Das EM-Aus ist noch nicht verdaut. Nach dem 1:2 der deutschen Nationalmannschaft gegen Italien beginnt die Zeit der Fehlersuche. SPOX stellt vier Thesen in den Raum und versucht Antworten darauf zu geben, warum die deutsche Mannschaft wieder einmal bei einem großen Turnier nicht erfolgreich war.
Der Mannschaft fehlt ein Anführer
Merkwürdig und faktisch nicht belegbar ist die leidige Diskussion um einen Spieler, der in kritischen Momenten vorangeht. Typen dafür sollte die Mannschaft in Bastian Schweinsteiger oder Sami Khedira eigentlich haben. Gegen Italien konnten sie diese Rolle aber nur bedingt oder gar nicht ausfüllen.
Vor Tagen hatte "L'Equipe"-Reporter Eric Champel die deutsche Mentalität hinterfragt und die These in den Raum geworfen, dass diese Mannschaft zu uniform und rational sei und mit schwierigen Situationen womöglich nicht umzugehen vermag. In gewisser Weise wurde diese These im Halbfinale, als Deutschland zum ersten Mal in Rückstand geriet und auf kein bewährtes System und Automatismen zurückgreifen konnte, auch bestätigt.
Als gegen Italien alles schon zu spät schien, stellte Löw in den letzten Minuten auf eine Dreierkette um. Zunächst gab Schweinsteiger da eine Art Libero, agierte also als Passgeber aus der Mitte des Spielfelds heraus. Am Ende rückte er nach rechts ins Glied - auf die unwichtigste aller Feldspielerpositionen, wenn man Risiko geht und hinten fast komplett aufmacht.
Sicherlich war es seiner körperlichen Verfassung geschuldet und man muss ihm zugute halten, dass er sich durchgebissen hat durch ein sehr schwieriges Turnier.
Nur: Hätte er nicht mehr Größe gezeigt, wenn er freiwillig auf das Halbfinale verzichtet hätte? Immerhin hatte Schweinsteiger nur vier Tage vor dem Spiel erklärt, er fühle sich nicht so, wie er sich für eine EM eigentlich fühlen müsste. Er fühle sich körperlich generell gut, aber in einigen Teilbereichen nicht in bester Verfassung. Und vor allen Dingen fehlte es ihm an einer gewissen Sicherheit, die er für sein Spiel benötigt.
Die Rückversetzung auf den Rechtsverteidigerposten - bis jetzt ist nicht geklärt, ob auf Anweisung von Löw oder eine Entscheidung des Spielers - war auch ein unfreiwilliges Zeichen: Der Emotional Leader der deutschen Mannschaft bringt in der Endphase keine Emotion ins Spiel, sondern macht sich unsichtbar. Die Gründe dafür waren sicherlich vielfältig. An der Tatsache an sich ändert das aber nichts.
Im Halbfinale gab es eine Bayern-Blockade
Bei Anpfiff standen sieben von acht Bayern-Spieler auf dem Platz, Thomas Müller folgte im Laufe der zweiten Halbzeit. Die Diskussion ist eigentlich ausgelutscht und auch wenig populär, aber in der abgelaufenen Saison waren die Bayern bis auf das Rückspiel im Champions-League-Halbfinale in Madrid eben auch in keinem der engen, wichtigen Spiel in der Lage, diese auch zu gewinnen. Der Umkehrschluss muss jetzt nicht zwingend heißen, dass es eine Reihe der Double-Sieger aus Dortmund besser gemacht hätte, trotzdem bleibt das als Fakt festzuhalten.
Spricht man von den Gewinnern dieser EM im deutschen Team, dann finden sich darunter vielleicht Holger Badstuber und Mario Gomez. Ansonsten: Mats Hummels, Sami Khedira, Marco Reus, vielleicht noch Miroslav Klose, der immer gezeigt hat, wie wichtig er ist, wenn er spielen durfte. Und dessen Ankündigung, bis 2014 weitermachen zu wollen, ein wichtiges Signal ist.
Angesichts des großen Bayern-Blocks im Kader ist die Quote an überzeugenden Leistungen eben jener Spieler aber relativ gering. Auch hat sich keiner bei der EM nochmal einen Schub nach vorne geben können, so wie es Bastian Schweinsteiger oder Thomas Müller bei der WM vor zwei Jahren noch gelang.
Die Diskussion um das verlorene Champions-League-Finale und die letztlich verkorkste Saison mit drei zweiten Plätzen ist im Laufe des Turniers verstummt. In Sequenzen konnte die Bayern-Spieler ihre Leistung abrufen, manche sogar in einigen Spielen überzeugen. Aber kein einziger spielte alle Spiele auf einem konstant hohen Niveau - für eine Mannschaft, die angesichts des großen Blocks aus München darauf aber angewiesen ist, eine entscheidende Schwächung.
Seite 2: Komfortzone und Goldene Generation
Die Spieler stecken beim DFB zu sehr in der Komfortzone
Die Vorbereitung sei zerrüttet gewesen, alles andere als optimal. Die verspätete Ankunft der Real- und Bayern-Spieler brachte einige Trainingsinhalte etwas durcheinander, dazu kam die Enttäuschung aus dem Champions-League-Finale. In der Tat waren das nicht die besten Voraussetzungen.
