Weniger Busquets, weniger Kollektiv

Ben Barthmann
06. Mai 201512:13
Luis Enrique hat seine Mannschaft um Lionel Messi herum gebautgetty
Werbung
Werbung

Beim FC Barcelona hat sich unter Luis Enrique viel verändert. SPOX wirft vor dem Duell mit dem FC Bayern München im Halbfinale der Champions League (Mi., 20.45 Uhr im LIVE-TICKER) einen Blick auf die Taktik der Katalanen.

Der Spielaufbau

Unter Luis Enrique hat der FC Barcelona nicht alle alten Abläufe einfach über Bord geworfen. Der Spielaufbau wird noch immer mit den beiden Innenverteidigern kurz eingeleitet, lange Bälle bleiben die Ausnahme. Viele Verlagerungen von rechts nach links und zurück mit geduldigem Passspiel sahen die Fans auch unter Pep Guardiola.

Dann enden die Zusammenhänge jedoch schnell. Mit Gerard Pique und Javier Mascherano stehen normalerweise zwei sehr routinierte, passsichere Innenverteidiger zur Verfügung, weshalb Enrique darauf verzichtet, Sergio Busquets zwischen das Duo abkippen zu lassen. Selbst gegen Mannschaften mit zwei Stürmern sieht man dies nur noch selten.

Viel mehr konzentriert sich der Aufbau auf die Außen. Das mag einerseits daran liegen, dass viele Gegner das Zentrum gegen Barcelona schließen, um dann die Flügel zu isolieren, andererseits aber auch daran, dass die Katalanen in ihrer 4-3-3-Grundordnung sehr positionsgetreu und weniger fluide agieren als noch in den Jahren zuvor.

Somit wagen beide Innenverteidiger weniger Vorstöße mit Ball am Fuß, sondern zirkulieren so lange, bis sich nach wenigen Schritten über die Mittellinie ein Pass auf die Außenverteidiger anbringen lässt. Diese gehen zusammen mit den breit spielenden Achtern und den oft an der Auslinie klebenden Flügelstürmern sehr schnell in das letzte Drittel und damit in die Chancenerarbeitung über.

FC Bayern - Barca: 2 CL-Tickets gewinnen und HTC Fan Fotograf werden

Besonderheiten hat der simple Aufbau dennoch. Lionel Messi ist, wie so oft, ein wichtiger Faktor. Der Argentinier orientiert sich teilweise sehr weit nach hinten in den rechten Halbraum und unterstützt dort Ivan Rakitic und Dani Alves, bzw. arbeiten diese ihrem Mitspieler zu, um Messi Raum zu schaffen, ihn aufdrehen zu lassen und von dort Tempo aufzunehmen.

Alves' Rolle ist dabei entscheidend. Die Absprache zwischen beiden ist nahezu perfekt, sie wechseln sich stetig ab und besetzen nie die gleichen Räume. Somit verhindert der Brasilianer eine Isolierung von Messi, indem er als ständige Anspielstation in einer anderen vertikalen und horizontalen Linie bereitsteht.

Die Champions League geht in die heiße Phase - Jetzt bei Tipico wetten!

Enrique scheut sich jedoch auch nicht davor, seine Idee vom ersten Spielvortrag zu variieren. Je nachdem, wie hoch der Gegner verteidigt und presst, verändert sich das Spiel. Eine Torwartkette mit Marc-Andre ter Stegen ist möglich bei aggressiven Rivalen, dann baut Barcelona merklich tiefer auf und streut einige lange Bälle ein. Ebenso möglich ist ein weit höherer Spielaufbau gegen sehr defensive Gegner, dann wagen die Innenverteidiger viele Vorstöße und Busquets scheut sich nicht davor, abzukippen.

Das Prinzip bleibt dennoch immer das gleiche: Kurze Pässe, im Schnitt etwa 16 Meter lang, geduldige Verlagerung, bis sich über die Seiten ein Freiraum ergibt. Busquets' Rolle hat etwas an Bedeutung verloren, das Zusammenspiel zwischen Außenverteidigern und Achtern dagegen zugenommen.

Seite 1: Auf dem Weg in die gegnerische Hälfte

Seite 2: Die drei Offensivvarianten bis zum Tor

Seite 3: Ballverlust - und jetzt?

Seite 4: Immer noch die größte Schwäche?

Seite 5: Die neu entdeckte große Stärke

Seite 6: Und gegen die Bayern?

Die Chancenerarbeitung

Wer das Barcelona von Guardiola mit dem von Enrique vergleicht, findet im letzten Drittel kaum noch Gemeinsamkeiten. In dieser Saison hat sich das Spiel in der Offensive merklich verändert, der Fokus ist ein anderer. Überspitzt gesagt, wurde das Kollektiv durch Individualität ersetzt.

