Sechs Minuten lagen beim Champions-League-Spiel des BVB gegen Sevilla zwischen den beiden Toren von Erling Haaland zum 2:0, weil Spielszenen vom VAR überprüft wurden. Diese Unterbrechung war nicht nur unnötig, in dieser Form riskiert der Videoschiedsrichter auch die Liebe zum Spiel. Ein Kommentar von SPOX-Redakteur Jochen Tittmar.
Ohne sogenannten Claim kommt der heutige Fußball längst nicht mehr aus. Mittlerweile haben sich sehr viele Vereine knackige Phrasen zu Eigen gemacht, die das besondere Gefühl für Klub XY ausdrücken sollen. Auch die FIFA steht dem in nichts nach und es mutet freilich außerordentlich absurd an, wenn der Weltverband, der eine auf einem Berg von über 6000 Leichen aus dem Boden gestampfte Weltmeisterschaft in Katar blindlings toleriert, mit dem Slogan "For the love of the game" für sich wirbt.
Aus Liebe zum Spiel also. Damit sollen Fans und Zuschauer, heißblütig wie neutral, angesprochen werden. Doch diese Liebe bekommt zunehmend von zahlreichen Umfragen unterfütterte flächendeckende Risse, die auf ein Sammelsurium fragwürdiger Geschehnisse zurückzuführen sind: Zum Beispiel eben auf eine im europäischen Winter in heruntergekühlten Stadien in Katar ausgetragene WM, aber auch auf den "Freiflugschein" für Fußballprofis quer über den Globus inmitten einer weltweiten Pandemie. Oder auf den VAR.
Rekordverdächtige sechs Minuten lagen beim Champions-League-Spiel des BVB gegen Sevilla zwischen den beiden Toren von Erling Haaland zum 2:0. Dieser Satz hört sich bereits merkwürdig genug an, doch so lange dauerte der Einsatz des Videoschiedsrichters, um in diesem Fall gleich drei Szenen zu bewerten. Alleine drei Minuten vergingen zwischen dem Trikotzupfer an Haaland im Strafraum und dem schließlich gepfiffenen Elfmeter, der noch dazu aufgrund des sich zu früh von der Linie bewegenden Torhüters wiederholt werden musste.
Das ist deutlich zu lang und für Anhänger und Zuschauer, deren Wichtigkeit rund um die Geisterspiele während der Corona-Krise beinahe bis zum Erbrechen betont wird - man spiele ja überall auch für die Fans, so heißt es -, nicht mehr vermittelbar.
gettyAnzahl und Dauer der Unterbrechungen sind Gift für das Spiel
Es gibt seit der Existenz des VAR genug Beispiele, in denen sein Einsatz falsche Schiedsrichterentscheidungen entlarvt und damit das Spiel analog zu den ihm zugrundeliegenden Regeln gerechter gemacht hat. Dies war stets eines der Hauptargumente für die Einführung des Videoschiedsrichters.
Es gibt jedoch auch genügend Fälle, in denen das nicht geschah und der Fußball lediglich um diffuse, kuriose und schwer verständliche Momente bereichert wurde. Das Regelwerk ist üppig und in seinen Details sicherlich nicht gleichermaßen bei jedem der Rezipienten präsent. Das ist auch nicht das Problem, VAR-Einsätze haben gewiss schon bei vielen für eine Erhellung in Regelfragen gesorgt.
Das Problem ist, dass Dauer und Anzahl der Unterbrechungen Gift für das Spiel sind. Auch sie müssten reglementiert werden, es muss ein Maximum her. Allein deshalb, um den Verlust des hoch emotionalen Torjubels, der mit der Einführung des VAR nach und nach verloren gegangen ist und von einem weniger freudigen Zaudern ersetzt wurde, aufzufangen.
VAR-Eingriff gegen Haaland war unnötig
Der Fall am Dienstagabend in Dortmund trieb das VAR-Prozedere gewissermaßen auf die Spitze, da der Ausgangspunkt der sechsminütigen Unterbrechung eine typische Kann-aber-muss-nicht-Szene war, wie sie dutzendfach vorkommt und beispielsweise erst am Wochenende beim Spiel der Bayern gegen den BVB (Zweikampf zwischen Leroy Sane gegen Emre Can vor dem 3:2) zum Aufreger wurde.
Hier war es unnötig vom Videoschiedsrichter, das resolute Einsteigen von Haaland gegen Fernando als klare Fehlentscheidung zu werten und damit ins Spiel einzugreifen. Dasselbe hätte er theoretisch tun können, als Thomas Delaney vor dem 1:0 einen ähnlich temperierten Zweikampf gegen Jules Kounde führte. Das tat er nicht, nachvollziehbar ist das nur schwerlich.
Die folgende Frage soll nun nicht die Parteilichkeit von Schiedsrichter Cüneyt Cakir in Frage stellen, sie soll vielmehr die Uneindeutigkeit offensichtlich werden lassen, die der VAR schafft: Wer kann sich mittlerweile denn noch wirklich sicher sein, ob Cakir nach Ansicht der Bilder das Tor von Haaland doch gegeben hätte, wenn er gewissermaßen als "Ausgleich" nicht auch einen Strafstoß für den BVB hätte pfeifen können?
VAR in dieser Form riskiert die Liebe zum Spiel
Der Schiedsrichter-Podcast "Collinas Erben" erklärte das Vorgehen auf Twitter: "Weil Cakir den Einsatz von Haaland als Foul bewertet hat, war kein Vorteil möglich. Da das Spiel nach der vorigen Strafraumszene nicht unterbrochen und fortgesetzt war, konnte der Einsatz gegen Haaland noch reviewt und mit Strafstoß geahndet werden." Das liest sich nachvollziehbar. Für die Mehrzahl der an diesem Sport Interessierten war es das in diesem Moment jedoch eher nicht, an der regeltechnischen Erklärung der Geschehnisse wären viele sicherlich gescheitert.
So stellt sich eine fast schon philosophische Frage: Wollen Fans und Zuschauer überhaupt die Komplexität des Regelwerks derart kleinteilig nachvollziehen? Wollen sie, dass das Spiel, das sie lieben, bis in Zentimeterbereiche ausgeschnitten wird, wie es die Technik den VAR-Reviews erlaubt?
Nein, sagen einem nicht nur das Gefühl oder sinkende Einschaltquoten der Nationalmannschaft. In der bestehenden Form macht der VAR den Fußball womöglich immer wieder ein Stückchen gerechter. Doch er riskiert enorm, dass die Liebe zum Spiel nach und nach stärker verloren geht.