Ob Josep Guardiola i Sala ein Anhänger Friedrich Nietzsches Idee der Ewigen Wiederkehr des Gleichen ist, den von ebenjenem philosophischen Gedanken inspirierten tschechischen Roman "die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" gelesen hat, ist nicht übermittelt.
Guardiolas Entscheidungen in der jüngeren Vergangenheit lassen zumindest darauf schließen. Die Ereignisse scheinen sich unendlich oft zu wiederholen, es mutet an, als bewerte er die Leichtigkeit als zu schlicht, ja als nahezu unerträglich. Das Besondere, das letztlich Komplizierte sollte im Champions-League-Finale triumphieren. Dafür entledigte Guardiola sich der konventionellen, aber zuletzt erfolgreichen Fesseln - und verhedderte sich. Mal wieder.
Guardiola hätte Mission erfolgreich beenden können
Nachdem er mit Manchester City viermal in Folge verhältnismäßig frühzeitig aus der Königsklasse ausgeschieden war (einmal im Achtfelfinale, dreimal im Viertelfinale) und sich jeweils mit enormer Kritik konfrontiert sah, führte der perfektionistische Feingeist sein Team in dieser Spielzeit nicht nur unnachahmlich souverän zum Premier-League-Titel, sondern endlich ins Endspiel des prestigeträchtigsten Fußball-Wettbewerbs der Welt. Die vom Scheichkonsortium diktierte Pep'sche Mission in der englischen Industriestadt stand unmittelbar vor der erfolgreichen Beendigung.
Die Vorwürfe, sich regelmäßig in großen, entscheidenden Spielen zu vercoachen, fragwürdige Aufstellungen oder bizarre taktische Marschrouten zu wählen, waren bis zum verhängnisvollen Samstagabend in Porto verebbt. Doch der Schein, dass Guardiola sich von seiner Experimentierfreudigkeit losgesagt hatte, trog.
Ausgerechnet im wichtigsten Spiel der Saison, ausgerechnet gegen seinen persönlichen Angstgegner FC Chelsea (kein Team brachte Guardiola mehr Niederlagen bei (7)) ging er ohne Not ein Wagnis ein, veränderte seine Mannschaft elementar. Ganz so, als müsse er sich selbst und allen Kritikern beweisen, dass nichts von seiner Brillanz, der Genialität, die ihm zu einem Mythos machte, eingebüßt hat.
Guardiola beruft "Torjäger" Gündogan auf die Sechs
Guardiola verzichtete gegen die Blues erst zum zweiten Mal in einer 61 Pflichtspiele umfassenden Saison sowohl auf Fernandinho als auch auf Herzstück Rodri, der den Cityzens über weite Strecken vor allem in der Defensive Ordnung und Stabilität beschert hatte (kam in 53 Pflichtspielen zum Einsatz).
Statt einen der beiden Sechser aufzubieten, setzte der Katalane auf ein - rückblickend - skurriles Gebilde aus sechs technisch hochveranlagten Mittelfeld- und Außenbahnspielern. Einen "echten" Stürmer suchte der Zuschauer dabei indes erwartungsgemäß vergeblich.
Ilkay Gündogan wurde nach hinten beordert, womit Guardiola sich selbst einer Waffe beraubte. Natürlich ist Gündogan die Position vor der Abwehr nicht fremd, der deutsche Nationalspieler hat während seiner Karriere hinlänglich bewiesen, dass er imstande ist, den abräumenden Strategen zu geben, allerdings blühte er in dieser Saison vor allem in offensiver Position auf. Mit wettbewerbsübergreifend 17 Toren steuerte der gebürtige Gelsenkirchener die meisten Treffer aller City-Spieler bei.
Die Versetzung Gündogans und das gleichzeitige Fehlen Rodris machten sich deutlich bemerkbar, Citys Ausnahmekönner waren überfordert. Im Spiel nach vorne liefen sich die Ballkünstler um Raheem Sterling, Phil Foden, Bernardo Silva und Kevin De Bruyne immer wieder fest, war die Kugel einmal weg, wofür meistens der überragende N'Golo Kante auf Seiten der Londoner verantwortlich zeichnete, klaffte im Mittelfeld eine Lücke, die Gündogan nicht alleine zu schließen vermochte.
