Emre Can von Juventus im Interview: "Ich bin Fußballer, kein Politiker"

Kerry Hau
15. April 201923:21
Emre Can möchte zurück ins DFB-Team.getty
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Emre Can fällt im Hinspiel des Champions-League-Viertelfinals gegen Ajax Amsterdam (heute ab 21 Uhr LIVE auf DAZN und im LIVETICKER) angeschlagen aus. Ein großer Verlust für Juventus Turin, denn der 25 Jahre alte Mittelfeldspieler hat sich insbesondere mit seiner starken Leistung im Achtelfinale gegen Atletico Madrid in die Stammelf von Massimiliano Allegri gespielt und die Herzen der Tifosi erobert. In Deutschland hingegen mangelt es ihm nach wie vor an Wertschätzung.

Er werde im Ausland "anders wahrgenommen", erzählte der zuletzt nicht von Bundestrainer Joachim Löw für die Länderspiele gegen Serbien und die Niederlande nominierte Can bei einem Treffen mit DAZN und SPOX Ende März in Turin.

Fast vier Stunden nahm sich der gebürtige Frankfurter Zeit für ein offenes und ehrliches Gespräch. Ein Gespräch, in dem neben seinem Standing im DFB-Team auch sein neues Leben in Italien zur Sprache kam.

Can berichtete von den harten Trainingsmethoden und den taktischen Kniffen seines Coaches und verriet, womit er Jürgen Klopp enttäuschte. Außerdem machte er klar, warum er sich nicht mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan traf. Lesen Sie hier Teil eins des Interviews.

Herr Can, Sie stehen mit Juventus im Viertelfinale der Champions League und können sich am nächsten Spieltag der Serie A zum italienischen Meister krönen. Wie fällt Ihr bisheriges Saisonfazit aus?

Emre Can: So weit, so gut. Aber noch haben wir nichts gewonnen, die entscheidende Phase der Saison beginnt erst jetzt. Wir wollen Meister werden und die Champions League gewinnen. Vor allem die Sehnsucht nach der Champions League ist im Verein und in der Stadt riesig. Die Mannschaft war in den vergangenen Jahren immer wieder drauf und dran, den Titel zu holen. Die Konkurrenz ist natürlich sehr groß, aber wir werden alles dafür geben, dass es in diesem Jahr klappt.

Im Grunde können Sie sich ja schon als Champions-League-Sieger bezeichnen. Zu Beginn der Saison 2012/2013 unterschrieben Sie ihren ersten Profivertrag beim FC Bayern. Ein paar Monate später gewann die Mannschaft den Titel.

Can: Ich habe damals aber keine einzige Minute gespielt, deshalb fühle ich mich rückblickend nicht als Champions-League-Sieger. Aber ich weiß, wie schön das Gefühl ist, dabei zu sein und will es diesmal unbedingt als aktiver Bestandteil erleben.

Reporter Kerry Hau (r.) traf Emre Can zum Interview in Turin.DAZN/SPOX

"Bereit für den letzten Schritt" - Teil eins der exklusiven Doku über Juventus-Spieler Emre Can ist jetzt bei DAZN abrufbar.

Emre Can über Nicht-Nominierung: "Extrem enttäuscht"

Im Viertelfinale geht es gegen Ajax Amsterdam. Was halten Sie von den Niederländern?

Can: Ajax ist eine junge, eine freche Mannschaft, die gegen Real bewiesen hat, wie gut sie sein kann. Ich schaue aber nicht gerne auf unsere Gegner, sondern auf uns, denn auch wir sind eine starke Mannschaft und zudem sehr erfahren. Wenn wir unsere Qualitäten abrufen, bin ich guter Hoffnung, dass wir ins Halbfinale einziehen.

Sie verpassen das Hinspiel wegen Knöchelproblemen. Ein bitterer Ausfall für Sie, aber auch für die Mannschaft, denn Sie sind mittlerweile Stammspieler bei Juventus. Im Achtelfinale gegen Atletico Madrid waren Sie einer der Erfolgsgaranten. War dieses Spiel Ihr persönlicher Durchbruch?

