"Mesut Özil ist der beste Zehner der Welt." Jose Mourinho sagt das oft, er sagt es ungefragt und er sagt es laut. So laut, dass es jeder mitbekommt, natürlich auch Mesut Özil selbst.
In den Worten des Portugiesen steckt einiges an Wahrheit, aber wer will schon den einen besten Spieler der Welt definieren, wo es doch auch andere mit ähnlich hervorstechenden Qualitäten gibt?
Es ist deshalb auch immer eine Art Verkaufsstrategie, wenn sich Mourinho zu einem seiner Spieler äußert. Die Corporate Idendity von Real Madrid, die im Prinzip ganz einfach ist: Du bist Spieler des größten und bekanntesten Klubs der Welt, also bist du auch zwangsläufig der Beste der Welt.
Damit wird dann verkauft, bis die Schwarte kracht. Im Jahr 2011 setzte Real Madrid 479,5 Millionen Euro um. Damit lagen die Königlichen zum siebtenmal in Serie unangefochten auf Platz eins der Rangliste der umsatzstärksten Klubs der Welt. Vor elf Jahren lag ihr Umsatz noch bei vergleichsweise dünnen 118 Millionen Euro, die Steigerungsrate beträgt damit rund 400 Prozent.
Von Mourinho gefördert
Mourinho geht es aber allenfalls sekundär darum, seinem aktuellen Arbeitgeber zu erfreulichem Bilanzwerk zu verhelfen. Die dauernde Lobpreisung ist Teil des Umgangs mit seinen Spielern, die für ihn auf allen seinen Stationen auch seine Kinder sind, um die er sich kümmern und die er beschützen muss. Das war einst in London so und in Mailand, und heute eben in Madrid. Morgen wäre es in Paderborn oder Karlsruhe nicht anders.
Sami Khedira hat ein paar Wochen nach seiner Ankunft in Madrid von seinen ersten Begegnungen mit Mourinho erzählt. Er und Mesut Özil waren 2010 gemeinsam nach Madrid gewechselt, mit etwas unterschiedlichen Vorzeichen. Özil hat sich sofort in die Herzen der Madridista und der omnipräsenten Medien gespielt.
Mourinho hat ihn gefordert und gefördert und alsbald war aus dem hoffnungsvollen Spieler, der sich bei der Weltmeisterschaft in Südafrika erst in den weltweiten Fokus gespielt hatte, ein Star geworden.
"Der beste Zehner der Welt"
Für sein Selbstverständnis auf dem Rasen ist seitdem kein Platz mehr für den kleinen Mesut aus Gelsenkirchen-Bismarck. Dann ist er Mesut Özil, Spieler von Real Madrid und der deutschen Nationalmannschaft, "der beste Zehner der Welt".
Die Entwicklung war rasant und in der Art auch für die vielen skeptischen Experten nicht vorherzusehen, die Özil eine leidvolle Zeit in Madrid vorausgesagt hatten. Aber er hat sich durchgesetzt, unter anderem gegen einen Spieler wie Kaka, der auf Özils Position jahrelang eingebucht war und jetzt öfter auf der Bank sitzt.
Er hat dann seine erste Saison bestätigt. Sie noch einmal zu toppen war schier unmöglich. In der Endphase setzte ihn sein Trainer auch mal auf die Bank, "um ihn zu schonen". Mit Real holte er die Meisterschaft, das große Ziel in der Champions League verfehlte er mit seiner Mannschaft aber. Nun also die EM.
Okay, aber noch nicht überzeugend
Seine Leistung steht dort bisher sinnbildlich für die der deutschen Mannschaft: Alles in allem gut, aber das wahre Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft. Die entscheidende Frage ist dabei nicht, wie viele Ressourcen brachliegen - sondern ob sie in der nun anstehenden hitzigen Phase des Turniers noch abgerufen werden können.
Dass Özil und die deutsche Mannschaft hochbegabt sind, steht außer Zweifel. Nur ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, das auch unter Beweis zu stellen. So richtig hat er aber noch nicht reingefunden in diese Europameisterschaft. Womöglich hat Reals Spielstil als Ausgangspunkt indirekt auch etwas damit zu tun.
