"Ich bin besorgt." Thomas Tuchel sah am Samstagabend in den Katakomben des Prinzenpark nicht unbedingt wie jemand aus, der soeben sein 27. von bis dato 34 Pflichtspielen mit Paris Saint-Germain gewonnen hatte. Zu groß war der Schatten, den zwei neuerliche Verletzungen im Starensemble der Hauptstädter warfen.
Der glanzlose 1:0-Heimsieg über Girondins Bordeaux war teuer erkauft. Viel zu teuer. Das wusste jeder, der an diesem Abend einen Blick auf Tuchels verdunkelte Miene kurz nach dem Schlusspfiff erhaschen konnte. Es war die 43. Minute, die dem PSG-Trainer jede Vorfreude auf das anstehende Champions-League-Achtelfinale gegen Manchester United nahm und die Chancen des französischen Meisters auf ein Weiterkommen in der Königsklasse deutlich schmälerte.
Soeben hatte Edinson Cavani mit einem brachialen Schuss aus elf Metern den Tabllenführer der Ligue 1 gegen Bordeaux in Führung geschossen. Ein kurzer Jubelschrei, eine kleine Spielertraube im gegnerischen Sechzehner, um das 1:0 gebührend zu zelebrieren und dann das: Cavani winkt Tuchel zu, beißt dabei die Zähne zusammen, vollführt mit den beiden Zeigefingern das Wechselzeichen und nickt kurz.
Tuchels "Worst-Case-Szenario": PSG ohne Neymar und Cavani
Es ist das Ende des Spiels für Cavani und für Tuchel der Beginn neuer Personalsorgen. Der ahnte schon kurz nach Abpfiff Böses. "Es sieht nicht gut aus", sagte Tuchel konsterniert und sah sich am Sonntagabend bestätigt. Untersuchungen ergaben, dass sich Cavani eine Sehnenverletzung in der Hüfte zugezogen hatte und definitiv gegen Manchester ausfällt.
Die französische Presse sprach anschließend von einem "Worst-Case-Seznario". Zwei Wochen zuvor hatte sich bereits Neymar in den Krankenstand verabschiedet und das sogar für zehn Wochen, nachdem eine Verletzung des Mittelfußes aus dem Vorjahr wieder aufgebrochen war.
"Ja, wir haben echt viel Pech", erklärte Tuchel fast schon mitleiderregend am Montag vor dem Hinspiel gegen Manchester im Old Trafford. Ausgerechnet gegen die Red Devils, die unter dem neuen Trainer Ole Gunnar Solskjaer zurück zu einer fast schon in Vergessenheit geratenen Bestform gefunden und zehn von elf Spielen gewonnen haben, fehlen Tuchel nun zwei Spieler, die insgesamt an 57 von 101 Pariser Toren in dieser Spielzeit direkt beteiligt waren.
Dazu zog sich am Samstagabend auch noch Linksverteidiger Thomas Meunier eine Gehirnerschütterung zu und muss ebenfalls für das Hinspiel passen. Die rosigen Vorzeichen vor wenigen Wochen, als United unter Jose Mourinho noch wie ein durchschnittlicher Sparringspartner für PSG mit seinem stürmischen CMN-Trio (Cavani, Mbappe, Neymar) daherkam, sind komplett gekippt. "50 Prozent", schätzte PSG-Keeper Gianluigi Buffon die Chancen aufs Weiterkommen seiner eigenen Mannschaft am Tag vor dem Hinspiel ein.
Die fragwürdige PSG-Transferpolitik: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Eine Prognose, die tief blicken lässt und veranschaulicht, wie abhängig das wackelige PSG-Gebilde von den Superstars Cavani, Neymar und Mbappe ist. Tuchel hat schon ein paar Mal versucht, in der Liga, in der PSG ohnehin chronisch unterfordert ist, den Ernstfall zu proben und bot ab und an nur einen oder zwei Spieler seines Traumtrios auf. Wie nachhaltig die Wirkung dieser "Feuerübungen" waren, wird sich nun zeigen.
Tuchel war sich indes schon bei seinem Amtsantritt im Sommer über die dünne Personaldecke und die Gefahren einiger Ausfälle bewusst. Er forderte sowohl im Sommer als auch im Winter Neuverpflichtungen, besonders im defensiven Mittelfeldzentrum. Diese blieben jedoch aus und als sich Marco Verratti Anfang Januar auch noch verletzte (Tuchel: "Das ist das Schlimmste, was passieren konnte"), reichte es dem 45-Jährigen.