Can: Ich hatte erstmals in meiner Zeit hier eine Bühne, mich über Italien hinaus zu präsentieren. Viele Fußballfans auf der ganzen Welt haben sich dieses Spiel angesehen. Ich wollte mich beweisen, wollte eine Top-Leistung bringen. Ich glaube, das habe ich gut hinbekommen. Unabhängig von diesem Spiel weiß ich aber, wie stark ich sein kann, wenn ich fit und gesund bin. Ich bin selbstbewusst genug, um zu sagen: "Hier setze ich mich durch." Das habe ich, egal wo ich in meiner bisherigen Karriere war, überall geschafft.

Für die Nationalmannschaft reicht es aktuell trotzdem nicht. Wie haben Sie auf die Entscheidung von Joachim Löw reagiert, Sie nicht für die Spiele gegen Serbien und die Niederlande zu nominieren?

Can: Ich war extrem enttäuscht, weil ich der Meinung war, eine gute Rückrunde zu spielen und in Topform zu sein. Ich finde, meine Leistungen im Ausland werden anders wahrgenommen und beurteilt als in Deutschland. Ich akzeptiere aber immer die Entscheidungen des Bundestrainers und versuche, positiv zu denken und diese Enttäuschung in Kraft umzuwandeln. Ich werde weiter Gas geben, bis der Bundestrainer irgendwann keine andere Wahl mehr hat, als mich mitzunehmen.

Emre Can über DFB-Team: "Ich will Führungsspieler werden"

Hat sich der Bundestrainer denn bei Ihnen gemeldet und seine Entscheidung begründet?

Can: Nein, er hat sich nicht bei mir gemeldet. Nur Marcus Sorg hat mir eine Nachricht geschrieben.

Für Löw ist Joshua Kimmich im defensiven Mittelfeld gesetzt. Mit Toni Kroos, Leon Goretzka oder Ilkay Gündogan haben Sie weitere Konkurrenten auf Ihrer Position. Allerdings lässt Löw auch oft mit einer Dreierkette spielen. Weiter hinten ist die Konkurrenz nicht ganz so groß. Wäre das nicht eine Möglichkeit für Sie, Fuß im Nationalteam zu fassen?

Can: Ich werde immer mein Bestes geben, egal wo der Bundestrainer mich aufstellt. Mein Ziel und Anspruch lautet aber, Leistungsträger und Führungsspieler im Mittelfeld der Nationalmannschaft zu werden. Ich spiele schließlich auch im Verein hauptsächlich im Mittelfeld, entweder auf der Sechs oder auf der Acht.

Gegen Atletico wechselten Sie Ihre Position ständig. Mal waren Sie weiter hinten, mal weiter vorne.

Can: Das war ein Masterplan von unserem Trainer. Er hat mich einen Tag vor dem Spiel zu sich gerufen und gesagt, dass wir mit dem Ball wie mit einer Dreierkette spielen wollen. Seine Idee: Ich soll als einer der drei Verteidiger den Ball nach vorne treiben und eine Position weiter vor ins defensive Mittelfeld rücken, sobald der Gegner am Ball ist. Das hat optimal funktioniert, weil Atletico fast nur auf zweite Bälle gespielt hat und ich meine Zweikampf- und Kopfballstärke genutzt habe.

Klingt so, als lege Allegri viel Wert auf Taktik.

Can: Er ist ein Taktikfreak. Er stellt uns vor jedem Spiel anders ein, probiert ständig neue Varianten aus. Wir müssen fast in jedem Spiel den Gegner anders anlaufen, hinten anders verteidigen. Für ihn ist jedes noch so kleine Detail wichtig.

Seine Trainingsmethoden sollen auch nicht von schlechten Eltern sein.

Can: Ich habe ja schon bei Jürgen Klopp über das harte Training gemeckert. (lacht) Aber das Training hier ist noch einmal ein Stückchen härter. Wir müssen noch mehr laufen, machen noch mehr Krafttraining. Es war am Anfang eine große Umstellung für mich. Inzwischen hat sich mein Körper an die höhere Belastung gewöhnt.

Wie tickt Allegri als Mensch?

Can: Er ist sehr lustig. Viele Außenstehende denken das nicht, weil er an der Seitenlinie immer ernst wirkt, aber er macht oft Späße und lacht viel - auch wenn ich ihn ehrlich gesagt kaum verstehe, weil er aus der Toskana kommt und einen schwer zu verstehenden Dialekt spricht. (lacht) Er verschluckt viele Wörter.

