"Das Bitterste, was einem passieren kann"

SPOX
16. Juni 201120:31
Michael Ballack: 98 Länderspiele für Deutschland, 42 Tore - keine TitelGetty
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Michael Ballack gehört nicht mehr zum Kader der deutschen Nationalmannschaft. Mit der Entscheidung von Joachim Löw endet beim DFB eine Ära. Eine Karriere zwischen Hoffnungsträger und ewigem Zweiten.

Ballacks DFB-Debüt war ein kompletter Reinfall. Inklusive Stromausfall und Spott von Günter Netzer. Vom Pleiten-Debüt in Bremen bis zum Tor des Jahres in Österreich, vom Sommermärchen bis zum Horror-Foul. SPOX fasst die wichtigsten Stationen von Michael Ballacks Nationalmannschaftskarriere zusammen.

Sein erstes Spiel

28.04.1999, Bremer Weserstadion, 0:1 gegen Schottland: Schlechter kann eine Karriere kaum beginnen. "Die Mannschaft hat so schlecht gespielt, dass die Schotten gar nicht anders konnten, als ein Tor zu schießen - die hatten das gar nicht vor!", sagte Günter Netzer im Anschluss an Michael Ballacks DFB-Debüt.

Sechs Minuten stand Ballack auf dem Platz, da kassierte Deutschland das entscheidende Gegentor. So hatte sich der damals 22-Jährige sein Debüt mit Sicherheit nicht vorgestellt. Noch viel weniger hätte er allerdings damit gerechnet, dass ihm gleich von zwei anderen Seiten die Show gestohlen wird: Und zwar von Horst Heldt und einer 63-Ampere-Sicherung.

Heldt glänzte in seinem ersten DFB-Spiel als Marco-Bode-Ersatz, die defekte 63-Ampere-Sicherung legte in der Halbzeitpause die komplette Flutlichtanlage lahm und verzögerte den Wiederanpfiff um 15 Minuten.

Für Nostalgiker die Startelf von damals: Lehmann - Matthäus, Wörns, Nowotny, Strunz - Jeremies, Hamann, Heinrich, Heldt - Neuville, Bierhoff. Wechsel: Ramelow für Jeremies, Kirsten für Bierhoff, Ballack für Hamann und Jancker für Strunz.

Erstes Turnier

EM 2000, Niederlande/Belgien: Eine ganz bittere Zeit für den deutschen Fußball - und ein denkbar unglückliches Turnier-Debüt für Ballack. Unter Erich Ribbeck geht die DFB-Elf (featuring Marko Rehmer, Dariusz Wosz und Paulo Rink) gegen Portugal sang und klanglos unter.

Die Bilanz nach drei teilweise blamablen Spielen: ein Tor, ein Punkt - und das Vorrunden-Aus als abgeschlagener Tabellenletzter. 63 Minuten stand Ballack dabei insgesamt auf dem Platz - und wurde beim verheerenden 0:3 gegen Portugals B-Elf auch noch zur Halbzeit ausgewechselt.

Die erste Sternstunde

14.11.2001, Dortmunder Westfalenstadion, 4:1 gegen die Ukraine: Neuer Trainer, neues Glück? Mit Rudi Völler an der Seitenlinie hat Ballack den ersten großen Auftritt im Nationaltrikot. Und das gleich auf der ganz großen Bühne.

Denn die Ausgangssituation hätte spannender nicht sein können: Noch nie hatte eine deutsche Auswahl aus sportlichen Gründen die WM-Teilnahme verpasst.

Bis jetzt. Denn nach Platz zwei in der Qualifikation geht es in den verhassten Playoffs gegen die Ukraine. Und die werden zur großen Ballack-Show. Schon im Hinspiel trumpft der Leverkusener auf, erzielt das wichtige 1:1 in Kiew - und legt dann in Dortmund noch einmal kräftig nach.

Ballack trieb seine Teamkollegen unentwegt an, erzielte zwei Tore und war der klare Star des Spiels.

"Es war seit langem wieder mal ein Fußballfest", sagt Ballack anschließend. Und noch viel entscheidender: Es ist die Geburtsstunde von Michael Ballack, dem Führungsspieler.

Das Bitterste, was man als Fußballer mitmachen kann

25.6.2002, Seoul, 1:0 im WM-Halbfinale gegen Südkorea: Nach der verpatzten Meisterschaft, der Niederlage im Pokal- und Champions-League-Finale mit Bayer Leverkusen soll die WM in Japan und Südkorea Ballacks Jahr retten. Und es scheint genau so zu kommen.