"Wir haben Ziele in diesem Verein. Um sie zu erreichen, für die Ambitionen des Klubs und der Spieler, müssen wir uns verstärken. Das war bereits im Sommer die Situation", beschwerte sich Tuchel über die Transferpolitik seines Klubs, für die sich der umstrittene Sportdirektor Antero Henrique verantwortlich zeigt. Dieser hatte Tuchel in zwei Transferperioden lediglich Leandro Paredes für 40 Millionen Euro geholt. Zu wenig für Tuchel, der eine defensive Autorität im Zentrum verlangte.
PSG und die Causa Adrien Rabiot: Farce und Armutszeugnis
Auch, weil die Klubführung Adrien Rabiot im Dezember kurzfristig suspendiert und Tuchel somit eine attraktive Option im Mittelfeldzentrum weggenommen hatte. Rabiot hatte dem Verein mitgeteilt, seinen Vertrag im Sommer nicht verlängern zu wollen und wurde in der Folge in die zweite Mannschaft abgeschoben.
Eine Tatsache, gegen die der 23-Jährige sogar gerichtlich vorging, mittlerweile wieder am Training der Profis teilnehmen darf und sogar für das Champions-League-Achtelfinale nominiert wurde. Eine Farce, bedenkt man das offensichtlich zerrüttete Verhältnis zwischen Klub und Spieler und gleichzeitig ein Armutszeugnis für die langfristige Kaderplanung in Paris.
Seit Sommer 2015 gab PSG 500 Millionen Euro für Offensivspieler aus - und besserte andere Kaderbaustellen in der Defensive nur halbherzig für rund 131,5 Millionen Euro. Darunter alternde Stars wie Gigi Buffon und Dani Alves (beide ablösefrei), gute, aber eben keine Weltklassespieler wie Juan Bernat (5 Millionen Euro) und talentierte, aber noch unreife Spieler wie Thilo Kehrer (37 Millionen Euro).
Die Rekordeinkäufe von Paris Saint-Germain
Spieler | Position | Saison | Ablöse in Euro |
Neymar | Angriff | 2017/18 | 222 Mio. |
Kylian Mbappe | Angriff | 2018/19 | 135 Mio. |
Edinson Cavani | Angriff | 2013/14 | 64,5 Mio. |
Angel Di Maria | Angriff | 2015/16 | 63 Mio. |
David Luiz | Innenverteidigung | 2014/15 | 49,5 Mio. |
Tuchels Mission bei PSG: Nur die Champions League zählt
Tuchel sah diesen Widerspruch zwischen dem Gebaren auf dem Transfermarkt und dem Anspruch, sich auf den Thron des europäischen Vereinsfußballs zu setzen und stellte klar, dass er mit der Transferpolitik nicht zufrieden sei, aber das eben akzeptieren müsse. "Das Wichtigste für einen Coach ist es, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die möglich sind. Ich arbeite mit den Spielern, die da sind", erklärte Tuchel.
Bezüglich Mbappe und Neymar hätte er aber auch sagen können: "Spieler, die noch da sind." Gegen Manchester United droht angesichts der komplizierten Personallage und dem Wiedererstarken der Red Devils eine Fortsetzung des jährlichen Scheiterns in der Champions League.
In der Ära des Klub-Präsidenten Al Khelaifi ist PSG nicht einmal über das Champions-League-Viertelfinale hinausgekommen. Potenziell zu wenig für Spieler von Mbappe- oder Neymar-Format, die angesichts weiterer Misserfolge das Weite suchen und sich anderen Klubs anschließen könnten. Klubs, die die Champions League gewinnen können und in der Liga nicht ständig unterfordert werden.
Zu wenig aber auch für die Klubführung, die in der Folge des frühen Ausscheidens Tuchels Vorgänger Laurent Blanc und Unai Emery trotz zahlreicher Titelgewinne auf nationaler Ebene vor die Tür setzte. Ein Szenario, das auch Tuchel droht. Nicht nach dem ersten Jahr, aber spätestens in seiner zweiten Saison wird auch Tuchel mit seiner Mannschaft in der Königsklasse mindestens das Halbfinale erreichen müssen.
Die jüngere Klubhistorie lehrt: Einen Fehlversuch darf man sich leisten, beim Zweiten wird es eng.