Emre Can über Cristiano Ronaldo: "Was er leistet, ist unfassbar"

Allegri kann aber auch anders, wie man hört. Er soll dafür bekannt sein, seine Spieler immer wieder anzustacheln. Über Sie hat er beispielsweise im vergangenen Dezember gesagt, Sie müssten im Vergleich mit Miralem Pjanic noch lernen, den Ball schneller an den Mitspieler zu bringen.

Can: Der Trainer hat gut erkannt, dass mir im Passspiel manchmal die nötige Geschwindigkeit fehlt. Ich trainiere das sowohl individuell als auch mit der Mannschaft, bleibe oft auch länger auf dem Trainingsplatz. Auch wenn ich bereits auf einem hohen Level spiele, kann ich mich immer verbessern. Nur wenn man den Hunger hat, immer besser zu werden, kann man sich auf diesem Weltklasseniveau etablieren.

An Weltklasse mangelt es in Ihrer Mannschaft nicht. Wie groß ist eigentlich dieser Ronaldo-Effekt, von dem alle immer reden?

Can: Extrem groß. Ob in der Stadt, im Verein, in der Liga - alle reden über Ronaldo. Alle reden natürlich immer von dem Weltklasse-Fußballer. Für mich zählt aber in erster Linie der Mensch. Er ist sehr sympathisch und bodenständig. Jeder in der Mannschaft versteht sich gut mit ihm. Was er auf dem Platz leistet, ist unfassbar. Man merkt: Selbst mit 34 will er immer der Beste sein und der Welt Spiel für Spiel aufs Neue zeigen, was er kann. Allein seine Leistung gegen Atletico war der Wahnsinn.

Unternehmen Sie abseits des Platzes viel mit Ihm oder anderen Mitspielern?

Can: Wir sehen uns jeden Tag beim Training und die meisten von uns haben auch eine Familie, weshalb es nicht häufig vorkommt, dass wir in unserer Freizeit viel zusammen unternehmen. Wir veranstalten hin und wieder aber Mannschaftsabende, die ich so in dieser Form bislang bei keinem anderen Verein erlebt habe. Wir sind alle miteinander befreundet. Juventus ist ein familiärer Verein. Jeder begegnet sich mit Respekt und Herzlichkeit - das fängt beim Zeugwart an und hört beim Präsidenten auf. Bei uns würde jeder für jeden den Kopf hinhalten.

Emre Can: "Jürgen Klopp wollte mich halten"

Klingt so, als seien Sie in Turin angekommen.

Can: Ich fühle mich sehr wohl im Verein, aber auch sehr wohl in der Stadt und in dem Land. Ich würde sagen, das Leben hier passt gut zu mir. Das fängt schon beim Essen an. Wer liebt nicht die italienische Küche? Für mich gibt es neben der türkischen Küche kein besseres Essen. Außerdem sind die Menschen immer fröhlich und ziehen sich gut an. Das gefällt mir. Und ganz wichtig: Hier scheint fast jeden Tag die Sonne. Die Lebensqualität ist dadurch wesentlich höher als in Ländern wie Deutschland oder England, wo es häufiger regnet und bewölkt ist.

Haben Sie auch deshalb Liverpool verlassen?

Can: Nein, nein.

Wie hat Klopp auf ihren Wechsel reagiert?

Can: Er war enttäuscht. Er wollte mich halten, hat meine Entscheidung aber akzeptiert. Er wusste ja auch, dass es keine Entscheidung gegen ihn oder gegen Liverpool war, sondern für eine neue Herausforderung bei Juventus. Ich hatte in Liverpool eine wunderbare und unvergessliche Zeit und werde allen Menschen, die mich dort unterstützt haben, immer dankbar sein. Mit Jürgen Klopp habe ich auch heute noch ab und zu Kontakt.

In Liverpool haben Sie Ihren Vertrag erfüllt. Ihr Vertrag in Turin läuft noch bis 2022. Dann wären Sie 29. Können Sie sich vorstellen, bei der Alten Dame alt zu werden?

Can: Ich bin glücklich und kann mir gut vorstellen, einige Jahre hier zu bleiben. Im Fußball weiß man aber nie, was passiert. Man kann nie sagen: "Jetzt bleibe ich bis zu meinem Karriereende hier." Das kann man selbst auch nicht immer beeinflussen.

Das haben Sie im vergangenen Herbst am eigenen Leib erfahren müssen, als eine seltene Schilddrüsenkrankheit bei Ihnen diagnostiziert wurde.