Andererseits: Die Spanier trudelten tröpfchenweise in deren Trainingslager ein, die Spieler des FC Barcelona und von Athletic Bilbao spielten am 25. Mai noch das Finale der Copa del Rey - sechs Tage nach dem CL-Finale von München. Danach, am 28. Mai, spielten Sergio Busquets, Gerard Pique, Andres Iniesta und Xavi noch bei einem Benefiz-Futsal-Kick von Pep Guardiola in Barcelona mit.
Andere Teams wie etwa England hatten kurz vor dem Turnier noch schmerzhafte Ausfälle zu verkraften, die Italiener den neuerlichen Wettskandal. Optimal war die Vorbereitung im Prinzip bei keinem Verband.
Der Deutsche Fußball Bund hat trotzdem absolut optimale Bedingungen geschaffen, ob in den Trainingslagern auf Sardinien und in Frankreich oder später im Dwor Oliwski, dem abgelegenen Hotel in der Nähe von Danzig. Absolute Fokussierung auf die Trainingseinheiten, strikt durchgeplante Tagesabläufe. Die Iren wohnten als krasses Gegenbeispiel im Stadtteil Sopot, mitten in der Partymeile Monte Casino. Abends wurden Spieler in umliegenden Restaurants gesichtet, die Lobby im Teamhotel Sheraton war stets geradezu belagert von irischen Fans.
Der DFB schottet seine Mannschaft schon seit Jahren ab. Das ist nachvollziehbar und im Grunde auch richtig. Aber die Art und Weise, wie den Spielern wirklich alles abgenommen wird, ist zumindest diskussionswürdig. Dass sich die Mannschaft über eine lächerliche 30-minütige Verspätung beim Rückflug aus Charkiw beschwert, ist eigentlich nicht der Rede wert. Aber es zeigt, dass selbst kleinste Unregelmäßigkeiten sofort wahrgenommen werden - weil man ansonsten hundertprozentig umsorgt ist.
Auf den über 30 Pressekonferenzen nahm jeder Spieler mindestens einmal teil, auch das gesamte Trainerteam saß mindestens einmal auf dem Podium, dazu noch Teammanager Oliver Bierhoff und einige Protagonisten vom "Team hinter dem Team". Der DFB geht bei seinen Pressekonferenz äußerst professionell vor, so gut organisiert wie sonst kein anderer Verband - was dann auf dem Podium aber gesprochen wird, ist größtenteils doch eher nichtig. Die Spieler sind medial glattgebügelt, nur wenige brechen dabei auch mal aus. Nicht überraschend gab Lars Bender die erfrischendste aller Pressekonferenzen. Er ist schließlich erst seit ein paar Monaten Bestandteil der Mannschaft...
Deutschland hat eine goldene Generation - im negativen Sinn
Miroslav Klose, Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski haben seit 2004 jedes Turnier gespielt, Per Mertesacker kam 2006 bei der Heim-WM dazu. Eine starke Generation, die zuletzt aber viermal in Folge so knapp vor dem Ziel gescheitert ist. Keiner anderen Mannschaft ist so etwas in der Art je passiert.
Die Frage ist nicht erst seit Donnerstag, wie viel Optimismus der Mannschaft entgegengebracht wird - und wie hart sie dafür kritisiert werden darf, immer wieder kurz vor dem ausgegebenen Ziel zu scheitern? Die Aussagen der Spieler nach dem Italien-Spiel waren sehr nüchtern, fast schon ein wenig zu emotionslos und politisch korrekt.
An der grundsätzlichen Einordnung, dass diese Mannschaft eine der besten der Welt sein kann, ändert sich nichts. Nur gerierten sich die wichtigen Spieler auch in einer eigenartigen Form des Euphemismus, da wurde einiges schöngeredet und immer wieder auf die Zukunft verwiesen.
Nur leider wurde bereits 2006, 2008 und 2010 auch jedes Mal auf die zu erwartende erfolgreiche Zukunft verwiesen und das Entwicklungspotenzial, das mittlerweile dank der nachrückenden Generation in der Tat enorm ist. Nur: Wo und wann kommt die Sollbruchstelle?
Die Entwicklung an sich geht ja immer weiter. Sicher sind in zwei Jahren in Brasilien wieder drei, vier neue Begabte dabei, denen großes Entwicklungspotenzial attestiert wird. Aber wann kommt der finale Cut? Die reine Entwicklung neuer, glänzend ausgebildeter Spieler ist schön, aber sie allein bringt keine Titel. Insofern kann man Kapitän Lahm durchaus Recht geben, dass es keine Garantie dafür gebe. Aber ebenso wenig haben auch andere Mannschaften eine Garantie auf die Titel, die sie letztlich dann doch gewinnen.
Was trotz aller Kritik für die deutsche Mannschaft spricht: Sie war die jüngste des Turniers mit einem Altersdurchschnitt knapp über 24 Jahren. Und schaut man sich den Reifungsprozess der Spanier an, wird klar, dass deren Korsettstangen auch erst mit Ende 20 und einigen Turnieren Vorlauf ihre ersten Titel eingefahren haben. Vielleicht war die Zeit also wirklich noch nicht reif.