FC Chelsea clever im Umgang mit Guardiolas Pressing
Frühes Pressing der Guardiola-Schützlinge umging Chelseas Hintermannschaft souverän, die Dreierkette verlagerte das Spiel mal mit kurzen, mal mit langen Bällen auf die vollbesetzten Außenbahnen und befreite sich aus einem drohenden Klammergriff.
Reece James auf der rechten und Ben Chilwell auf der linken Seite sorgten als hochstehende, offensivausgerichtete Außenverteidiger für ein Übergewicht, Kai Havertz und Mason Mount wirbelten als Kreativlinge jeweils davor.
Das entscheidende Tor in der 42. Minute entstand dementsprechend aus einer quasi typischen Situation: Mount wurde auf links in der eigenen Hälfte bedient, hatte ausreichend Zeit und Raum, sich etwas zu überlegen und wählte einen traumhaften Pass in die Tiefe, der vom freistehenden Havertz, seinerseits davon profitierend, dass Timo Werner Gegenspieler Ruben Dias weggelockt hatte, dankend aufgenommen und glänzend veredelt wurde.
Zuvor und im Nachgang des Havertz-Treffers fiel ManCity nichts ein, lediglich ein Fernschuss von Mahrez in der siebten Minute der Nachspielzeit hätte den Spielverlauf beinahe auf den Kopf gestellt.
Guardiola: "Wir waren brillant und mutig"
Zwischenzeitlich war der englische Meister auch noch vom Pech heimgesucht worden, verlor Superstar De Bruyne, der nach einem Zusammenprall mit Antonio Rüdiger minutenlang behandelt werden musste. Und so stand Guardiola nach Abpfiff alleine und gedankenverloren auf dem Rasen, die Silbermedaille, das Symbol des ersten Verlierers, das er komischerweise geküsst hatte, nachdem es ihm verliehen worden war, baumelte traurig um seinen Hals. Angebrachte Selbstkritik ließ er jedoch im Anschluss vermissen.
"Wir waren brillant und mutig", sagte er, "speziell in der zweiten Halbzeit" habe seine Mannschaft eine starke Leistung gezeiget. Warum er Gündogan nach versetzt hatte?
"Ich habe eine Entscheidung getroffen. Für einen sehr guten Spieler", sagte Guardiola und ergänzte: "Gündogan spielt seit Jahren auf dieser Position. Er war für die feinen Momente da, um Tempo reinzubringen, gute Bälle zu spielen und zwischen die Linien zu kommen." Dies habe der 30-Jährige "außergewöhnlich" gemacht. "Ich habe mein Bestes gegeben bei der Aufstellung. Genau wie letzte Saison gegen Lyon. Ich wollte die beste Aufstellung, um zu gewinnen. Das wissen die Spieler", schloss Guardiola ab.
Presse ätzt: "Stinkbombe", "Pep versaut es schon wieder"
Genau wie letzte Saison gegen Lyon hatte er nicht die beste Aufstellung gefunden, sondern in seinem Streben nach Perfektion, nach dem taktischen Clou, einen Fehler begangen. Mit einem Mal stürzte sich die unerbittliche englische Presse wieder auf den polarisierenden Übungsleiter. "Pep Guardiolas Glücksspiel scheitert auf der allergrößten Bühne", schrieb die eher gemäßigte Times.
Das Boulevardblatt The Sun wählte hingegen drastischere Worte: "Guardiola übertrat die Schwelle zwischen Genie und Wahnsinn und entschied, dass ein Champions-League-Finale der richtige Moment für eines seiner Verrückten-Professor-Experimente ist. Am Ende baute er eine Stinkbombe zusammen." Die Daily Mail hielt es kürzer: "Pep versaut es schon wieder."
Guardiola muss sich die Frage gefallen lassen, warum er pünktlich zum Endspiel in alte Muster verfiel, die ihm nun schon mehrfach zum Verhängnis geworden waren, warum er wieder unbedingt von Altbewährtem abrücken musste. Der Mythos bröckelt, weil sich aufseiten der Kultfigur, die unzweifelhaft zu den Größten ihrer Zunft gehört, eine gewisse Lernresistenz und Sturheit eingeschlichen hat - und das ist in einer offensichtlich ewigen Wiederkehr.