Der FC Chelsea hat das Ausleihen von Talenten zum Geschäftsmodell auserkoren. Aus "Trial and Error" wurde dank eines kongenialen Duos ein profitables System - auf finanzieller und sportlicher Ebene. Doch die Schattenseiten sind bedenklich.
"Schau dir den Franzosen an, der ist ein Star!", schwärmte Michael Ballack, als er seinen neuen Teamkollegen kicken sah. Auch Frank Lampard war hin und weg: "Sein Naturtalent ist atemberaubend." Und John Obi Mikel gestand scherzhaft, dass er im Training stets versuche, den 16-jährigen Franzosen umzutreten: "Es ist die einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten. In puncto Veranlagung ist er der beste Spieler der Welt."
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Der Adressat des kollektiven Lobes war Gaël Kakuta. Damals, im Jahr 2007, war er das wohl begehrteste Talent auf dem internationalen Markt. Gesegnet mit bewundernswertem Ballgefühl, spektakulären Dribbling-Fähigkeiten und einem genialen Auge. Chelsea wollte ihn unbedingt holen.
Der Verein ging bis zum Äußersten, der Fall landete sogar vor dem Sportgericht. Der Vorwurf von Ex-Klub RC Lens: Vertragsbruch. In erster Instanz wurde Kakuta zu einer sechsstelligen Geldstrafe verurteilt, die FIFA drückte Chelsea eine Transfersperre auf. Erst der internationale Sportgerichtshof brachte im Jahr 2010 den zweifelhaften Freispruch.
Kakuta als Symbol für "Verschwendung"
Da war Kakutas Karriere bereits ein wenig ins Stocken geraten. Der einstige "Academy Player of the Year" erhielt kaum Einsatzminuten. Kakuta drohte auf der Bank zu versauern. Also griff Chelsea zu einem klassischen Stilmittel: Ausleihe.
Fünf Jahre später ist Kakuta, mittlerweile 23 Jahre alt, noch immer Leihspieler. Der FC Fulham war seine erste Station, Rayo Vallecano markiert die derzeit sechste. Das Trikot des FC Chelsea trug er das letzte Mal vor über drei Jahren, als er zwischen den Stationen Dijon und Arnheim eine kurze Zeit für seinen eigentlichen Klub auflief.
Bei Rayo gehört Kakuta zum Stammpersonal, spielt eine ordentliche Saison. Doch gemessen an seinem einstigen Potenzial ist seine Entwicklung beinahe tragisch. Guy Hillion, der ihn einst als Erster für Chelsea gescoutet hat, ist heute untröstlich: "Es ist solch eine Verschwendung. Er war der begabteste Spieler seiner Generation. Er hätte ein Ausnahmespieler werden können."
Stattdessen muss Kakuta heute oft als Symbol herhalten. Als Symbol für die Risiken hoch gepriesener Talente, die bei Chelsea unterschreiben, aber letztlich bei Leihvereinen verkümmern und den Absprung nicht schaffen.
Chelseas wahnwitzige Talent-Akquise
Derzeit hat Chelsea 23 Spieler bei anderen Klubs geparkt, zwischenzeitlich waren es sogar 30. Bei keinem anderen Top-Klub hat das Leihsystem ein derartiges Ausmaß angenommen wie bei den Blues.
Dabei ist die Methode des Ausleihens nur eine zwangsläufige Konsequenz aus dem ausgiebigen Scouting und der wahnwitzigen Talent-Akquise des Vereins. Chelsea verfügt über eines der größten Scouting-Netzwerke, das überall in der Welt die vereinsinterne Datenbank mit Informationen, Statistiken und Eindrücken füttert.
Auf das Ergebnis haben letztlich nur wenige Menschen Zugriff, unter anderem Vereinsboss Roman Abramowitsch mit einer eigens dafür entwickelten App.
Perfektioniert wurde das System im Juni 2011, als der neue technische Direktor Michael Emenalo und Scott McLachlan, seines Zeichens internationaler Scoutingchef bei Chelsea, sich der Sache annahmen.
Im Zuge dessen erhielt das Stilmittel Ausleihe eine neue Dimension. Seit Antritt des Duos verpflichtete Chelsea 31 Spieler, 20 von ihnen waren 21 Jahre oder jünger. 14 von ihnen sind bis heute verliehen. Talente wurden seitdem noch früher an den Verein gebunden, jedoch oft sofort wieder verliehen.
