Carlo Ancelotti ist ein ausgeglichener Mensch, ein Ruhepol. Sein Charisma, seine Ausstrahlung wurde in den letzten Wochen in München hymnisch besungen. Der 57-jährige Italiener ist kein Typ der großen Emotionen, es kommt bei ihm schon eher auf die kleinen Details an.
Als Ancelotti am Mittwoch gut eine halbe Stunde nach Abpfiff das Podium der Pressekonferenz betrat, blies er die Backen auf und pustete erstmal gut durch. Es war ihm anzumerken, dass das Frage-Antwort-Spiel in den kommenden Minuten keine angenehme Aufgabe für ihn werden würde.
Die Enttäuschung war dem Trainer des FC Bayern ins Gesicht geschrieben. Wie nur hatte sein Team das Spiel so aus der Hand geben können? Warum hat sein Team nach der Gelb-Roten Karte jegliche defensive Stabilität verloren? Wie um alles in der Welt war es möglich, dass der FC Bayern am Ende in einem Heimspiel über ein 1:2 froh sein musste?
Einschnitt in der Ära Ancelotti
Es gab da durchaus ein paar Themen aufzuarbeiten im Nachgang eines Spiels, das einen ersten Einschnitt in die Ära Ancelotti beim FC Bayern bedeutet. Bisher war der Maestro mit seinem Stil sehr gut gefahren. Er hat die Bayern so gut wie zum fünften Meistertitel in Folge gecoacht, sie ins Pokal-Halbfinale und auch sicher ins Viertelfinale der Champions League geführt.
Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über Ancelottis Philosophie zu diskutieren, oder sie ein tausendstes Mal mit der Herangehensweise von Pep Guardiola zu vergleichen, oder Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Sicher ist aber, dass die Verantwortlichen erstmals mit einem sportlichen Kater aufwachen werden am Donnerstag.
Zuletzt hatte noch ein 4:1 im Bundesligagipfel mit Borussia Dortmund für großes Selbstvertrauen an der Säbener Straße gesorgt. Aber dann zogen auf einmal ein paar dunkle Wolken in Form von Verletzungen auf. Die seit Wochen überragenden Robert Lewandowski und Mats Hummels fehlten gegen Real.
Hummels' Ausfall war mit dem nach langer Pause genesenen Jerome Boateng noch einigermaßen zu kompensieren, auch wenn dem Nationalverteidiger die fehlende Spielpraxis noch deutlich anzumerken war. Aber das Fehlen Lewandowskis schmerzte die Bayern sehr.
Müller kein Lewandowski-Ersatz
Ancelotti hat in dieser Saison bisher durchaus ordentlich rotiert, nur Lewandowski spielte eigentlich immer. Der Pole war der Fixpunkt im Offensivspiel, eine mögliche Verletzung nicht erst seit Samstag ein Damoklesschwert.
Beklagen sollten sich die Münchner darüber nicht, sie haben sich in Absprache mit dem Trainer dafür entschieden, mit nur einem echten Mittelstürmer in die Saison zu gehen. Im Notfall könne ja auch Thomas Müller diese Position spielen. Sicher, Müller hat das schon mehrmals gespielt, aber in dieser Spielzeit hatte er kaum Möglichkeiten, ein Gefühl für das Spiel im Sturmzentrum zu gewinnen.
Auch deshalb stand Müller gegen die durch Nacho ebenfalls nur notdürftig geschlossene Innenverteidigung der Königlichen auf verlorenem Posten. Auch diese Frage muss sich Ancelotti gefallen lassen: Ob es die richtige Entscheidung war, Müller einfach Lewandowski spielen zu lassen und nicht kleine Anpassungen vorzunehmen, die Müllers Eigenschaften mehr entgegengekommen wären?
Was wäre wenn?
Die Bayern werden im Zuge dieser Erkenntnis sicher darüber nachdenken, ob und wie sie ihren Kader auf der Stürmerposition verstärken. Nicht jeder kann und mag sich wie Real Madrid einen 30-Millionen-Euro-Stürmer wie Alvaro Morata als Premium-Backup leisten.
Die Bayern haben wie in den letzten Jahren schmerzlich zu spüren bekommen, dass es in den K.o.-Duellen, vor allem gegen die spanischen Giganten, darauf ankommt, alle Mann fit und in Form an Bord zu haben.
Und trotzdem bietet die Diskussion über die Personalsituation wie so oft im Fußball nur einen Teil der Wahrheit. Ein anderer ist nämlich der, dass die Bayern ja zur Pause auch 2:0 hätten führen können, wenn Arturo Vidal den (unberechtigten) Handelfmeter verwandelt hätte. Wer weiß, ob Real dann in der Art zurückgekommen wäre oder ob Bayern vor Selbstvertrauen geplatzt wäre.
Platzverweis und fragwürdiger Wechsel
Die "kleinen Details" hat deshalb Ancelotti hinterher als maßgeblich für den Spielverlauf eingestuft. Dazu zählte der Trainer auch die Gelb-Rote Karte für Javi Martinez. Bis dahin war es ein ausgeglichenes Duell. In Phasen bestimmten beide Teams abwechselnd das Geschehen.
Der Platzverweis kippte die Partie in eine Richtung, da waren sich alle einig. Das lag zum einen an der großen Qualität und dem zunehmenden Selbstvertrauen der Madrilenen, aber auch an der defensiven Strukturlosigkeit der Bayern-Defensive in Unterzahl.
Es muss den Italiener Ancelotti doppelt geschmerzt haben, wie wenig wehrhaft seine Zehn in der letzten halben Stunde war. Ob er den Wechsel Juan Bernat für Xabi Alonso noch einmal machen würde, wollte der Trainer nicht beantworten, aber seine Idee dahinter war: "Mit zehn gegen elf mussten wir auf Konter spielen und ich wollte diese Qualität mit Thiago auf dem Platz behalten."
Real: 13 Torschüsse in 30 Minuten
Aufgegangen ist dieser Plan nicht. Nach dem Platzverweis und der Auswechslung Alonsos gab Real in 30 Minuten 13 Torschüsse ab (sieben davon aufs Tor) - inklusive des Treffers von Cristiano Ronaldo zum 2:1. Bayern kam nur noch zu zwei Versuchen, einer davon aufs Tor. Fatale Zahlen, die auch Ancelotti bei einer solch erfahrenen und auf höchstem Niveau erprobten Mannschaft ins Grübeln bringen werden.
Am Ende konnten sich die Bayern glücklich schätzen, dass die Madrilenen aus ihrer Überlegenheit nicht mehr Kapital schlagen konnten wie beim 4:0 vor zwei Jahren. "We are still alive" sagte Ancelotti, der im Rückspiel den Einsatz von Lewandowski und Hummels in Aussicht stellte. Mit einem weiteren Tor hätte Real Bayerns Chance aufs Halbfinale "killen" können.
Und so hoffen die Bayern dieses Mal selbst auf den alten Spruch von Juanito, dass 90 Minuten im Bernabeu besonders lang seien. Oder wie es Müller formulierte: "Wir brauchen kein Fußballwunder, aber natürlich eine überragende Leistung."
FC Bayern - Real Madrid: Die Statistik zum Spiel