Der 25-Jährige ist neben Torhüter Oliver Kahn die Lebensversicherung der deutschen Mannschaft, erzielt die Siegtreffer im Viertelfinale gegen die USA und im Halbfinale gegen Südkorea. Alles sieht nach einem großen Finale aus, doch Ballack ist gelbgesperrt nicht dabei.

Kurz vor dem 1:0 unterbindet Ballack einen schnellen Gegenstoß der Koreaner mit einem Foul kurz vor dem Strafraum - und sieht Gelb. Seine zweite. "Das ist das Bitterste, was man als Fußballer mitmachen kann", sagt Ballack, während er die 0:2-Finalniederlage gegen Brasilien als Zuschauer verfolgt.

Call me Capitano!

18.8.2004, Wiener Ernst Happel Stadion, 3:1 gegen Österreich: Nach einem erneuten EM-Debakel inklusive Vorrunden-Aus tritt Rudi Völler zurück. Nachfolger Jürgen Klinsmann ernennt Ballack zum Kapitän - und der bedankt sich mit einem Sieg im ersten Spiel.

Das DFB-Team gewinnt unter seiner Regie dank dreier Treffer von Kevin Kuranyi gegen Österreich. Der Auftakt einer langen Kapitäns-Karriere: In insgesamt 55 Spielen wird Ballack die Nationalmannschaft aufs Feld führen.

Seite 2: Heim-WM, Zoff mit Bierhoff und Poldi, Boateng-Tritt

Home Sweet Home

WM 2006 in Deutschland: Was kann es Schöneres geben, als bei einer WM im eigenen Land das Team als Kapitän aufs Feld zu führen? Im ersten Spiel auch tatsächlich spielen zu können, zum Beispiel. Doch genau das kann Ballack nicht.

Beim letzten Testspiel vor der Heim-WM (3:0 gegen Kolumbien) verletzt er sich an der Wade und fällt damit gegen Costa Rica aus. Zwar beißt er in der Folge die Zähne zusammen, gibt eine Vorlage und trifft im Viertelfinal-Elfmeterschießen gegen Argentinien, doch das Sommermärchen endet für ihn in einem Meer aus Tränen.

Nach dem unglücklichen 0:2 in der Verlängerung des Halbfinals gegen Italien weint Ballack noch auf dem Platz.

Swoooosh!

EM 2008 in Österreich und der Schweiz: 121 Kilometer pro Stunde. Michael Ballacks Freistoß gegen Österreich bringt Deutschland ins Viertelfinale der EM - und wird später zum Tor des Jahres gewählt.

Doch was bringt es, wenn man gegen Österreich das entscheidende Tor schießt, gegen Portugal überragt und im Finale gegen Spanien trotz blutender Wunde weiterspielt, wenn man am Ende dann doch verliert? Schon wieder.

Das Endspiel-Trauma des Michael Ballack setzt sich fort: Zehnmal wurde er jetzt schon Zweiter. Mit 31 Jahren. Da hat sich einiges an Wut aufgestaut.

Plötzlich gestikuliert der Kapitän, brüllt und reckt den Arm zornig in Richtung von Oliver Bierhoff. Ballack ist so aufgebracht, dass Kevin Kuranyi und Co-Trainer Hansi Flick dazwischen gehen müssen. Der Haussegen hängt schief. Auch wenn weiterhin betont wird, dass es "keine Probleme" gäbe.

Klatsche von Poldi

1.4.2009, Millennium Stadium in Cardiff, 2:0 gegen Wales: Es ist der Aufreger der WM-Qualifikation. Die Akteure: Lukas Podolski und Michael Ballack. Der Tatort: Das Millennium Stadium in Cardiff. Die Tat: Die Ohrfeige der Nation.

Wir schreiben die 67. Spielminute, Ballack raunzt Podolski offenbar an, er solle sich gefälligst bewegen. Podolskis angebliche Antwort: "Halt's Maul! Lauf selber, du A...loch!" - plus eine stattliche Ohrfeige, die Lahm und Mertesacker zum Dazwischengehen animiert.

"Er ist ein junger Spieler, der noch viel lernen muss. Wenn ich eine taktische Anweisung gebe, hat er das zu befolgen und nicht noch handgreiflich zu werden", kontert Ballack.

Das Ergebnis: Bundestrainer Joachim Löw hält eine Ansprache, Poldi und Ballack schauen sich tief in die Augen. "Damit war die Sache gegessen", sagt Bierhoff. Offiziell jedenfalls.

