Die Zahlen und Fakten: Deutschland hat die beste EM-Qualifikation aller Zeiten gespielt, ist mit zehn Siegen aus zehn Spielen (sechs davon 2011) problemlos durchmarschiert. Bis auf die Partie in Wien gegen Österreich, als die Bundesliga-Saison schon vorbei war und die Mannschaft sowohl geistig wie auch körperlich nicht frisch wirkte, gab es in den Pflichtspielen kaum etwas zu beanstanden - ganz im Gegenteil.
Im Vergleich zum erfolgreichen Vorjahr hat sich der Punkteschnitt der deutschen Mannschaft in allen Spielen leicht gesteigert. 2010 kam die DFB-Auswahl in 17 Spielen inklusive der WM auf 38 Punkte, in diesem Jahr waren es 30 Punkte in 13 Spielen. Macht einen Schnitt von 2,31 Punkten pro Spiel im Vergleich zu 2,24 im letzten Jahr. Insgesamt gab es neun Siege, drei Remis und nur eine Niederlage. Die setzte es im Frühjahr gegen Australien, als sieben Stammspieler geschont wurden.
Auffällig: Sowohl der Koeffizient der erzielten als auch der kassierten Tore hat sich merklich erhöht. Lediglich 0,59 Tore kassierte die deutsche Mannschaft im Jahr 2010, jetzt waren es schon 1,31. Im Gegenzug wurde die Mannschaft in der Offensive aber noch gefährlicher: Hier hat sich der Wert von 2,35 auf 2,77 erhöht. Mit Ausnahme des 2:2 in Polen hat Deutschland in den letzten acht Spielen immer mindestens drei Tore erzielt!
Dem Bundestrainer gefällt diese Entwicklung. "Unsere offensive Spielweise bedingt natürlich auch, dass wir mal hinten Probleme bekommen können. Unser Spielansatz ist es, Tore zu erzielen statt hinten dicht zu machen. Mit einem 4:2 oder 4:3 kann ich besser leben als mit einem mühsamen 1:0."
Das Personal: Joachim Löw hat die Fluktuation im Kader weiter vorangetrieben, im Gegenzug aber auch etliche Spieler neu und dauerhaft integriert. Spieler wie Mats Hummels, Mario Götze, die Bender-Zwillinge Lars und Sven, Andre Schürrle, Marcel Schmelzer oder Marco Reus sind feste Bestandteile des Kaders.
Sie durften im letzten Jahr reinschnuppern, jetzt haben sie zumindest gute Chancen, im kommenden Mai auch in den Kader für die EM berufen zu werden. Manch einer kratzt sogar an Platz in der ersten Elf.
Im Gegenzug war das Jahr für einige Spieler auch so etwas wie der vorläufige Schlusspunkt ihrer Nationalmannschaftskarriere. Heiko Westermann, Serdar Tasci, Arne Friedrich, Marcel Schäfer, Marko Marin, Piotr Trochowski oder Stefan Kießling spielen derzeit keine Rolle in den Planungen des Bundestrainers.
Mit dem Wandel des Personals ist das Durchschnittsalter auch weiter gesunken. Bei der WM hatte Deutschland mit 24,9 Jahren den drittjüngsten Kader aller Teilnehmer. In Kiew vor ein paar Tagen stand eine Startelf auf dem Platz, die im Schnitt 22,7 jung war - die jüngste deutsche Mannschaft der Nachkriegsgeschichte.
Der große Aufsteiger war sicherlich Mario Götze, auch wenn der Dortmunder wohl etwas zu schnell nach oben geschossen war und der Hype um den 19-Jährigten teilweise groteske Züge angenommen hat.
Den vergleichsweise tiefsten Fall, wenngleich auch verletzungsbedingt, hat Arne Friedrich hinter sich. Bei der WM war er noch ein Garant für den Erfolg, danach kam seine Bandscheibenverletzung, dann das Zerwürfnis mit Trainer Felix Magath im Verein und schließlich die freiwillige Vertragsauflösung in Wolfsburg. Damit beginnt für Friedrich die große Aufholjagd frühestens mit der Rückrunde.
Löw hat den optimalen Fall geschaffen, dass fast alle Positionen doppelt oder sogar dreifach stark besetzt sind. Lediglich eine Baustelle bereitet weiter großes Kopfzerbrechen: Auf der Position rechts in der Viererkette hat sich noch kein Kandidat entscheidend in den Vordergrund spielen können. Immerhin gibt es mittlerweile aber einen ernsthaften Konkurrenzkampf.
