Benedikt Höwedes hat mit 32 Jahren seine Karriere beendet. In einer von Materialismus geprägten Fußballwelt zählte der Weltmeister von 2014 zu den großen Ausnahmen. Im exklusiven Interview mit SPOX und Goal aus dem Dezember 2019 sprach er über die Blase Profifußball und erklärte, warum er sich als Jungprofi schnell für sein neues Auto schämte.
Benedikt, Sie sind im Alter von 13 Jahren zu Schalke 04 gewechselt. Was hat Sie an Ihrem ersten Tag besonders beeindruckt?
Benedikt Höwedes: Damals sah das ganze Gelände noch komplett anders aus. Statt eines Kunstrasens gab es einen Ascheplatz, die Geschäftsstelle war im Umbau. Obwohl es noch nicht so modern war wie heute, war es für mich total beeindruckend. Ich war riesiger Fußballfan - aber gar nicht so häufig im Stadion. Ich kann mich gut erinnern, wie ich zum Spiel gegen Düsseldorf mit meiner damaligen Mannschaft das erste Mal als Fan im Parkstadion war. Stadionbesuche waren für mich ganz besondere Erlebnisse. Plötzlich fuhr ich selbst jeden Tag in Richtung der Arena und trainierte nebenan. Wir haben einheitliche Trainingskleidung und zwei Paar Fußballschuhe im Jahr bekommen. Es war für mich wie Weihnachten, mit all den neuen Sachen nach Hause zu kommen, sie stolz auszupacken und meinen Eltern zu zeigen.
Julian Draxler sagte im Interview mit SPOX und Goal, dass er von seinem ersten Spiel im Schalke-Trikot enttäuscht gewesen sei, weil es damals noch nicht die gleichen Trikots waren wie die der Profis.
Höwedes: Unsere Trikots hatten nichts mit denen zu tun, die die Profis damals trugen. Andere Farben, anderes Muster. Wir haben einfach irgendwas getragen. Das Einzige, was unsere Trikots mit denen der Profis gemeinsam hatten, war das Schalke-Zeichen. (lacht)
Wo lag der größte Unterschied zwischen Ihrer Jugendzeit bei Haltern und Schalke 04?
Höwedes: Bis zum Tag, an dem ich zu Schalke gewechselt bin, habe ich als Stürmer oder Zehner gespielt und viele Tore geschossen. Die damalige C2 von Schalke war im Sturm schon gut besetzt, sodass ich dort hingestellt wurde, wo noch Platz war - und das war die Position des rechten Verteidigers in der Dreierkette. Ich war aber froh, überhaupt regelmäßig zu spielen und habe mich nie beschwert. Letztlich wurde ich also mehr oder weniger unfreiwillig zum Verteidiger und habe seitdem keine andere Position mehr gespielt.
imago imagesWas ist Ihre prägendste Erinnerung an Ihre Anfangszeit auf Schalke?
Höwedes: Nach drei Wochen habe ich mir in meinem ersten Revierderby gegen Dortmund den Fuß gebrochen. Anschließend musste ich über einen Monat lang pausieren. Ich erinnere mich auch an einen Schlachtruf, den wir vor jedem Spiel in der Kabine gebrüllt haben.
Was war das für ein Schlachtruf?
Höwedes: "Wir sind wir, der S04. Stark wie ein Stier im Revier." (lacht) Das habe ich bis heute nicht vergessen. Schon damals ging es darum, die Schalke-Identität zu wahren und den Mythos zu spüren, der diesen Verein umgibt.
Ging es in der Kabine auf Schalke weniger freundschaftlich zu als noch in Haltern oder Langenbochum?
Höwedes: Es gab Freundschaften, aber man muss ehrlich sagen, dass in der Jugend brutal aussortiert wird. Aus der C2 hat es außer mir niemand bis in die A-Jugend geschafft - und es sind nur zwei Jahrgänge. Die Orientierung in Richtung des professionellen Fußballs war spürbar. Es gab auch eine Phase, in der viele Spieler aufs Fußballinternat geschickt wurden. Auch ich war kurz dort, kam aber überhaupt nicht zurecht.