Das letzte Spiel

3. März 2010, Allianz Arena München, 0:1 gegen Argentinien: Ballack führt die Nationalelf in seinem 98. Länderspiel zum 55. Mal als Kapitän aufs Feld. Dass es sein letzter Auftritt im DFB-Dress sein wird, kann er damals allerdings noch nicht ahnen.

Größter Aufreger bei der 0:1-Niederlage: Ballack trifft seinen Ex-Bayern-Teamkollegen Martin Demichelis so unglücklich mit dem Knie im Gesicht, dass dieser mit einem Jochbeinbruch ausgewechselt werden muss. Dafür, dass sich Ballack nicht entschuldigt, hagelt es Kritik.

"Was soll ich erwarten von Michael Ballack? Er ist ein großer Fußballer, aber über den Menschen Michael Ballack muss man nichts sagen. Ich bin enttäuscht. Wir haben drei Jahre zusammengespielt. Er hätte eine SMS schreiben, anrufen oder nach dem Spiel wenigstens einmal fragen können, wie es mir geht. Aber eigentlich war es keine Überraschung für mich, dass er sich nicht meldet", sagte Demichelis.

Der Tag, der den deutschen Fußball veränderte

15. Mai 2010, Wembley, FA-Cup-Finale: Ballack kämpft mit Chelsea um den englischen Pokal. Der Gegner: Der FC Portsmouth mit Kevin-Prince Boateng. Der ehemalige Berliner kommt gegen den Capitano viel zu spät und trifft ihn am Knöchel.

Die Folge: Ein Riss des Innenbandes und ein Teilabriss des Syndesmosebandes des Sprunggelenks. Und das Aus für die WM in Südafrika. Deutschland ist geschockt, die "ARD" zeigt eine Sondersendung zu Ballacks Verletzung und den Folgen.

In den folgenden Wochen wird der verletzte Capitano noch gefeiert wie ein Held. Als er bei "Wetten, dass ...???" auf Mallorca auf Krücken in die Stierkampfarena einläuft, erntet er frenetischen Beifall.

Doch der Schein trügt - in diesen Stunden beginnt längst der siechende Abschied.

Wo gehöre ich hin?

Juli 2010, WM in Südafrika: Wie schnell dieser vonstatten geht, zeigt die WM 2010. Hatte sich eine ganze Nation noch vor wenigen Wochen gefragt, wie man überhaupt ohne Michael Ballack auskommen könnte, begeistern plötzlich andere Spieler die Massen. Sami Khedira spielt an der Seite von Bastian Schweinsteiger stark auf. Mehr noch, er überholt den ehemaligen Capitano.

Wie weit sich er und seine ehemaligen Teamkollegen voneinander entfernt haben, zeigt sein Besuch vor dem Viertelfinale gegen Argentinien. Anstatt mit offenen Armen empfangen zu werden, steht Ballack oft scheinbar unbeteiligt herum und reist noch vor dem Halbfinale wieder ab.

Außerdem entbrennt ein Streit zwischen ihm und Ersatz-Kapitän Philipp Lahm. Der sagt: "Ich werde nach dem Turnier nicht zum Bundestrainer gehen und ihm die Binde zurückgeben."

Ballack erwidert: "Für mich ist das eigentlich kein Thema. Ich bin Kapitän der Nationalmannschaft. Philipp Lahm hat Ansprüche zu einem Zeitpunkt gestellt, den ich für unpassend halte. Ich war verletzt und konnte nicht eingreifen."

Das Spiel eins nach der WM

7. September 2010, RheinEnergieStadion Köln, 6:1 gegen Aserbaidschan: Ballack ist wieder fit, hat für Leverkusen am ersten Bundesliga-Spieltag sein Comeback gegeben. Dennoch verzichtet Löw auf den Routinier. Und das sollte auch so bleiben.

Zwar beteuert Löw zwischendurch, dass Ballack, wenn er denn zurückkehrt, wieder Kapitän ist, doch soweit wird es nie kommen. Für die meisten Beobachter ist klar, dass Ballacks Nationalmannschafts-Karriere vorüber ist, ihm andere Spieler den Rang abgelaufen haben.

Lange hält sich Löw eine Hintertür offen, bis er am 16. Juni 2011 nach diversen Gesprächen mit Ballack auf der DFB-Homepage seine Entscheidung verkündet.

Michael Ballack im Steckbrief