Bisher hatte sich Barcelona über die große Beweglichkeit und das ständige Herstellen von Überzahlsituationen in Ballnähe definiert. Pässe auf engem Raum, teilweise fünf, sechs Zuspiele innerhalb von wenigen Sekunden, bis sich ein Spieler befreien konnte und den entstandenen Platz nutzte, um einen Pass in die Lücke zu spielen.

Das ist nicht gänzlich verloren gegangen. Doch Enrique vertraut mehr auf sein Sturmtrio, auf deren Fähigkeiten im Eins gegen Eins und der Unterstützung aus dem Mittelfeld.

Alles ist auf schnelle Durchbrüche ausgerichtet, der handballartige Ballbesitz vor dem gegnerischen Strafraum existiert praktisch nicht mehr. Über die Saison kristallisierten sich drei immer wieder auftretende Varianten heraus.

Variante 1: Die Flanke von rechts. Lange waren die Flanken von Dani Alves regelrecht Kult in Barcelona, der Brasilianer flankte ohne Abnehmer und ohne große Genauigkeit in die Mitte, Barcelona spekulierte auf zweite Bälle. Mit Luis Suarez ist nicht nur ein Abnehmer gefunden, auch die restliche Mannschaft hilft mit.

Mit dem oft in den Strafraum stoßenden Rakitic und mindestens zwei weiteren Spielern wird die Mitte mehrfach besetzt. Knapp jede dritte Flanke von Alves findet ihr Ziel, fast zehn Prozent mehr als noch in der letzten Saison.

Variante 2: Tempo über El Tridente. Barcelona bestraft Lücken zwischen Abwehr und Mittelfeld gnadenlos. Speziell wenn Messi es schafft, sich im Sechserraum von seinem Gegenspieler zu lösen und Tempo aufzunehmen, wird es nahezu immer gefährlich. Die Spieler kreuzen intelligent, es wird versucht, immer in einer Viererreihe die gegnerische Abwehr auseinanderzuziehen.

Suarez ist hier oft der Schlüssel zum Erfolg. Der Neuzugang löst sich individualtaktisch perfekt, setzt Körper wie Arme geschickt ein und ist ein steter Unruheherd mittig zwischen zwei Verteidigern, um die Zuordnung zu erschweren. Er weiß exakt, wann er starten muss und wann eine diagonale Bewegung Lücken schafft.

Die Offensive spielt in diesen Momenten ihre hohe Qualität aus. Egal ob Neymar, Messi oder Suarez - jeder Spieler kann eine Abwehr entblößen. Können sie Tempo aufnehmen und vom Flügel nach innen, bzw. sogar aus der Mitte heraus einen Gegenspieler aussuchen und andribbeln, sind sie kaum zu verteidigen.

Variante 3: Der simple Doppelpass. Durch die starre Formation in der Offensive hat Barcelona im Angriff stets eine Menge Anspielstationen und eine sehr gute Raumaufteilung. Dies entfaltet seine Wirkung besonders oft über links. Neymar soll das Dribbling suchen, Linksverteidiger Alba mit unterstützenden Läufen die Räume öffnen.

Der ballnahe Achter bietet sich für einen Doppelpass an, den Neymar spielt, nachdem er einen oder zwei Gegenspieler mit kurzem Ballhalten gebunden hat. Der ballferne Achter stößt in den Strafraum hinein, ebenso wie die beiden anderen Stürmer.

Seite 1: Auf dem Weg in die gegnerische Hälfte

Seite 2: Die drei Offensivvarianten bis zum Tor

Seite 3: Ballverlust - und jetzt?

Seite 4: Immer noch die größte Schwäche?

Seite 5: Die neu entdeckte große Stärke

Seite 6: Und gegen die Bayern?

Das Umschalten nach Ballverlust

Neben dem eigenen Ballbesitz war eine der großen Stärken Barcelonas auch immer die herausragende Bewegung nach Ballverlust. Diese hat sich unter Tito Vilanova und Gerardo Martino ein wenig verändert und hinterließ ihre Lücken, die bei fehlender Intensität oft nicht geschlossen wurden.

Probleme im Umschalten ließen sich oft über zu große Abstände im Mannschaftverbund erklären, die in der Mitte dieser Saison aufgedeckt werden konnten. Die Liga brauchte ihre Zeit, stellte sich aber darauf ein, dass nicht mehr die Räume hinter den Außenverteidigern, sondern die Räume rund um Sergio Busquets besonders angreifbar waren, was dem mehrmals allein auf weiter Flur agierenden Spanier viel Kritik einbrachte.

