Im zweiten Teil des großen Interviews mit DAZN und SPOX spricht der Nationalspieler über Zeiten, an denen er von solchen Königsklassen-Abenden nur träumen konnte. Über sein Leben als unbekümmerter Straßenkicker in Frankfurts Nordweststadt. Über sein Leben als einsamer, aber selbstsicherer Teenager beim FC Bayern. Aber auch über das Leben in der Blase Profifußball. Über die Fake-Welt Social Media. Über zu viel Geld. Über richtige Arbeit auf dem Bau. Und über seine größte Leidenschaft außerhalb des Rasens.
Herr Can, im ersten Teil unseres Interviews haben wir uns vorwiegend über Ihre Gegenwart und Ihre Zukunft unterhalten. Blicken wir nun zurück auf Ihre Anfänge. Wo hat Ihre Fußballreise begonnen?
Emre Can: Ich bin in der Frankfurter Nordweststadt aufgewachsen und habe meist auf der Straße mit meinen Freunden gespielt.
Man hat den Eindruck, heutzutage spielen immer weniger Kinder auf der Straße.
Can: Ich bin froh, nicht so aufgewachsen zu sein wie die meisten Kinder heutzutage. Christian Streich (Trainer des SC Freiburg; Anm. d. Red.) hat neulich etwas sehr Schönes gesagt: Die Kinder sind nicht daran schuld, so aufzuwachsen, sondern diejenigen, die sie so aufwachsen lassen. Ein Zehn- oder Elfjähriger kann sich kein Smartphone oder keine Konsole kaufen, weil er kein Geld hat. Das kaufen ihm seine Eltern. Die Erziehung muss sich wieder ändern.
Inwiefern?
Can: Man sollte als Kind auch mal auf Bäume klettern und sich die Knie aufschlagen dürfen, denn nur so wird man erwachsen. Wir waren am Wochenende damals von 10 Uhr morgens bis 7 oder 8 Uhr abends draußen. Das war die schönste Zeit für mich - auch wenn meine Mama mit mir geschimpft hat, weil sie wegen mir so viel Wäsche hatte. (lacht)
Emre Can: Zinedine Zidane war mein Vorbild
Welchen Spieler haben Sie sich damals zum Vorbild genommen?
Can: Wenn du in meiner Generation auf der Straße gespielt hast, warst du entweder Zinedine Zidane oder Ronaldinho. Ich war lieber Zidane. Er war mein Lieblingsspieler, mein Idol. Wie er den Ball gestreichelt hat, war beeindruckend.
Sie haben aber nicht nur auf der Straße gespielt, sondern sich auch frühzeitig einen Verein gesucht.
Can: Mit fünf, sechs Jahren habe ich meinen Eltern immer wieder gesagt: "Ich will zu einem Verein." Der erste Verein hat mich aber nicht angenommen, weil er überfüllt war. (lacht) Also habe ich es bei Blau-Gelb Frankfurt probiert. Dort wurde ich nach dem Training direkt in den höheren Jahrgang gesteckt mit der Begründung: "Der ist viel zu gut." Und fünf, sechs Jahre später hat mich dann die Eintracht geholt.
Wie sehr hat Ihnen die Ausbildung auf der Straße auf dem Weg zum Profi geholfen?
Can: Extrem. Es ist immer von Vorteil, etwas von der Straße mit auf den Rasen zu bringen, frech und technisch anspruchsvoll zu spielen. Man darf es natürlich nicht übertreiben. Wenn es nichts bringt, macht es keinen Sinn, so zu spielen.
In Deutschland wird zurzeit rege über die Ausbildung junger Spieler diskutiert. Kritiker behaupten, es mangele an Straßenfußballer-Mentalität.
Can: Das kann sein. Ich finde, dass man in der Ausbildung einige Dinge ändern sollte. Man braucht wieder mehr Eins-gegen-Eins-Fußballer. Man soll als Jugendlicher auch mal dribbeln können und nicht sofort den Ball abspielen.
Emre Can: "Ich kannte in München keinen Menschen"
Haben Sie Ihre Jugendtrainer mit Ihrer Spielweise verärgert?
Can: Einige Jugendtrainer haben mit mir geschimpft, wenn ich zu oft mit der Sohle oder der Hacke gespielt habe. Ich habe als Zehner angefangen, habe aber auch mal auf der Sechs oder in der Innenverteidigung gespielt. Die Einsätze auf den defensiveren Positionen haben mir geholfen, gewisse Spielsituationen einfacher zu lösen. Da kannst du nicht so oft mit der Sohle oder der Hacke spielen.
Sie haben im Alter von 15 Jahren Ihre Heimat Frankfurt verlassen, um zum FC Bayern zu wechseln. Wie schwer fiel Ihnen der Schritt?
Can: Meine Mama wollte am Anfang nicht, dass ich so früh von zu Hause weggehe, aber ich hatte gute Gespräche mit meinem Berater und dem FC Bayern. Ich war für mein Alter schon sehr erwachsen und fokussiert, aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, es sei einfach für mich gewesen, meine Familie, meine Freunde und meine Heimatstadt zurückzulassen. Ich war noch kein Mann. Und ich kannte in München keinen Menschen.
Hatten Sie Zweifel, es nicht zu schaffen?
Can: Natürlich habe ich mir ab und zu die Frage gestellt: "Gehe ich wieder zurück?" Dank der Unterstützung meines Beraters und meiner Eltern, die mich immer wieder besucht haben, bin ich aber standhaft geblieben und habe an meinem Ziel festgehalten.
Hatten Sie einen Plan B?
Can: Nein. Bei mir war alles auf Fußball ausgelegt. Ich hatte nur einen Plan A, was nicht immer gut ist. Man sollte auch einen Plan B haben. Aber ich war schon damals sehr selbstbewusst und davon überzeugt, es zum Profi zu schaffen.
Emre Can: "Super Zeit" beim FC Bayern
Worauf mussten Sie für den Fußball verzichten?
Can: Als Fußballer musst du früh erwachsen sein. Manchmal bist du noch ein Kind, musst dich aber erwachsen verhalten. Du kannst es dir zum Beispiel nicht erlauben, mit deinen Freunden nachts um die Häuser zu ziehen. Ich hatte aber auch kein Problem damit. Ich hatte nur Fußball im Kopf. Es war mein Traum, Profi zu werden. Wenn ich jetzt noch einmal jünger wäre, würde ich es wieder genauso machen wie damals. Ich habe bei Bayern drei Jahre lang im Internat gelebt, genau in dem Gebäude, vor dem die Profis trainiert haben. Wenn ich morgens aufgestanden bin, habe ich zuallererst aus dem Fenster geschaut und mir gesagt: "Eines Tages will ich auch dabei sein."
Das ist Ihnen gelungen. 2012 haben Sie Ihren ersten Profivertrag beim deutschen Rekordmeister unterschrieben.
Can: Der Schritt nach München hat sich im Nachhinein für mich gelohnt. Ich hatte eine super Zeit bei Bayern.
Aber Sie haben den Klub nur ein Jahr nach Ihrer Unterschrift verlassen. Warum hat es mit Ihnen und dem FCB nicht geklappt?
Can: Ich würde nicht sagen, dass es bei Bayern nicht geklappt hat. Ich hatte noch Vertrag und der Verein wollte mich halten, aber ich habe damals nicht wirklich die Möglichkeit gesehen, viel zu spielen. Für mich war es als junger Spieler wichtig, so oft wie möglich auf dem Platz zu stehen. Leverkusen hat mir diese Möglichkeit gegeben. Rückblickend war der Wechsel für mich die beste Entscheidung.