Seine Abhandlungen sind tief versteckt in den Ausgaben des Fachmagazins "Fußballtraining", ab und an finden sich immerhin auch einige Bruchstücke davon im Internet. Er war bereits bei zwei deutschen Profi-Klubs angestellt, beim MSV Duisburg und in Hoffenheim, dort sogar als Co-Trainer von Marco Pezzaiuoli.
Dazwischen auf Honorarbasis auch immer mal wieder beim deutschen Fußball Bund, dem größten Sportfachverband der Welt. Er unterhält eine eigene Fußballakademie, in der unter anderem Co Adriaanse Seminare gibt.
Trainerausbilder bei ManUnited
Er hat in Manchester Uniteds "Soccer School" die nachfolgende Trainergeneration der Red Devils ausgebildet und unter seiner Anleitung hat es Cristiano Ronaldo vom begnadeten Naivling zum Weltfußballer geschafft.
Eigentlich müsste Marcel Lucassen eine bekannte Größe sein. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Selbst in seiner Heimat in den Niederlanden ist er nur in Fachkreisen ein Begriff.
Jetzt ist Lucassen wieder fester Bestandteil der Jugendausbildung beim DFB, vor wenigen Wochen fand seine Arbeit sogar Erwähnung in einem großen Interview der "Süddeutschen Zeitung". Aber nicht er wurde interviewt, sondern sein Chef Matthias Sammer.
Kaum Lösungen für augenscheinliche Probleme
Lucassen ist der Mann im Hintergrund, sein Wesenszug ist die Akribie. Im Teilgebiet des Individualtrainings ist er zu Hause.
Eine Disziplin, die jeder auf dem Platz sehen kann. Bei jedem Dribbling von Ronaldo, jeder Körpertäuschung von Mario Götze oder bei der Ballmitnahme von Thomas Müller. Und doch sieht kaum jemand die Arbeit, die dahinter steckt.
Lucassen ist 48 Jahre alt, als er mit seinem Job anfing, wurde in Deutschland noch mit Libero und Vorstopper verteidigt. Seine kurze aktive Laufbahn beim VVV Venlo zwangen mehrere Verletzungen schon früh in die Knie. Während seiner Anfänge als Trainer stolperte er dann immer wieder über zwar handelsübliche, aber trotzdem wenig beachtete Problemstellungen.
"'Konzentriere dich auf deine Annahme.' 'Spiele einen sauberen Pass.' 'Laufe nicht wieder ins Abseits.' Wie kann man so etwas immer wieder sagen?", wunderte sich Lucassen über die wenig tiefgründige Art der Problemlösung selbst renommierter Trainerkollegen.
"Spieler wollen den Ball korrekt annehmen. Sie wollen einen sauberen Pass spielen, und sie wollen ein Tor schießen. Die Frage ist: Warum schaffen sie es nicht?" Und genau da setzt Lucassens Arbeit konkret an.
Positionsspezifisches Individualtraining
Beim DFB ist er offiziell geführt als "Individualtrainer Technik/Taktik", der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in der individuellen, positionsspezifischen technischen und taktischen Ausbildung der Junioren-Nationalspieler. Im Klartext: Er soll in Individualeinheiten bereits den Spielern der U 15 Lösungsmöglichkeiten an die Hand geben, in allen nur erdenklichen Bereichen des Spiels.
Flanken, Dribbling, Finten, Ballan- und mitnahme, peripheres Sehen, Koordination, mentales Training. In den Teilaspekten des großen Ganzen ist Lucassen zu Hause wie in einem Mikrokosmos. Seine Analyse: Jedes Mannschaftstraining hat seine Grenzen.
"Also habe ich mit Rene Meulensteen, dem Assistenten von Alex Ferguson bei Manchester United, acht Jahre lang ein Modell entwickelt über Fußballtechnik und die unterschiedlichen Eins-gegen-eins-Situationen."