Die Champions League geht in die heiße Phase - Jetzt bei Tipico wetten!

Barcelona verteidigt in der jetzigen Phase der Saison sehr hoch, das Umschalten nach Ballverlust funktioniert blendend. Verliert einer der Offensivspieler den Ball, wird je nach Situation entweder direkt nachgesetzt oder sich geordnet zurückgezogen. Ersteres passiert, wenn der Ballbesitz des Gegners unsicher ist und noch kein sichernder Pass gespielt wurde, Zweiteres sobald sich der Gegner befreien konnte.

Das Prinzip klingt einfacher, als es ist. Die nächsten Spieler am Ball, mindestens zwei, oft drei, setzen direkt nach und versuchen um jeden Preis das Öffnen des Spielfeldes zu verhindern. Die anderen Spieler orientieren sich sehr mannorientiert an den nächsten Anspielstationen.

Interessant ist dabei, dass der Sechser seine Position enorm aggressiv verlässt und attackiert. War dieser unter Guardiola noch der "Abfänger" für ein mögliches überspielen des Gegenpressings gewesen, rückt er jetzt weit heraus. Die absichernde Rolle übernehmen die weit eingerückten Außenverteidiger.

Seite 1: Auf dem Weg in die gegnerische Hälfte

Seite 2: Die drei Offensivvarianten bis zum Tor

Seite 3: Ballverlust - und jetzt?

Seite 4: Immer noch die größte Schwäche?

Seite 5: Die neu entdeckte große Stärke

Seite 6: Und gegen die Bayern?

Das Defensivverhalten

Der FC Barcelona ist eine Mannschaft, die selten in das richtige Verteidigen kommt. Wer Spiele mit teilweise bis zu 80 Prozent Ballbesitz dominiert, hält den Ball in der gegnerischen Hälfte und kann sich so besonders auf die Stärken seiner Verteidiger im Abfangen von gegnerischen Angriffen verlassen.

Dennoch hat es Enrique auch in diesem Bereich zu Veränderungen gebracht. Früh in der Saison war die Aufregung groß, als er gegen den FC Elche (3:0) zur Halbzeit auf ein 4-4-1 mit tiefem Mittelfeldpressing umstellte, nachdem Mascherano die Rote Karte gesehen hatte. Barcelona stellte um, attackierte an der Mittellinie und gab dafür sogar große Anteile des eigenen Ballbesitzes auf.

Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass die Fans diese Variante sehen. Nach Führung zieht sich der FCB in diesem Jahr gerne etwas weiter zurück und musste so zwangsläufig auch das tatsächliche Verteidigen und Verschieben im Bund erlernen. Hierbei gibt es die offensichtlichsten Schwächen, wenn diese auch geringer ausfallen als noch unter den letzten Trainern.

Die klare 4-3-3-Grundordnung ändert sich auch im Rückwärtsgang nicht. Bis zur Mittellinie geht es zurück, dabei lösen einzelne Spieler aber gelegentlich eine hohe Pressingwelle aus, sobald eine Balleroberung wahrscheinlich wirkt. Der Rest der Mannschaft zieht mit, die Ordnung geht dabei kurz verloren.

Können die Gegner dies auch überwinden, scheut sich Barca nicht, bis in den eigenen Strafraum zurückzuweichen. Ist der Ball zentral vor dem Strafraum, wird mit zwei engen Viererketten und herausrückenden Spielern verteidigt, um für Tiefe zu sorgen. Sobald der Ball auf dem Flügel ist, entsteht ein 5-3 am Sechzehner, um für hohe Bälle gewappnet zu sein.

Die beiden ballfernen Stürmer rücken dagegen nicht nach, ihre Aufgabe ist es, ein weites Aufrücken der gegnerischen Verteidiger zu verhindern, indem sie sich im Halbraum orientieren und möglichst viele Gegner binden. Niemand verteidigt Messi oder Suarez gerne in Gleichzahl.

Seite 1: Auf dem Weg in die gegnerische Hälfte

Seite 2: Die drei Offensivvarianten bis zum Tor

Seite 3: Ballverlust - und jetzt?

Seite 4: Immer noch die größte Schwäche?

Seite 5: Die neu entdeckte große Stärke

Seite 6: Und gegen die Bayern?

Das Umschalten nach Ballgewinn

Dies ist erforderlich für den FC Barcelona, um die Konter geschickt auszuspielen. Enriques Standard-Matchplan sieht vor, sich nach seiner Führung etwas zurückzuziehen und den psychologisch wichtigen Moment abzuwarten, der direkt auf die Führung der Katalanen folgt.

