"Warum soll Erfolgsrezept falsch sein?"

Andreas Lehner
11. Mai 201511:43
Der FC Bayern verlor das Hinspiel des CL-Halbfinals in Barcelona mit 0:3getty
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Der FC Bayern und Pep Guardiola mussten sich in den letzten Wochen jede Menge Kritik gefallen lassen. Vor allem der Trainer wurde für seine Taktik an den Pranger gestellt. Im Interview nimmt Experte Frank Wormuth Stellung zu den Thesen der Kritiker und relativiert dabei den Einfluss der Taktik auf das Ergebnis. Außerdem spricht er über Leverkusens extremen Ansatz, Jürgen Klopps Probleme und die Aufgabe von Thomas Tuchel bei Borussia Dortmund.

SPOX: Herr Wormuth, in einem unserer letzten Gespräche ging es auch um Flexibilität der Systeme. Sie meinten, man müsse auch mal aus dem Kreis der Normalität heraus. Pep Guardiola hat in dieser Saison beim FC Bayern eine Vielzahl an unterschiedlichen Ausrichtungen probiert und gewann damit die Meisterschaft. Nach dem Aus gegen Dortmund im DFB-Pokal wurde er dafür aber umgehend von einigen Experten kritisiert. Wie stehen Sie dazu?

Frank Wormuth: Zunächst denke ich, dass die Bayern nicht aufgrund von Systemänderungen die Meisterschaft gewonnen haben, sondern hauptsächlich aufgrund der Qualität der einzelnen Spieler und deren abgestimmter Zusammenarbeit, wofür wiederum der Trainer bzw. das Trainerteam verantwortlich sind. Und weiter wissen Sie sicherlich noch, dass ich der Meinung bin, dass die Systemdiskussionen überbewertet werden. Aber sie machen anscheinend Spaß, vor allem wenn man sie als Kritikpunkt für Niederlagen benutzt. Ich bin kein Freund von Schwarz-Weiß-Denken.

SPOX: Wird bei der Bewertung und der Analyse von Spielen durch Experten und Medien zu viel vom Ergebnis abhängig gemacht?

Wormuth: Ja, endlich mal einer von den Medien, der es ausspricht (lacht). Es ist mittlerweile normal, dass bei einer Niederlage nur die Fehler gesucht und als Begründung verwendet werden. Man darf aber auch nicht die guten Dinge vergessen. Fußball ist ein Fehlerspiel - sagt zumindest der Volksmund, aber ist ein Fehler tatsächlich ein Fehler oder nicht eine provozierte Situation des Gegenübers, also die Qualität des Erfolgreichen?

SPOX: Sie meinen also, dass das Spiel wieder mehr von der positiven Seite betrachtet werden sollte, anstatt sich ständig auf Fehlersuche und Fehleranalyse zu begeben?

Wormuth: Ich meine, dass durch die Qualität der ballführenden Mannschaft es zu Situationen kommen kann, die automatisch zu 'Fehlern' führen. Fehler, für die die abwehrende Mannschaft gar nichts kann. Sie werden einfach durch gutes Angriffsspiel provoziert.

SPOX: Konkret auf eine Situation vom Mittwoch gefragt: Bernats Ballverlust vom Dienstag vor dem 0:1 war also nicht einem Fehlverhalten geschuldet, sondern vor allem der guten Antizipation, Zweikampfführung und Weiterverarbeitung des Balles von Dani Alves?

Wormuth: Isoliert betrachtet legte sich Bernat im Tempodribbling den Ball zu weit vor. Taktisch betrachtet erkannte Dani Alves die Chance, Bernat unter Druck zu setzen. Diese Attacke hätte auch für Alves schief gehen können, denn neben ihm stand noch ein Spieler von Bayern an der Linie. Aber so war es taktisch klasse, auch wenn Bernat seinen Teil dazu beigetragen hat. Sie merken: Man kann das Glas auch halb voll sehen (lacht).

SPOX: Die Bayern wollten nach dem Triple mit Jupp Heynckes unter Guardiola den nächsten Schritt machen und eine Ära prägen. In der Champions League droht wie schon in der Vorsaison das Aus im Halbfinale gegen ein spanisches Spitzenteam. Warum sind die Spanier international offenbar gerade wieder besser?

Wormuth: Warten wir erst einmal das Rückspiel ab. Die spanischen Spitzenteams sind immer noch eine Klasse für sich, aber unsere besten Bundesligateams haben mächtig aufgeholt. Die Bayern agierten in Barcelona unabhängig des Ergebnisses meist auf Augenhöhe gegen eine Heimmannschaft vom Feinsten. Das war vor ein paar Jahren noch ganz anders.