Warum nicht?
Höwedes: Ich habe es nur sieben Wochen ausgehalten und wollte schnell zurück auf meine alte Schule. Ich kam aus einem sehr behüteten Umfeld aus Haltern und war dann plötzlich auf der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen mit über 1.500 Schülern. Der Umgangston war viel rauer, als ich es gewohnt war. Teilweise wurden sogar die Lehrer beleidigt und ich dachte mir nur: "Was ist denn hier los?" Ich gehörte zu einem der ersten Jahrgänge, mit denen das Fußballinternat-Projekt durchgeführt wurde. Es gab damals nur sehr wenige Räume für uns Fußballer, sodass ich die Hausaufgaben häufig auf Holzbänken in der Kabine machen musste. Auch das Essen war unterirdisch und die Tage für mich extrem lang. Ich wurde um halb sieben vom Fahrdienst abgeholt und war oft erst um 23 Uhr wieder zu Hause. Die Internatszeit war wirklich sehr hart für mich. Irgendwann bin ich unter Tränen zu meinen Eltern gegangen und habe klargemacht, dass ich nicht auf dieser Schule bleiben kann.
Höwedes: "Deshalb wollte man mich auf Schalke aussortieren"
Und dann konnten Sie an Ihre frühere Schule zurückkehren?
Höwedes: Es war nicht ganz einfach, aber letztlich haben wir es geschafft, dass ich zurück auf die Realschule nach Haltern wechseln konnte, auf der ich schließlich meinen Realschulabschluss gemacht habe. Drei Jahre später habe ich dann noch mein Abitur auf einem Wirtschaftsgymnasium in Haltern am See gemacht. Rückblickend war es die beste Entscheidung, die ich treffen konnte, obwohl man mich auf Schalke deshalb aussortieren wollte.
Erzählen Sie.
Höwedes: Im Jugendbereich waren einige Verantwortliche der Meinung, ich sei nicht stark genug für den Profibereich, wenn ich schon das Internat abbreche. Sie sagten, ich sei zu weich und würde den Sprung nicht schaffen. Glücklicherweise hatte ich mit Edgar Holtick einen Trainer, der sich massiv dafür eingesetzt hat, dass ich in die B2 übernommen wurde.
Wie bewerten Sie Fußballinternate aus heutiger Sicht?
Höwedes: Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass auf Fußballinternaten alles schlecht ist. Zu mir passte diese Art Schule einfach nicht, zumal das Projekt damals noch nicht ausgereift war. Ich bin sicher, dass die Förderung heute besser ist als noch vor 15 Jahren.
Haben Sie in der C- oder B-Jugend schon Leistungsdruck verspürt?
Höwedes: Nein, ich hatte zwar den Wunsch, Fußballprofi zu werden, habe mir aber nie Druck gemacht. Ich habe es einfach geliebt, Fußball zu spielen. Zum Glück wurde ich von meinem Vater bedingungslos unterstützt. Er hat die Dinge zwar kritisch mit mir analysiert, war aber gleichzeitig mein größter Unterstützer. Von damaligen Mitspielern habe ich immer wieder mitbekommen, dass viele Väter enormen Druck ausüben, weil sie ihre Söhne als große Hoffnung sehen, an Geld zu kommen. Manche Väter leben den Traum mehr als die Jungs selbst. Bei mir war es komplett anders. Niemand aus der Familie saß mir im Nacken oder hat mir Vorträge gehalten.
Benedikt Höwedes über Norbert Elgert
Abgesehen von großen Titeln oder Siegen: Welchen Moment Ihrer Jugendzeit haben Sie als besonders schön in Erinnerung?
