Alexander Nübel musste einmal kräftig durchschnaufen. Der Torhüter des FC Schalke 04 hatte gerade den Rasen der Türk Telekom Arena in Istanbul betreten, da prasselte ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert auf ihn nieder. Die knapp 50.000 Fans von Galatasaray taten alles dafür, um ihm das Leben für 90 Minuten zur Hölle zu machen. Ein unangenehmes Gefühl für einen 22-Jährigen, der seine Pflichtspiele als Profi nur an zwei Händen abzählen kann. Nübel aber reagierte cool. Genauso cool wie seine routinierteren Kollegen.
"Das ist krank, wenn du den Ball hast und alle pfeifen", sagte er im Nachhinein, "aber wir sind ruhig geblieben und haben ein überragendes Spiel gemacht." In der Tat. Schalke entführte einen Punkt aus der Türkei. Mit einer besseren Chancenverwertung wäre sogar mehr als ein 0:0 drin gewesen. Dafür konnte Nübel aber nichts. In seiner Jugend beim SC Paderborn spielte er noch im Mittelfeld. Inzwischen besteht sein Job aber daraus, Tore zu verhindern. Und das macht er - gemessen an seinem Alter und seiner Erfahrung auf dem allerhöchsten Niveau - außerordentlich gut.
Schalke-Coach Domenico Tedesco schwärmt von Alexander Nübel
"Wir sind froh, dass wir zwei super Torhüter haben", sagt Domenico Tedesco nicht grundlos. Der Schalker Trainer weiß, dass er sich neben Stammkeeper und Kapitän Ralf Fährmann voll und ganz auf Nübel verlassen kann. Am 20. Oktober schenkte er ihm - wenngleich notgedrungen - gegen Werder Bremen sein Startelf-Debüt in der Bundesliga. Fährmann musste wegen einer Adduktorenverletzung passen. Die Abwesenheit des 30-Jährigen machte sich aber kaum bemerkbar.
Sein acht Jahre jüngerer Vertreter konnte die 0:2-Niederlage gegen Bremen zwar auch nicht abwenden, trumpfte in der Folge aber mit starken Leistungen auf. Gegen Galatasaray und Leipzig hielt er seinen Kasten sauber, im Pokalkrimi gegen Köln avancierte er mit einem parierten Strafstoß zum Spieler des Spiels. Auch beim 3:1-Heimsieg am vergangenen Wochenende über Hannover 96 machte Nübel einen sattelfesten Eindruck. "Keiner hat Bedenken, dass er statt Ralle im Tor steht", lobt Tedesco, "Alex hat eine sehr große Qualität."
Paderborns Torwarttrainer Nico Burchert: Alexander Nübel hebt nicht ab
Diese Qualität bleibt auch U21-Nationaltrainer Stefan Kuntz nicht verborgen. Nübel ist in seinem Tor die unumstrittene Nummer eins. Was ihn von anderen Keepern unterscheidet: Er besticht trotz seiner Größe (1,93 Meter) durch technisch hochwertiges und sicheres Torwartspiel. Bis auf Julian Pollersbeck vom Hamburger SV gibt es in Deutschland zurzeit kein größeres Talent dieser Art zwischen den Pfosten.
Nico Burchert wundert die Entwicklung des Schalker Überfliegers nicht. Burchert war einst einer von Nübels Teamkollegen und Mentoren beim SC Paderborn, heute ist er der Torwarttrainer des Zweitligisten - und sichtlich stolz auf den Youngster. "Alex macht das richtig gut. Man sieht, wie viel Potenzial in ihm steckt", sagt der 31-Jährige im Gespräch mit SPOX und Goal.
Dieses Potenzial sei bereits in jungen Jahren "klar erkennbar" gewesen. "Die Hände eines 15-, 16-jährigen Torhüters sind meist sehr unruhig, sehr hektisch. Das war bei Alex nie der Fall", erinnert sich Burchert, seit 2008 im Verein. Neben seiner Ruhe habe Nübel damals noch insbesondere seine akribische Arbeitsweise ausgezeichnet. "Ich kann mich nur an zwei Trainingseinheiten erinnern, in denen er nicht bei 100 Prozent war. Alex ist ein Typ mit extrem hohen Erwartungen an sich selbst", berichtet der frühere Hertha-Spieler.