Aus der Not eine Tugend
Emenalo und McLachlan wollen damit die Anzahl an Fällen wie Kakuta, der bei Chelsea einst wertvolle Zeit verlor, so klein wie möglich halten. Kakutas Entwicklung war auch aufgrund mangelnder Spielpraxis ins Stocken geraten. Erst nach drei Jahren, in denen er nie über den Status "Supertalent ohne Einsatzzeit" hinauskam, wurde er ausgeliehen.
"Uns ist klar geworden, dass es für junge Spieler von 18 bis 21 die schwerste Zeit ist. Sie grübeln, ob sie gut genug für die Profis sind und was als nächstes kommt", beschreibt Emenalo die Problematik. "In dem Alter ist es besser für sie, ausgeliehen zu werden, wo sie wahrgenommen werden und Wettbewerbsfähigkeit gewinnen. Sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht ist es das Beste."
Über die Jahre hat Chelsea aus der Not eine Tugend gemacht. Das Abschieben von Talenten, denen es an Spielpraxis fehlte, wurde systematisiert. Wirkte es in den ersten Jahren unter Abramowitsch noch wie ein willkürliches "Trial and Error", hat Chelsea sein Leihsystem mittlerweile vorausschauend und sogar profitabel ausgerichtet.
De Bruyne, Lukaku, Hazard: Die Kasse klingelt
Im November letzten Jahres verkündete der Verein, dass in der zurückliegenden Saisonperiode 26 Millionen Euro Gewinn gemacht worden ist. Es war erst das zweite Mal in der Ära Abramowitsch, dass Chelsea im positiven Bereich landete. Ein wesentlicher Grund dafür war der Verkauf zweier Leihspieler: Romelu Lukaku und Kevin de Bruyne.
Die beiden Talente brachten den Blues - je nach Leseart - um die 60 Millionen Euro Ablöse ein. Beide wurden einst in jungen Jahren verpflichtet und waren die meiste Zeit ausgeliehen. Für Chelsea fielen währenddessen kaum Kosten an, weil der ausleihende Verein das Gehalt übernahm und sogar in beiden Fällen noch Leihgebühren hinzukamen. 2014 wurden de Bruyne und Lukaku mit je rund 14 Millionen Gewinn weiterverkauft.
Auch für den nächsten Bilanzierungstermin hat Chelseas Fundus an Leihspielern schon einen ordentlichen Beitrag geliefert. Erst vor kurzem wurden Ryan Bertrand (Southampton) und Thorgan Hazard (Mönchengladbach) von ihren Leihvereinen fest verpflichtet. Macht in der Summe knapp 22 Millionen Euro Ablöse für zwei Spieler, die man für sechsstellige Beträge verpflichtet hatte.
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Dem wirtschaftlichen Aspekt des Leihmodells kommt damit eine wesentliche Bedeutung zu. Aufgrund des Financial Fairplay ist Chelsea auf Einnahmen angewiesen. Doch im Vergleich zu anderen Top-Klubs haben die Blues in puncto Auslandsvermarktung noch Rückstand.
"Die Realität sieht so aus, dass die Vereine, die seit Jahren schon an mit einer größeren Fanbasis an der Spitze und mehr Einnahmen generieren, die großen Geldausgeber bleiben. Real, Barca, Bayern und Manchester United, all diese großen Teams haben da einen Vorteil", glaubt Jose Mourinho.
Will Chelsea aber in Zeiten des FFP auf dem Transfermarkt die offensive Strategie der letzten Jahre beibehalten, ist der Verein auch auf hohe Ablösen für seine Talente angewiesen. Mittlerweile leisten diese einen erheblichen Beitrag dazu. Der sportliche Verlust hielt sich dabei in Grenzen: Bei Chelsea hatte keiner der vier genannten eine wirklich vielversprechende Perspektive.
Courtois als Beispiel für den Best Case
Allerdings soll der finanzielle Aspekt - geht es nach den Chelsea-Verantwortlichen - nicht die primäre Rolle spielen. "Wir schicken unsere Spieler nicht weg, um die Kohle wieder einzutreiben. Wir schicken sie weg, weil wir sie spielen und sich weiterentwickeln sehen wollen", so Emenalo.