Höwedes: Zwischenmenschlich hatte ich eine tolle Beziehung zu meinem damaligen C-Jugendtrainer Edgar Holtick und ich werde ihm immer dankbar sein, dass er sich so sehr für mich eingesetzt hat. Auch die A-Jugend-Zeit unter Norbert Elgert hat mich enorm geprägt. Unter ihm habe ich gelernt, meinen Mann zu stehen und Verantwortung zu übernehmen. Neben dem Fußball wurden uns auch wichtige Werte vermittelt.
Was macht Elgert so besonders?
Höwedes: Der Zusammenhalt, den der Trainer von uns verlangt hat, war der Hammer. Auch wenn es im Nachhinein ein bisschen belächelt wird: Wir haben Teamcredos erstellt, nach denen ich in den zwei Jahren wirklich gelebt habe. Der Teamgedanke, sprich, die Bereitschaft, sich jederzeit für die Mitspieler aufzuopfern, wurde nicht nur aufs Papier geschrieben, sondern von jedem in jeder Sekunde gelebt. Norbert Elgert hat es vorgelebt und ich bin für den Trainer durchs Feuer gegangen. Wir haben im ersten A-Jugend-Jahr jedes Turnier gewonnen - ob in der Halle oder draußen, sind Westdeutscher Meister und Deutscher Meister geworden. Das lag nicht nur an guten Spielern wie Mesut Özil oder Ralf Fährmann, sondern auch am brutalen Zusammenhalt.
Bestand nach der Meisterschaft die Gefahr, dass ein Teil des Teams abhebt, als es in Richtung Profibereich ging?
Höwedes: Ich kann nur für mich sprechen, aber mir ist es nicht schwergefallen, auf dem Boden zu bleiben. Elgert hat immer versucht, uns klarzumachen, dass wir noch nichts erreicht haben und der Sprung zu den Profis riesig ist. Spieler wie Marcelo Bordon, Mladen Krstajic, Dario Rodriguez und Heiko Westermann waren zu meiner Zeit ganz klar vor mir. Ich hatte überhaupt nichts zu melden, musste gut trainieren, die Klappe halten und mich hinten anstellen. Heutzutage ist das anders. Da kommen 18-Jährige hoch und spielen direkt. In der Anfangszeit habe ich neben dem Training noch mein Abitur gemacht. Es war knüppelhart, aber ich habe mich durchgebissen. Rückblickend hat es mich als Fußballer stärker gemacht, mich durch solche Phasen kämpfen zu müssen.
Welche Rolle hat Materialismus in der A-Jugend gespielt?
Höwedes: Gerade in der Übergangszeit zwischen A-Jugend und den Profis ist Materialismus in der Kabine ein großes Thema gewesen. Ich erinnere mich gut, dass Norbert Elgert mal mit mir an den Autos der Profis vorbeigegangen ist und gesagt hat: "Schöne Autos hier, oder?". Dabei wollte er mir vermitteln, dass mich ein teures Auto nicht zu einem besseren Menschen oder besseren Spieler macht. Damit hat er komplett recht. In der A-Jugend fuhr ich einen Ford Fiesta, habe mich dann aber mit 20 ausprobiert und mir ein teures Auto zugelegt.
Ihren Audi S5 haben Sie nach wenigen Wochen wieder verkauft.
Höwedes: Ich habe mich schnell für das Auto geschämt und gemerkt, dass das nicht meine Welt ist. Autos waren mir nie wichtig, ich habe als junger Profi aber anfangs versucht, mit den anderen mitzuhalten. Wenn in der Kabine über Autos, Uhren oder Designerklamotten gesprochen wird, will man mit 20 nicht zugeben, dass man davon keine Ahnung hat. Ich wollte kein Außenseiter sein, sondern mitschwimmen. Man muss Fehler machen, um zu merken, was man für richtig und falsch hält.
Gab es in der Kabine andere Spieler, die keinen Wert auf materielle Dinge gelegt haben?
Höwedes: Ich glaube nicht, nein.
Warum definieren sich derart viele Fußballer über Luxusgüter?