SPOX: Hatte die Niederlage in Barcelona auch offensichtliche taktische Gründe?

Wormuth: Taktik alleine ist meist nicht der Grund eines Sieges oder einer Niederlage. Es sind immer die Protagonisten auf dem Feld, die Pläne umsetzen und mit ihrer ureigenen Qualität garnieren. Der Unterschied in diesem Spiel hieß Messi. Mit Robben und Ribery wäre das Spiel ganz bestimmt anders gelaufen. Aber es stimmt, im Spitzenfußball entscheiden meist die Kleinigkeiten - Messi und Neymar sind diese 'Kleinigkeiten'.

SPOX: Kritiker sagen: Bayern stellt sich zu sehr auf die Gegner ein, hat Angst vor dessen Stärken und vergisst dabei sein Mia san Mia. Was sagt der Fußballlehrer?

Wormuth: Keine Ahnung, wer so etwas sagt, aber das Wort 'Angst' kennen die Bayern nicht. Bayern München ist bisher Deutschlands beste Exportware im Fußball, ohne die Zweit- und Drittbesten zu vergessen. Sie spielen mit den besten Fußball in Deutschland und stellen den Kern der A-Nationalmannschaft. Von daher verstehe ich diese Aussagen nicht.

SPOX: Gehen wir die Sache wie von Ihnen vorher angesprochen positiv an: In welchen Bereichen haben die Münchner aus taktischer Sicht die größten Fortschritte gemacht?

Wormuth: Wir haben die Aspekte beide schon angesprochen: hohe Positionsvariation im vorderen Bereich und permanente Veränderung von Grundordnungen im Spiel, insbesondere der Wechsel zwischen Dreier- und Viererkette. Außerdem wurde die Ballzirkulation perfektioniert. Das System Pep Guardiola eben...

SPOX: Ein weiterer Vorwurf der Kritiker lautet: Guardiola würde seine Spieler mit eben dieser Flexibilität, den ständigen System- und Positionswechseln verwirren. Außerdem würden die Spieler nicht auf Ihren besten Positionen spielen. Sind auch diese Aussagen haltlos?

Wormuth: Das Leben ist dual, eine Medaille hat immer zwei Seiten. Wer verliert, muss sich Kritik gefallen lassen. Sorry, mir fällt zu diesem Thema nicht viel ein, weil die Bayern schon so viele Spiele auf diese Art gewonnen haben. Also warum soll bei einer Niederlage dieses Erfolgsrezept nun plötzlich falsch sein? Ich glaube bereits erwähnt zu haben, dass ich dieses Schwarz-Weiß-Denken nicht besonders mag.

SPOX: Ist bei der Entwicklung der Bayern im System Guardiola irgendetwas Entscheidendes auf der Strecke geblieben, was vielleicht in der Öffentlichkeit noch nicht thematisiert wurde?

Wormuth: Ich habe der Öffentlichkeit nicht immer zugehört, aber das Umschaltspiel, sowohl in die Offensive als auch in die Defensive, könnte man sicherlich noch optimieren. Aber das ist ein Thema vieler Spitzenmannschaften, die der Ballzirkulation permanent huldigen.

SPOX: Standards sind beim FC Bayern kaum noch ein Faktor. Dabei hat doch zuletzt erst wieder die WM gelehrt, dass damit sogar der Titel gewonnen werden kann. Bleibt hier Potenzial ungenutzt?

Wormuth: Bei Jogi Löw war es bis zur EM in Polen und der Ukraine so: Aufwand und Ertrag wurden verglichen und am Ende hat man sich eben für das Training des bewegten Balles entschieden. Ich kenne die Trainingsinhalte der Bayern nicht, um hier eine abschließende Bewertung abgeben zu können.

SPOX: Mal provokant gefragt: Sind die Bayern vielleicht gar nicht so gut wie sie gemacht werden? Neben dem drohenden Aus in der Champions League stehen auch vier Niederlagen in der Liga zu Buche - gegen die Spitzenteams Wolfsburg, Gladbach und Leverkusen. Gegen Schalke gab es zwei Unentschieden.

Wormuth: Doch, die Bayern sind ein klasse Team, auch wenn sie nicht immer die Ergebnisse bringen, wie Sie an Ihrer Aufzählung erkennen. Ich sehe hier zwei Dinge: Erstens hat dieses Ballbesitzspiel der Bayern - also Überzahl in Ballnähe - immer auch die Gefahr, dass man ausgekontert wird, vor allem wenn das Gegenpressing nicht optimal funktioniert. Und zweitens haben sich die Gegner taktisch immer gut vorbereitet. Bayerns Kontrahenten müssen das Spiel nicht machen, können also aus der Deckung agieren. Das ist immer ein wenig einfacher, als permanent das Spiel zu bestimmen. Ich finde das deshalb immer unfair, wenn von einem verdienten Sieg der Kontermannschaften gesprochen wird. Was ist daran verdient? Stehen, auf Fehler warten und dann den freien Raum ausnutzen. Die ballbesitzende Mannschaft betreibt eigentlich den größeren Aufwand, für das Spiel insgesamt betrachtet.