Can: Die Ärzte haben mir im Herbst plötzlich mitgeteilt, dass eine Operation an der Schilddrüse durchgeführt werden muss. Es war eine schwierige Phase für mich, die ich dank meiner Familie, Freunden und meinem Berater aber gut überstanden habe. In dieser Zeit bin ich zu einem stärkeren Menschen geworden, weil ich viel für das Leben gelernt habe. Wir vergessen manchmal, dankbar zu sein und vermeintlich selbstverständliche Dinge im Leben wie Gesundheit wertzuschätzen. Ich weiß seitdem: Fußball ist wichtig, das Leben ist aber wichtiger.

Sie haben Ihre Reha bewusst in Ihrer Heimatstadt Frankfurt absolviert, um bei Ihrer Familie zu sein.

Can: Ja, das war sehr wichtig für mich. Der Verein hat mir die nötige Zeit gegeben und mich unterstützt. Die Zeit nach meiner Rückkehr nach Turin war trotzdem hart. Ich bin kein guter Zuschauer und war einen Monat lang im Aufbautraining, musste viel allein und mehr als die Mannschaft trainieren. Das ist jetzt zum Glück vorbei.

Emre Can über Rassismus: "Mensch ist Mensch"

Welche Rolle hat Sami Khedira bei Ihrer Eingewöhnung gespielt?

Can: Sami ist ein super Junge. Er war vom ersten Tag an für mich da. Wenn ich etwas gebraucht habe, bin ich zu ihm hin, habe ihn gefragt und sofort Hilfe bekommen.

Bei Khedira wurden im Februar plötzlich Herzprobleme diagnostiziert. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie darüber informiert wurden?

Can: Es war für uns alle ein Schock. Wie gesagt: Manchmal vergessen wir, dass es Wichtigeres im Leben gibt als Fußball. Zum Glück geht es ihm wieder gut.

Mit Moise Kean stand ein anderer Teamkollege von Ihnen zuletzt immer wieder im Fokus. Gegnerische Fans beleidigten ihn wegen seiner Hautfarbe. Wie groß ist das Rassismus-Problem in Italien?

Can: Es passiert ja nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland, wie man erst kürzlich beim Länderspiel in Wolfsburg gesehen hat. Es passiert überall auf der Welt. Ich finde es einfach nur traurig und schade. Mensch ist Mensch, egal welche Hautfarbe. Wer das nicht respektiert, ist ein Idiot und hat weder im Fußballstadion noch in der Gesellschaft etwas zu suchen. Schade, dass man dieses Problem nicht in den Griff bekommt und ich denke, dass jeder von uns seinen Teil im Kampf gegen Rassismus beitragen muss.

Wurden Sie schon einmal in Deutschland rassistisch beleidigt?

Can: Nein, noch nie.

DAZN und SPOX trafen Emre Can zum Interview im Juventus-Stadion.DAZN/SPOX

Emre Can: "Ich bin Fußballer, kein Politiker"

Wie groß ist als Sohn türkischer Einwanderer Ihre Identifikation mit Deutschland?

Can: Meine Identifikation mit Deutschland ist riesig, ich bin in diesem Land geboren und aufgewachsen. Auch wenn meine Eltern beide Türken sind, mich türkisch aufgezogen haben und ich ein bisschen mehr türkisch als deutsch aussehe, fühle ich mich genauso als Deutscher wie als Türke. Ich habe die deutsche Mentalität, die deutschen Tugenden in mir. Ich bin glücklich und stolz, von beidem etwas zu haben. Das ist ein guter Mix.

Hatten Sie in Ihrer Jugend die Möglichkeit, für die türkische Nationalmannschaft zu spielen?

Can: Der türkische Verband hat mich früher einmal kontaktiert, aber für mich stand immer fest, deutscher A-Nationalspieler werden zu wollen, weil ich auch in allen deutschen U-Nationalmannschaften gespielt habe.

Der umstrittene türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan lud neben Mesut Özil und Ilkay Gündogan auch Sie im Mai vergangenen Jahres nach London ein. Warum lehnten Sie ab?

Can: Ich bin Fußballer, kein Politiker. Deshalb wollte ich das nicht machen.

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews mit Emre Can am kommenden Dienstag, den 16. April, warum ihn Straßfenfußball so geprägt hat, was er beim FC Bayern gelernt hat und warum er sich für Mode interessiert.