Höwedes: Im Profifußball kommt man schon in jungen Jahren an sehr viel Geld. Häufig verdient man schon mit 18 oder 19 das Doppelte seines Vaters. Das ist ein komplett merkwürdiges Gefühl. All meine Freunde haben damals eine Ausbildung gemacht oder studiert und hatten dementsprechend fast gar kein Geld. Zu meiner Zeit haben die meisten Profis mit 18 zwischen 2.000 und 10.000 Euro verdient - vielleicht sogar noch mehr. Da ist es ganz normal, dass man sich von dem Geld etwas Schönes kaufen und sich belohnen will. Bis zum ersten Profivertrag musste man diesem großen Traum alles unterordnen, ständig Freunden absagen und auf vieles verzichten. Eine erste Bestätigung für das Erreichte kann man sich schnell über materielle Dinge holen. Wenn man dann sieht, dass es das Umfeld im Profifußball genauso macht, denkt man, es gehöre dazu und sei normal. Einige Jungs kommen aus ärmlichen Verhältnissen und möchten sich Dinge leisten, die sie sich vor dem ersten Vertrag niemals leisten konnten. Teilweise unterstützen sie noch Teile der Familie im Ausland oder schicken Geld in ihren Heimatort. Wer derart viel gibt, hat auch das Recht, sich selbst etwas zu leisten.
Höwedes: "Man muss wieder ein normales Leben führen"
Ist es dementsprechend verständlich, dass viele Fußballer in einer Blase fernab der Realität leben?
Höwedes: Als Fußballer steht man brutal in der Öffentlichkeit. Gerade, wenn man bei Vereinen wie Schalke, Dortmund oder Bayern spielt. Tausende Leute beobachten und beurteilen einen anhand von Oberflächlichkeiten wie Kleidung, Autos oder den Leuten, mit denen man abhängt. Dadurch kapselt man sich etwas ab, bleibt unter Fußballern oder anderen wohlhabenden Leuten. Das ist der Grund, warum viele Fußballer kaum noch am normalen Leben teilnehmen, was sehr schade ist. Viele vergessen, dass die Fußballkarriere endlich ist. Nach zehn bis 15 Jahren muss man zwangsweise wieder ein normales Leben führen. Erst nach der Karriere damit anzufangen, ist deutlich schwieriger als schon früh zu erkennen, dass man sich von Materialismus und Oberflächlichkeit nicht blenden lassen sollte. Man sollte nicht versuchen, in eine Rolle zu schlüpfen und sich zu verstellen, nur, weil man glaubt, mit anderen mithalten zu müssen. Ich habe einen Weg gefunden, der meinem Charakter entspricht, aber das heißt nicht, dass er für jeden der richtige ist. Jeder Mensch sollte sich selbst treu bleiben - und wenn jemand darauf steht, teure Autos zu fahren, ist es vollkommen okay.
gettySie waren schon mit 23 Jahren Kapitän auf Schalke. Haben Sie in dieser Führungsrolle versucht, Einfluss auf die jüngeren Spieler zu nehmen und ihnen ähnliche Werte zu vermitteln, wie sie Elgert Ihnen einst vermittelt hat?
Höwedes: Ich bin jemand, der grundsätzlich viel kommuniziert - besonders mit den Jungs, die gerade aus der Jugend hochkommen. Trotzdem glaube ich, dass ich zu früh und zu jung Kapitän auf Schalke geworden bin, weil wir Spieler wie Raul, Jermaine Jones, Christoph Metzelder oder Klaas-Jan Huntelaar in der Mannschaft hatten, die damals gestandene Profis waren. Ich musste mich in der Mannschaft vor diesen Alphatieren erst noch behaupten. Als Kapitän sind Reife und Erfahrung sehr wichtig. Die Verantwortlichen hatten damals das Ziel, dass ich an meiner Rolle wachse und lerne, noch mehr Verantwortung zu übernehmen. Rückblickend hätten mir ein oder zwei Jahre ohne Binde gutgetan. Mich hat es zwar mit unheimlich viel Stolz erfüllt, Schalke-Kapitän zu sein. Aus heutiger Sicht war es aber nicht der richtige Schritt.
