, das 6:1 gegen Anderlecht - oder das Halbfinal-Rückspiel letzte Saison gegen die Bayern, als es nach 15 Minuten bereits 2:0 für Real stand. Es zeigt: Im Bernabeu ist alles möglich. Natürlich ist ein deutlicher Sieg gegen Dortmund nach dem Auftritt am Mittwoch schwer vorstellbar. Allerdings war es zuvor auch nur schwer vorstellbar, dass Dortmund das Hinspiel mit 4:1 gewinnen könnte.
SPOX: Was wird das Schlüsselelement im Rückspiel?
Illgner: Die Taktik steht hinten an, alles entscheidend werden die ersten 15 Minuten. Es kann für Real nur darum gehen, unheimlichen Druck aufzubauen und mindestens so engagiert zu spielen wie Dortmund. Wenn das gelingt, werden die Fans hinter der Mannschaft stehen und diese unbeschreibliche Atmosphäre im Bernabeu erzeugen, die vor allem im Europapokal für viele Wunder gesorgt hat.
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SPOX: Erkannten Sie bei den Real-Spielern im Hinspiel ein Einstellungsproblem? Madrid wirkte für einige arrogant, für andere seltsam teilnahmslos.
Illgner: Ein bisschen Überheblichkeit war sicherlich dabei. Sie wich im Spielverlauf einer Ratlosigkeit angesichts der Dortmunder Dominanz. Für mich als Ex-Real-Spieler und immer noch Real-Fan war der Abend deswegen extrem enttäuschend. Zumal ich den Einbruch nicht verstehe: Nach einem sehr durchwachsenen Saisonstart wurde die Mannschaft in den letzten Wochen und Monaten immer besser, zeigte teils überragende Leistungen wie gegen Barcelona. Und dann kam das 1:4.
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SPOX: Welchen Eindruck hinterließ der sonst so selbstsichere Jose Mourinho?
Illgner: Mourinho wurde überrascht. Man hatte den Eindruck, dass Dortmund ihn regelrecht überrollt hat. Es war eine absolute Ratlosigkeit, Sprachlosigkeit, eine Machtlosigkeit zu spüren. Ähnlich wie am Tag zuvor bei Barcelona und Tito Vilanova in München. Beide Trainer reagierten viel zu spät, obwohl einige ihrer Spieler völlig von der Rolle waren.
SPOX: Sie hatten Mourinho für die Entscheidung kritisiert, kurz vor Weihnachten Iker Casillas auf die Bank zu setzen und Adan zur Nummer eins zu befördern. Nun hat sich der im Winter nachgekaufte Diego Lopez als Stammtorwart behauptet. Nachvollziehbar?
Illgner: Aus sportlicher Sicht: definitiv. In den bisherigen Spielen überzeugte Lopez und ich wüsste nicht, wie Casillas hätte besser sein können. Beim ersten Gegentor in Dortmund könnte man diskutieren, ob Lopez bei der Götze-Flanke hätte rauskommen müssen, ansonsten war die Leistung tadellos. Ohne die zwei, drei tollen Paraden von Lopez hätte Real noch deutlicher verloren. So geht es die ganze Zeit, seit er verpflichtetet wurde. Daher ist es die logische Konsequenz, dass er weiterspielt, während Casillas zweieinhalb Monate verletzt war und ohne Spielpraxis ist.
SPOX: Aus der Sicht eines ehemaligen Weltklasse-Keepers: Gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen Casillas und Lopez?
Illgner: Natürlich, Casillas gehört fraglos immer noch zu den Besten auf der Welt, wenn er in normaler Verfassung ist. Doch ich kenne es aus meiner aktiven Zeit: Nach einer langen Pause dauert es, um dahin zurückzukehren. Kleinfeldspiele im Training reichen nicht aus, um an Reaktion, Geschwindigkeit und Spielübersicht zu arbeiten, dafür benötigt man Wettkampfsituationen. Daher hätte man Casillas in der Liga in Bilbao oder gegen Betis testen können. Aber Mourinho wollte wohl keine unnötige Diskussion eröffnen, nachdem Lopez keinen Grund zur Kritik gibt.
SPOX: Die Personalie Casillas ist ein Politikum in Madrid. Fühlen Sie sich an Ihre eigenen Erlebnisse erinnert? Bei der WM 1994 versuchte der damalige Bundestrainer Berti Vogts, relativ offensichtlich die Schuld für die Viertelfinal-Niederlage Ihnen anzuhängen.
Illgner: Eine solche Parallele habe ich noch gar nicht gezogen, doch es stimmt, es gibt Ähnlichkeiten. 1994 arbeitete der Trainer aktiv darauf hin, dass das Ausscheiden an mir festgemacht wird. Ich machte damals den politischen Fehler und gab aus der Enttäuschung heraus sofort den Rücktritt aus der Nationalmannschaft bekannt. So konnte der Trainer alles auf mich abladen, weil er keine Konsequenzen mehr zu befürchten hatte. Daher kann ich die Enttäuschung nachempfinden, die Casillas spürt. Die Position des Torhüters ist ohnehin sehr, sehr eigenartig. Es gab schon Trainer, die versucht haben, im Tor zu rotieren, am Ende bringt das alles nichts und man muss sich festlegen. Es kann immer nur ein Torwart spielen, Punkt. Auf den Feldpositionen kann jemand zumindest in den letzten 10, 15 Minuten eingewechselt und herangeführt werden. Für Casillas kommt das nicht in Frage. Entsprechend ist es extrem schwierig, mit der Situation umzugehen.
SPOX: Nach all den Verwerfungen steht Mourinhos Abschied aus Madrid angeblich bevor. Ist Dortmunds Jürgen Klopp eine denkbare Alternative?
Illgner: Jürgen Klopp kann ich mir zwar überall vorstellen. Das Engagement und die Euphorie, die er seinen Spielern übertragen kann, sprechen für ihn. Genauso die Erfolge mit Dortmund. Nur: Ihm fehlt vielleicht die Erfahrung, um sofort einen Klub wie Real oder Barca zu übernehmen. Er passt perfekt zur Borussia. Ich würde ihm wünschen, dass er in Dortmund bleibt und die nächsten Jahre auf dem gleichen Niveau weiterarbeiten kann.
Hier geht's zu Teil II: Illgner über den umworbenen Heynckes und Neuers Stellung