Katalog an Eigenschaften
Seine Methodik ist sehr wissenschaftlich, was im erdigen Fußballsport auch heute noch etwas anmaßend daherkommt. Lucassen ist ausgebildet in Trainingslehre, Physiologie, Psychologie, Biomechanik - die Basis für jeden Technik- oder Taktiktrainer, wie er findet.
In der Bundesliga gibt es die Sparte immerhin auch schon seit einigen Jahren in den Klubs. Nur sind oder waren die Posten da besetzt mit ehemaligen Ikonen wie Thomas Häßler beim 1. FC Köln. Ickes Erfahrungsschatz begründete sich auf 20 Jahre Profi-Fußball. Lucassen kommt aus der anderen Richtung.
Er bastelt seine Erkenntnisse nach und nach zusammen und entwirft eine fast schon mathematisch errechnete Formel für den Einzelnen und dessen Verhaltensmuster in bestimmten Situationen. Und er katalogisiert die Eigenschaften des Spielers.
Ronaldo war der ENFP-Typ
Für Ronaldo, den er nach dessen Wechsel zu United vom ersten Tag an betreute, hieß diese Formel dann Extrovertion, Intuition, Feeling, Perceiving, kurz ENFP. Für Ronaldo hieß das damals auf dem Papier, er sei extrovertiert, möchte seine Möglichkeiten entdecken, ist mannschaftsorientiert, sensibel und besitzt eine gute Auffassungsgabe.
Auf dem Feld machte Lucassen schnell einige grundlegende Fehler aus. Wie war Ronaldos Armhaltung bei der Ballannahme, wo steht sein Bein in Relation zum Standbein? Warum tut er sich im Dribbling über links leichter als über rechts? Warum hat er Probleme bei der Ballannahme mit dem Rücken zum Tor?
Warum setzt er seine Kraft falsch um? Eine seiner wichtigsten Erkenntnisse aus 15 Jahren Arbeit: So wie der Spieler den Körper einsetzt, so spielt er auch den Ball. "Meine Referenz ist das höchste Niveau, die Weltspitze", sagt Lucassen.
Offene Stellung, Folgeaktion
Sein Chef Sammer, der ihn im Sommer als festen Bestandteil der Jugendförderung zurück zum DFB holte, formuliert ein konkretes Beispiel.
"Xavi oder Iniesta sind nicht besonders schnell, aber sie haben eine besondere Technik, sich mit einer Auftaktbewegung vom Gegner abzusetzen. Ich sag' es mal im Trainerdeutsch: Sie bieten sich immer in einer offenen Stellung an, um nach der Ballweitergabe eine Folgeaktion einzuleiten, damit ihr Spiel nie statisch wird. An so etwas arbeitet Lucassen mit unseren Trainern und Spielern."
Die Leichtigkeit, mit der Spieler wie Özil oder Götze den Ball teilweise über den Rasen führen ist natürlich immer eine Frage des Talents - aber sie wird mehr und mehr auch eine Frage detaillierter, akribischer und auch wissenschaftlicher Arbeit.
"Von einem anderen Planeten..."
Die gestaltet beim Deutschen Fußball-Bund nun wieder ein Holländer.
"Seine Verpflichtung ist ein weiterer Baustein in der Eliteförderung des Deutschen Fußball-Bundes", sagt Sammer.
Und vielleicht ist sie auch ein kleiner Mosaikstein für die Vermutung, dass die Rivalität beider Fußball-Nationen in den letzten Jahren doch merklich abgekühlt ist.
Auf jeden Fall aber nur der Beginn eines Weges hin zu noch mehr Perfektion.
"In den letzten Jahren hat es Veränderungen gegeben. Im Vergleich mit anderen Sportarten ist da noch immer sehr viel zu holen", sagt Lucassen. Aber immerhin: "Vor 15 Jahren dachten die Leute noch, ich komme von einem anderen Planeten..."