Die durchschnittlichen Positionen des FC Barcelona und des FC Bayern im Hinspiel

SPOX: Bleiben wir kurz bei dem Fall, dass das Gegenpressing nicht optimal greift. Ist das Spiel der Bayern zu risikoreich, weil durch die Flexibilität der Positionen im defensiven Umschalten die Absicherung fehlt? Im Vergleich zu den Münchnern spielt Barcelona beispielsweise recht starr in seinem System.

Wormuth: Ich weiß nicht, ob das Spiel der Bayern wirklich als risikoreich bezeichnet werden kann. Ich sehe immer einen Spieler als Absicherung und gleichzeitig als Anspielstation nach hinten, der dann auch eine Spielverlagerung einleiten kann. Man kann aber hinterfragen, warum eine Flexibilität in den Positionen dazu führt, dass ein defensives Umschalten nicht optimal ist. Es ist logisch, dass ein offensiv denkender Spieler, der plötzlich auf einer defensiveren Position steht, nicht so gut umschaltet wie ein Defensivspezialist. Eine Positionsspezifizierung würde hier im defensiven Umschalten einen Vorteil bringen. Aber ein Fußballspiel geht in zwei Richtungen.

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SPOX: Bei aller Kritik haben es die Bayern ins Halbfinale geschafft. Für alle anderen deutschen Teams war in dieser Saison schon im Achtelfinale Schluss. Wo steht der deutsche Vereinsfußball zurzeit im internationalen Vergleich?

Wormuth: Wir hatten das Thema 'Ergebnis schlägt Qualität' schon einmal. Das heißt bezüglich Ihrer Frage, dass wir zwar nicht viele Teams durchgebracht haben, aber das heißt nicht, dass wir weniger gut sind. Wir sind auch Weltmeister geworden, was aber nicht automatisch heißt, dass wir die Besten sind. Mit Blick auf das Ergebnis ja, aber hinsichtlich der Qualität gibt es noch andere Teams, Länder, die sehr gut sind. Ergo: Wir stehen gut da und können uns mit allen messen, auch wenn am Ende andere ganz oben stehen sollten. Das ist das Schöne am Fußball. 'Der Weg ist das Ziel klingt zwar abgedroschen', aber wir können Saison für Saison den Berg besteigen. Malta zum Beispiel nicht.

SPOX: Welche Aspekte gibt es im Ausland, die für Sie in der Analyse des internationalen Fußballs und für Ihre Einflüsse in der Trainerausbildung wichtig sind?

Wormuth: Der internationale Fußball ist nicht so weit auseinander wie manch einer vielleicht denken mag. Seit 2008 bin ich nun bei allen internationalen Events dabei, aber glauben Sie mir: Der Fußball ist nirgends neu erfunden worden. Wir sind mit unserer Ausbildung up-to-date und geben sogar Impulse für viele andere Länder.

SPOX: Können Sie ein Beispiel nennen? SPOX

Wormuth: Seit 2008 besuchen wir mit unseren angehenden Fußball-Lehrern die Jugend-Europameisterschaften zur Analyse. 2008 waren wir die einzigen, 2015 in der Tschechischen Republik haben sich zwölf Länder mit ihrem Pro-Lizenz-Kurs bei der UEFA angemeldet. Wir haben Europa mit dem praxisorientierten Tool der Spielanalyse vor Ort unser erstes Ausbildungstool geschenkt.

SPOX: Einen neuen Einfluss hat der deutsche Fußball auch durch Roger Schmidt bei Bayer Leverkusen erfahren. Das bedingungslose Pressing und extrem risikoreiches Spiel nach vorne. Wie radikal ist Schmidts Ansatz?

Wormuth: Neu war diese Spielidee nicht, aber die permanente Umsetzung. Wobei die Leverkusener in der Rückrunde eine Balance gefunden haben. Die extreme Form des Gegenpressings basiert auf Ballverlusten. Es klingt kurios, aber das Spiel der Leverkusener hat in der Vorrunde erst mit dem Ballverlust begonnen. Also war es kein Risiko den Ball schnell in das letzte Drittel zu bringen, sondern eine Voraussetzung. Gewinnt man den Ball in der gegnerischen Hälfte, ist der Weg zum Tor kurz, der Gegner meist in einer geöffneten Stellung und damit hat man Räume für den Angriff. Auf der anderen Seite kostet diese Spielweise eine Menge Kraft und Bedarf des sogenannten 'Durchdeckens'. Das bedeutet einfach ausgedrückt: Der hintere Mitspieler schiebt nach vorne durch. Das kann man am besten an der Taktiktafel erklären.