Mittlerweile beginnt sich Chelseas Leihmodell tatsächlich auch in sportlicher Hinsicht auszuzahlen. Thibaut Courtois wurde einst als 19-Jähriger für rund neun Millionen Euro geholt und direkt an Atletico weitergegeben - Leihgebühr und Gehalt inklusive. Drei Jahre später kehrte er im Sommer 2014 als einer der besten Torhüter Europas zurück und hat Petr Cech längst verdrängt.
Auch Nemanja Matic ist unter Mourinho unverzichtbar geworden, wenngleich er nicht den klassischen Leihspieler-Weg eingeschlagen hat. Nachdem er 2011 als Teil des David-Luiz-Deals an Benfica verkauft wurde, holten ihn die Blues vergangene Sommerpause zurück. Seitdem erhielten nur drei Spieler mehr Einsatzminuten als er.
Darüber hinaus zeigt ein Blick auf die Liste von Chelseas aktuell verliehenen Spielern: Es gibt noch einige Kandidaten, die eines Tages dem Verein entweder finanziell oder sportlich einen enormen Dienst erweisen könnten. Seien es Englands Top-Talente Lewis Baker und John Swift, die bereits bekannten Mohamed Salah und Marco van Ginkel oder sogar einer der Bundesliga-Legionäre (Romeu, Piazon).
Supertalente springen über die Klinge
Doch die Liste offenbart auch eine von diversen Schattenseiten des Geschäftsmodells. Denn Kakuta ist nicht der Einzige, dem einst eine große Karriere prophezeit wurde und der noch immer als Chelsea-Leihgabe auf der Suche nach dem Durchbruch durch Europa wandelt.
Josh McEachran, einst Englands große Nationalmannschaftshoffnung, kommt auf lediglich elf Einsätze für die Blues, deren Trikot er schon als Achtjähriger trug. Vitesse Arnheim ist mittlerweile seine fünfte Station als Leihspieler. Oder Ulises Davila, der vor vier Jahren für zwei Millionen aus Guadalajara geholt wurde und mittlerweile beim portugiesischen Abstiegskandidaten Setubal Spielpraxis sammelt.
Karriereverläufe wie der von Kakuta und Co. sind jedoch nur eine logische Konsequenz. Eine Zwangsläufigkeit der flächendeckenden Talent-Akquise. Jedes derart auf Masse ausgelegte Projekt produziert Ausschuss. Chelseas Methode ist es geworden, schlicht derart viele Supertalente zu verpflichten, dass es schon ein paar schaffen werden. Der Rest wird über das Ausleihmodell entweder sportlich oder finanziell wertvoller - oder springt über die Klinge des Fußballgeschäfts.
Moralisch und rechtlich bedenklich
Das System wirkt angesichts des Alters der Spieler und der Verführung, so früh schon bei einem Verein wie Chelsea zu unterschreiben (und entsprechendes Geld zu verdienen), bisweilen rücksichtslos. Der moralische Vorwurf falscher Versprechungen ist nur schwer von der Hand zu weisen. Auch das, was Christoph Kramer einst als Menschenhandel bezeichnet hatte, erhält bei Chelsea eine besondere Dimension. Wenngleich der Verein damit keineswegs alleine dasteht.
Gleichzeitig nimmt das System jedoch auch mit Blick auf die Regularien bedenkliche Züge an. Vitesse Arnheim gilt seit Jahren als Farmteam, zwischenzeitlich hatte Chelsea dort sechs Leihspieler geparkt. Die Verbindungen von Vereinsverantwortlichen sind augenscheinlich. Der Vorwurf wurde laut, Chelsea wolle eine Qualifikation Arnheims für die Champions League verhindern. Sogar der niederländische Verband nahm Ermittlungen auf.
Auch in England gibt es Kritik. Der "Guardian" bezeichnete Chelseas Methode unlängst als "Wild West of Football". Doch die Premier League will von Beschränkungen bei der Ausleihe von Spielern nichts wissen. "Es gibt derzeit keinen Grund zur Veränderung" der entsprechenden Regularien, verkündete ein Sprecher und verwies in Sachen internationale Leihgeschäfte auf die FIFA.
Und deren letzter Versuch, Chelsea in die Schranken zu weisen, endete bekanntermaßen mit einem Freispruch.
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