Mit dem Kapitänsamt wurden Sie zu einem zentralen Gesicht des Vereins. Draxler sagte uns zuletzt im Interview, dass ihm der damit verbundene Druck irgendwann zu groß wurde. Wie war es bei Ihnen?
Höwedes: Ich kann gut nachvollziehen, dass es für Jule sehr schwer war. Er war der Hoffnungsträger des Klubs. Jeder hat von ihm erwartet, dass er etwas Besonderes macht. Er sollte Tore schießen und vorbereiten. Hat er das in einem Spiel nicht getan, wurde er für Misserfolge verantwortlich gemacht. Ich dagegen wurde als Verteidiger ganz anders wahrgenommen. Obwohl ich als Kapitän auch für Dinge verantwortlich gemacht wurde, auf die ich persönlich keinen Einfluss hatte, war der Druck auf mich deutlich geringer. Auf Schalke schwankt das Umfeld sehr stark zwischen purer Euphorie und harter Kritik, dennoch hatte ich immer Verständnis für die Fans. In meinem Bekanntenkreis gibt es zahlreiche Schalke-Fans und auch ich habe das Ganze aus der Fanbrille gesehen. Wenn die Mannschaft nicht kämpft, dürfen die Fans unzufrieden sein. Die Leute geben teilweise ihr letztes Geld für Schalke 04 aus und räumen ihr Konto leer, um sich Tickets zu kaufen.
Nach dem Titel bei der U21-Europameisterschaft 2009 sind Sie allein nach Kopenhagen gereist, um dort ein wenig vom Fußballgeschäft abzuschalten. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Höwedes: In meinen ersten Jahren bei den Profis wurde mir vom Klub und von meinen Beratern sehr viel abgenommen. Ich hatte das Gefühl, nichts mehr selbst machen zu müssen - und das ging mir gegen den Strich. Ich musste einfach mal raus, also bin ich nach Kopenhagen geflogen und habe dort in einem Hostel mit acht Fremden übernachtet. Es waren Amerikaner und Kanadier dabei. Auf dem Zimmer kommt man ins Gespräch, trinkt etwas und geht zusammen in die Stadt. Ich musste selbst Verantwortung übernehmen und Dinge planen.
Wird Profis zu viel abgenommen?
Höwedes: Spieler werden immer mehr verhätschelt. Junge Spieler, die zu den Profis hochkommen, werden immer unselbstständiger, weil sie nichts selbst organisieren müssen. Irgendwann kommt aber ein Zeitpunkt, an dem sie sich selbst um alltägliche Dinge kümmern müssen, von denen sie dann keine Ahnung haben. Es ist wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung, dass man aus seiner Komfortzone ausbricht.
Matthias Sammer hat mal erzählt, dass er beim Einkaufen mit seiner Frau völlig überrascht war, wie ein Supermarkt von innen aussieht. Er sagte: "Dass es so viele verschiedene Nudelsorten zu kaufen gibt, hätte ich nicht für möglich gehalten."
Höwedes: (lacht) Man wird in diese Richtung getrieben, wenn man sich nicht aktiv gegen eine solche Entwicklung wehrt. Es gibt viele Fußballer, die sehr reflektiert und selbstständig sind und wissen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Trotzdem gibt es auch genug Jungs, die sich zu viel abnehmen lassen.
Höwedes: "Hatte die Vision, Großes mit Schalke zu erreichen"
Zu Ihrer Zeit auf Schalke hatten Sie mehrfach die Möglichkeit, den Klub zu verlassen. Bei welchem Klub wären Sie schwach geworden?
Höwedes: Ich hatte die Vision, etwas Großes mit Schalke zu erreichen. Mein großes Ziel war es, auf Schalke Deutscher Meister zu werden oder zumindest noch einmal den Pokal zu holen. Angebote von anderen Klubs waren mir wirklich egal. Ich war und bin der festen Überzeugung, dass ein Titel mit Schalke viel mehr wert ist als ein Titel mit Bayern München. Dafür habe ich gelebt und hart gearbeitet - leider ist es nicht mehr Realität geworden.