Die Gefahr, dass Nübel angesichts seiner Leistungen abhebt, sieht Burchert nicht: "Er ist ein bodenständiger und familiärer Typ. Und wenn es um Fußball geht, gibt Alex einfach immer Vollgas. Wenn er so weitermacht, kann er ein Großer werden. Das Talent dazu hat er."
Ralf Fährmann bleibt bei Schalke 04 unumstritten: "Klare Hierarchie"
In Gelsenkirchen hütet man sich jedoch davor, eine Torwart-Diskussion in Gang zu bringen. Fährmann befindet sich im besten Alter und kann sich nicht nur wegen seiner Verdienste in den vergangenen Jahren, sondern auch wegen seines Standings innerhalb der Mannschaft seines Stammplatzes sicher sein.
Laut Torwarttrainer Simon Henzler herrsche "eine klare Hierarchie" im Schalker Tor. Und auch Tedesco meint: "Ralle ist bei uns die Nummer 1, das hat Alex auch selbst gesagt. Von daher ist das nichts, was uns beschäftigt." Was das Raumverteidigen, das Abfangen von Flanken und das Herauskommen angehe, gebe es in der Bundesliga ohnehin "keinen Besseren" als Fährmann.
Abgesehen davon müsse Nübel die Geschehnisse der vergangenen Wochen erst einmal "sacken lassen", findet sein einstiger Wegbegleiter Burchert, "er hat jetzt in kürzester Zeit in allen Wettbewerben auf dem höchsten Niveau gespielt. Das ist auch mental schwierig für einen jungen Spieler."
Alexander Nübel: Leihgeschäft als langfristige Lösung?
Andererseits wissen die Verantwortlichen der Königsblauen um Nübels Fähigkeiten. Der Jungspund, 2015 auf Geheiß des damaligen Schalker Trainers Andre Breitenreiter aus Paderborn gekommen, ist mehr als eine Nummer zwei. Er ist eine Nummer eins im Wartestand. Fragt sich also, wie lange er noch mit der Rolle des "jungen Herausforderers" (Henzler) leben kann. Sein Vertrag läuft bis 2020.
"Wir haben Alex gesagt, dass wir ihn als den Torhüter für die Zeit nach Fährmann sehen", berichtet Sportvorstand Christian Heidel, "und wir haben über verschiedene Szenarien gesprochen." Eines davon sei ein Leihgeschäft - allerdings erst langfristig betrachtet. "Er hat gerade sehr gute Spiele gemacht", sagt Heidel, "deswegen reden wir im Moment sicher nicht darüber, ihn auszuleihen oder abzugeben. Wir sind sehr froh, ihn zu haben."
Leistungsdaten 2018/19 (alle Wettbewerbe) | Alexander Nübel | Ralf Fährmann |
Spiele | 5 | 10 |
Zu-Null-Spiele | 2 | 4 |
Festgehaltene Flanken | 2 | 4 |
Weggefaustete Bälle | 4 | 5 |
Fallengelassene Bälle | 2 | 1 |
Klärende Aktionen | 4 | 9 |
Gehaltene Strafstöße | 1 (gegen Köln) | 1 (gegen Porto) |
Erfolgreiche Pässe | 90 von 121 | 174 von 249 |
Am Dienstag brauchen die Schalker ihren "Musterschüler" wieder. Weil Fährmann nach seiner Verletzung zwar auf dem Weg der Besserung, aber noch nicht bei 100 Prozent ist, setzt Tedesco beim Wiedersehen mit Galatasaray vor heimischer Kulisse (ab 21 Uhr im LIVETICKER) erneut auf Nübel. Diesmal - so viel ist sicher - bekommt der Torhüter warmen Applaus statt gellende Pfiffe zu hören.