Viele Mannschaften in der Primera Division halten lange das 0:0, wie zuletzt Cordoba (8:0), um dann nach 44 Minuten den Rückstand hinnehmen zu müssen und direkt im Anschluss das zweite Gegentor zu bekommen. Barcelona wartet einen Knackpunkt im Spiel ab, um dann direkt nachzulegen und die letzte Gegenwehr zu zerstören.

Die Gegner werden nach dem Rückstand unsicher und wollen kurz um jeden Preis den Ausgleich. Dies bringt für eine kurze Zeitspanne Fehler mit sich, die der Trainer von außen nicht beeinflussen kann, weil er seine Spieler nicht erreicht, die noch gedanklich auf Fehlersuche sind.

Dann zieht sich Barcelona etwas zurück und wartet mit drei Mann auf den entscheidenden Konter. Dabei ist jedoch nicht, wie bei vielen anderen Mannschaften, ein erster Querpass nach Balleroberung das Ziel, sondern Enrique vertraut auf die technischen Fähigkeiten seiner Spieler, den Ball auf einer Seite nach vorne spielen zu können.

Wird der Ball also rechts gewonnen, wird der Konter auch über rechts gespielt. Dort stellt Barcelona Überzahl her, um dann mit einem kurzen Richtungswechsel aus vollem Lauf die Gegenspieler ins Leere laufen zu lassen und anschließend die Seite zu verlagern, um von dort zum Abschluss zu kommen.

Hier kommt erneut zum Tragen, dass die Flügelspieler sich sehr positionsgetreu verhalten. Mit dem starken Fuß innen, reicht ihnen ein einfacher Cut, um den Gegenspieler vorbeirutschen zu lassen, sich zum Spielfeld zu öffnen und die Seitenverlagerung zu spielen.

Seite 1: Auf dem Weg in die gegnerische Hälfte

Seite 2: Die drei Offensivvarianten bis zum Tor

Seite 3: Ballverlust - und jetzt?

Seite 4: Immer noch die größte Schwäche?

Seite 5: Die neu entdeckte große Stärke

Seite 6: Und gegen die Bayern?

Und gegen die Bayern?

Bei allen Änderungen, die Enrique am Team vollzogen hat, bleibt doch die Frage, wie viel davon gegen den FC Bayern München zum Tragen kommen wird. In den großen Spielen hat der Asturier bisher mehrmals neue, unerwartete Dinge ausprobiert, die nicht immer erfolgreich waren.

Gegen Real Madrid im ersten Clasico der Saison verzockte er sich mit Jeremy Mathieu als Linksverteidiger, erst kürzlich gegen den FC Valencia mit einer Doppelsechs aus Mascherano und Busquets. Positiv verlief jedoch das Experiment Dreierkette im Rückspiel der CL-Gruppenphase gegen PSG.

Die Grundidee blieb logischerweise in allen Partien dieselbe, diesmal trifft der FC Barcelona jedoch erstmals auf eine Mannschaft, die von Anfang an die Initiative übernehmen könnte. Könnte... Denn auch die Bayern bewiesen zuletzt, dass sie auch defensiv denken können.

FC Bayern - Barca: 2 CL-Tickets gewinnen und HTC Fan Fotograf werden

Somit bleibt ein Spiel mit wechselnden Phasen zu erwarten, das extrem vom Ergebnis auf der Anzeigetafel abhängen könnte. Gut möglich, dass Barcelona im heimischen Stadion sein Spiel aufzieht, um nach einer Führung etwas zurückzuweichen.

Nicht zu vergessen bleibt bei aller Taktik der Faktor Standards. In diesem Bereich haben sich die Katalanen offensiv wie defensiv enorm weiterentwickelt. Nutzte das Team von Jupp Heynckes beim letzten Aufeinandertreffen (0:4, 0:3) diese Schwäche noch eiskalt aus, scheint dies nun keine Option mehr zu sein.

Das macht die große Faszination an dieser Partie aus: Sowohl Barcelona als auch die Bayern sind sehr variabel. Sie können dominant auftreten, sie können kontern und sie können den Gegner jederzeit überraschen. Die Wahrscheinlichkeit scheint gering, dass eine Mannschaft komplett dominieren wird, während die andere nur reagiert.

Seite 1: Auf dem Weg in die gegnerische Hälfte

Seite 2: Die drei Offensivvarianten bis zum Tor

Seite 3: Ballverlust - und jetzt?

Seite 4: Immer noch die größte Schwäche?

Seite 5: Die neu entdeckte große Stärke

Seite 6: Und gegen die Bayern?

Barcelona - Bayern: Daten und Fakten zum Spiel