Vor Ihrem Abschied aus Gelsenkirchen haben Sie immer betont, dass man sich dem großen Ganzen unterordnen muss. Nur ist das leichter gesagt als getan. Was hat die Ausbootung auf Schalke mit Ihnen gemacht?
Höwedes: Es tat richtig weh, ich war sehr enttäuscht. Vor allem die Art und Weise, wie die Trennung abgelaufen ist, hat mich gekränkt. Sportlich kann man über alle Entscheidungen diskutieren, aber ich hätte nie eine Stammplatzgarantie oder ähnliches gefordert. In jedem Spiel sollen die besten elf Spieler aufgestellt werden, und wenn ich nicht dabei bin, akzeptiere ich das.
Kurz vor Transferschluss ging es 2017 für Sie zu Juventus. Was hat Sie in der Anfangszeit bei diesem internationalen Spitzenklub am meisten überrascht?
Höwedes: Der Teamspirit bei Juve war gigantisch. Es hat mich extrem beeindruckt, wie die Jungs miteinander umgegangen sind. Als ich zum ersten Mal in die Kabine kam, war ich wirklich aufgeregt. Dann kamen absolute Legenden wie Gigi Buffon oder Giorgio Chiellini strahlend auf mich zu, küssten mich links und rechts und freuten sich, dass ich da bin. Das war ein überwältigendes Gefühl und hat mich echt umgehauen. Juventus ist eine große Familie und ich wurde komplett respektiert und akzeptiert. Obwohl ich nicht viel gespielt habe, wurde ich dort als Person und Mensch sehr geschätzt. Das rechne ich jedem einzelnen Mitarbeiter und Spieler extrem hoch an.
Was konnten Sie von Spielern wie Chiellini oder Buffon noch lernen?
Höwedes: Obwohl beide schon alles erreicht und zahllose Titel gewonnen haben, werden sie nie satt und haben den Hunger nicht verloren. Sie wollen jeden Tag erfolgreich sein. Das hat mich beeindruckt. Ich kann mich noch gut an eine Kabinenansprache von Buffon erinnern. Obwohl er in diesem Spiel nur auf der Bank saß, hat er eine sehr emotionale und fast poetische Rede gehalten. Bei Juve wurde der Teamgedanke gelebt - auch von Spielern, die auf der Bank saßen. Es gab keine Egos, nur das Team und das war großartig.
Wie gehen die Profis in Italien mit dem Thema Materialismus um?
Höwedes: Juventus spielt sowohl sportlich als auch wirtschaftlich in einer komplett anderen Liga als Schalke. Im Jahr bevor ich kam, hat jeder Spieler als Dank für die Meisterschaft einen Ferrari bekommen. Wenn er kein Auto wollte, gab es eine Geldprämie in entsprechender Höhe. Das zeigt schon, welches Niveau dort herrscht. Trotzdem gab es in der Kabine keine Missgunst oder Angebereien.
Was haben Sie aus der Zeit in Italien mitgenommen?
Höwedes: Die Freundschaften, die ich - auch außerhalb des Platzes in der Sprachschule - geschlossen habe, bestehen bis heute. Ich hatte wirklich eine gute Zeit und durfte die Erfahrung machen, bei einem der größten Klubs der Welt zu spielen.
Nach einem Jahr in Turin unterschrieben Sie 2018 bei Lokomotive Moskau. Wie haben Sie sich eingelebt?
Höwedes: Sehr gut. Die Leute haben hier eine andere Denkweise und es gilt: Man zeigt, was man hat. Aber die Jungs hier wissen inzwischen, dass ich andere Wertevorstellung habe als die meisten Profis. Anders als in Italien und Deutschland fällt mir bei Lok auch die Kommunikation in der Kabine schwer, da ich noch kein gutes Russisch spreche und ein Großteil der Russen Probleme mit Englisch hat.