Als besten Spieler der EM-Qualifikation wählten die mySPOX-User übrigens Bastian Schweinsteiger (37,6 Prozent der Stimmen) vor Mesut Özil (28,7).
Die Entwicklung der Spielidee: Das 4-2-3-1 hat sich längst als System etabliert. Allerdings hat sich seine Interpretation doch teilweise erstaunlich gewandelt. Deutschland hat sich von einer der besten Kontermannschaften zu einem dominant auftretenden Team entwickelt.
Es war das vorrangigste Ziel von Löw nach der WM, die Defizite in der Spielgestaltung gegen tiefstehende Gegner zu beheben, die Deutschland nur zu gerne den Ball überlassen und ihrerseits auf Konter setzen. Hier ist die Mannschaft auf einem sehr guten Weg.
Spiele wie das gegen Brasilien oder zuletzt gegen die Niederlande zeigen die ungeheure Kreativität, die in der Mannschaft steckt. Deutschland hat in diesen Spielen nicht einfach nur gewonnen, sondern die Gegner dominiert.
Die Variabilität an verschiedenen Spielausrichtungen und die enorme Breite des Kaders lassen dem Bundestrainer zudem immer wieder den Spielraum, auf bestimmte Situationen schnell zu reagieren oder den Gegner auch mal zu überraschen.
Hier hat sich Löw absolut von allen Zwängen oder Restriktionen emanzipiert. Wenn er etwas Ungewöhnliches testen will wie zuletzt gegen die Ukraine die Dreierkette, dann lässt er sich davon weder abbringen noch seine Entscheidung danach schlechtreden.
Niemand redet dem Bundestrainer rein, das lange Zeit angespannte Verhältnis zu DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger ist längst geklärt, auch mit Sportdirektor Matthias Sammer gibt es zumindest offiziell einen gemeinsamen Konsens.
Das Thema Michael Ballack: Hier hat sich Löw sehr lange - vielleicht auch zu lange - Zeit gelassen, um eine längst feststehende Entscheidung auch offiziell zu verkünden. Im Juni wurde Ballack nach einem monatelangen Hin und Her quasi beurlaubt.
Die Aufregung um das Vorgehen in der Causa Ballack hat sich längst gelegt, für Löw war es so etwas wie eine letzte Reminiszenz an eine vergangene Zeit. Mit der Trennung von Ballack wurde diese endgültig und unwiderruflich beendet.
Dass Ballack unter anderem seinen Einsatz im zum Abschiedsspiel erklärten Test gegen Brasilien absagte, ist verständlich. Der DFB hat es versäumt, seinen langjährigen Kapitän, der dem Verband in einer schweren und bisweilen trostlosen Zeit immer treu gedient hatte und ein letztes Aushängeschild war, vernünftig zu verabschieden.
Jetzt soll er mit einem Buch als Geschenk verabschiedet werden, wie viele andere Nationalspieler, die die 75-Spiele-Marke geknackt haben. Das kommt dann offenbar per Post. Ballacks Äquivalent der letzten Dekade auf Seiten der Frauen hat da mehr Glück gehabt. Birgit Prinz' Abschiedsspiel soll im kommenden Frühjahr stattfinden.
Ein Ausblick: Das Pflichtjahr 2011 ist zur vollen Zufriedenheit verlaufen. Ab sofort kommt die Kür. Die vereinbarten Testspiele haben ihren erhofften Charakter gehalten, Spiele gegen Italien, Uruguay, Brasilien und die Niederlande die Mannschaft enorm weiter gebracht.
Deutschland ist in allen Bereichen flexibel und variabel aufgestellt, die Mannschaft ist noch stabiler als vor einem Jahr. Das Potenzial an jungen, perfekt ausgebildeten Spielern ist enorm. Viele glauben jetzt schon, dass dies die beste deutsche Mannschaft aller Zeiten sein könnte. Noch besser als die Europameister von 1972.
An den Schwachstellen der letzten Jahre wurde detailliert gearbeitet, die Basis für höhere Aufgaben ist gelegt. Besser könnten die Aussichten für das kommende Jahr kaum sein.
Den Feinschliff wird sich das Team spätestens in der Vorbereitung auf die EM holen, dann vor allen Dingen in der Defensivabstimmung.
Allerdings: Die Stärke dieser Mannschaft muss sich auch schon bald in Titeln niederschlagen. Erst dann wird aus einer talentierten eine große Mannschaft. "Rekord brechen ist das eine", sagte Löw einst so treffend, "Titel gewinnen das andere."
Deutschland - Niederlande: Daten und Fakten zum Spiel