SPOX: Leider müssen wir hier ohne auskommen, aber ich glaube, es ist auch so verständlich. Inwieweit ist der Leverkusener Fußball auch mit dem Dortmunder Fußball unter Klopp verwandt?

Wormuth: Verwandt sind die Spielweisen auf jeden Fall, auch wenn beide Teams eine andere Grundordnung gewählt haben. Dortmund im 4-2-3-1 und Leverkusen im 4-2-2-2. Die Räume sind ein wenig anders besetzt, aber hohe Laufbereitschaft muss man in beiden Fällen haben. Die Dortmunder hatten in ihren besten Tagen aber noch die Konteraktion nach Balleroberung perfektioniert. Kloppo nannte es immer 'High Speed Fußball'.

SPOX: Warum funktionierte das Dortmunder Spiel in dieser Saison nur noch in Ausnahmen?

Wormuth: Mit Lewandowski ist dem BVB eine ganz wichtige Stütze weggefallen. Darüber hinaus fehlten weitere Spieler, die genau diese Spielidee verinnerlicht hatten und auch körperlich über 90 Minuten marschieren konnten. Ansonsten gibt es sicherlich vielerlei Gründe, die wir Außenstehende gar nicht alle kennen können. Es gibt systemorientierte Erklärungsansätze, die aber nichts mit dem System auf dem Platz, sondern mit dem System innerhalb der Mannschaft zu tun haben. Dies zu erklären würde aber den Rahmen dieses Interviews sprengen, beweist aber auch nicht diese Systemthese.

Die Opta-Statistiken von Leverkusen und Dortmund in der BL-Saison 2014/15

SPOX: Benötigt das Dortmunder Spiel eine Anpassung - und wenn ja: in welchen Bereichen?

Wormuth: Das ist eine sehr allgemeine Frage und setzt voraus, dass man sich in der Mannschaft bestens auskennt. Von daher kann ich diese Frage nicht beantworten. Und ich habe das Gefühl, dass ich in den letzten Fragen genug philosophiert habe und Diskussionsstoff für Ihre User gebracht habe (lacht).

SPOX: Klopp wurde vorgeworfen, das Dortmunder Spiel nicht mehr weiterentwickeln zu können. Er könne also nicht seinen Power-Umschaltfußball mit Ballbesitz kombinieren. Wie sehen Sie das?

Wormuth: Jürgen Klopp kann alles im Fußball. Das hat er in Mainz und in Dortmund bewiesen. Aber es ist richtig: Er liebt - unschwer auch in seinem emotionalen Verhalten an der Linie zu sehen - Aktion vor Reaktion. Wenn seine Spieler den Ball nicht haben, jagen sie den Ballführenden, um ihn zu Fehlern zu zwingen, um dann ihren offensiven High Speed Fußball spielen zu können. Das heißt aber nicht automatisch, dass er nicht Trainer von Barcelona sein und das Ballbesitzspiel lieben könnte.

SPOX: Welche Veränderungen erwarten den BVB unter Thomas Tuchel, der ja auch als großer Anhänger Guardiolas und flexibler Systeme gilt?

Wormuth: Es ist nicht so einfach, etwas Neues in eine Mannschaft hineinzubringen. Spieler sind keine Maschinen und die Klopp'sche Kaderzusammenstellung war auf eine bestimmte Verhaltensweise fokussiert. Hier bedarf es einer gewissen Feinfühligkeit zwischen bestehenden Verhaltensweisen und eigener Vorstellung.

SPOX: Wie wichtig ist neben der taktischen auch die emotionale Komponente in Dortmund? Wie sollte sich ein Trainer verhalten, wenn er auf eine so große, populäre Persönlichkeit folgt?

Wormuth: Ein Trainer sollte sich so verhalten, wie er tatsächlich ist. Das schöne Wort 'authentisch' ist hier angebracht. Echt sein. Sein Original verkaufen. Die Spieler sind dafür dankbar, weil sie damit immer besser umgehen können. Und für die Öffentlichkeit spielt es keine Rolle, ob Kloppo oder Thomas Cheftrainer ist. Beide sind auf ihre Art Persönlichkeiten und dann spielen irgendwelche Fußstapfen auch keine Rolle mehr.

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