"Wenn Cristiano in die Lücke läuft und ich ihm den Ball dorthin spiele, ist es ein Tor", erklärte Özil einmal die vermeintliche Leichtigkeit des Seins bei Real. Nicht alle seiner Zuspiele haben den Adressaten Ronaldo. Es gibt dann doch auch noch andere, die er in Szene setzen darf. Von Reals unglaublichen 121 Treffern bereitete Özil in der abgelaufenen Saison 26 direkt vor, so viele wie noch nie in seiner Karriere.
Das Real-Problem
Und trotzdem verschleiert diese monströse Zahl auch ein Problem. Madrids Offensivspiel ist auf Geschwindigkeit ausgelegt, links über Ronaldo, rechts über den dribbelstarken Angel di Maria. Der Ball soll schnell auf die Außen gebracht werden, wo die beiden dann den Turbo zünden und fast jedes Mal selbst in die Abschlussaktion gehen.
Das ist besonders auffällig gegen Gegner, die früh pressen. In der Regel sind das dann die großen Teams; Barca, Atletico, Valencia in der heimischen Liga oder die Granden aus der Champions League. Automatisch sind diese Spiele von weltweit größerem medialen Interesse, als eine Partie gegen Granada oder Real Betis.
Die EM als seine Chance
Dieser Stil minimiert das Risiko für das eigene Tor, er minimiert aber auch Özils Einbindung in das eigene Spiel. An Madrids Mittelfeld rauscht der Ball dann oft nur noch vorbei. Es hält sich deswegen hartnäckig die Meinung, Özil tauche in den wichtigen Spielen zu sehr ab. Was so natürlich nicht stimmt, aber ein festgefahrenes Bild lässt sich eben nur schwer wieder entzerren.
Auch deshalb ist die Europameisterschaft mit der deutschen Nationalmannschaft für Mesut Özil eine sehr große Chance. Hier kommt es wieder mehr auf ihn an, gegen diese defensiv kompakten Gegner, die es mit Geschick und Verve auszuhebeln gilt. Und nicht in erster Linie mit Schnelligkeit. Hier kann er sich wieder nachhaltiger ins Bewusstsein der Fans spielen. In und auch außerhalb Deutschlands.
Kaum Präsenz in Deutschland
Seit seinem Wechsel nach Madrid ist Özil in deutschen Medien nur noch vereinzelt präsent. Die spanische Liga wird nicht im deutschen Fernsehen übertragen, allenfalls die echten Primera-Division-Liebhaber setzen sich an den Wochenenden spätnachts vor den Rechner, um Real Madrid oder den FC Barcelona live spielen zu sehen.
An der großen Masse geht Özils Wirken seit geraumer Zeit vorbei. Nur bei der Nationalmannschaft wird er dann wiedererkannt als der, der er eigentlich auch bei dieser Europameisterschaft sein wollte: Der auffälligste deutsche Spieler, die Gallionsfigur dieses neuen Deutschland mit seiner elegant-unbeschwerten Spielweise.
Özils Zauber schon zu sehen
So weit ist es bisher noch nicht gekommen. Özil hat seinen Dienst für die Mannschaft bisher verrichtet. Aber er hat noch nicht das abgerufen, was er von sich selbst verlangt.
In den Spielen lamentiert er auffällig früh, wegen banaler Kleinigkeiten oder Schiedsrichterentscheidungen. Dann dringt offenbar schnell die Mentalität durch, die ihm jetzt zwei Jahre lang beigebracht wurde: Der Ball muss zu dir, denn du weißt in jedem Fall das Richtige damit anzufangen.
Man merkt dann, wie er sofort etwas Außergewöhnliches anstellen will, und manchmal gelingt ihm das auch. So wie in der Anfangsphase gegen Dänemark, als er diese typische Özil-Nonchalance in seinem Passspiel hatte und seinen Schatten William Kvist mit seinem Laufverhalten und seinen Finten beinahe zur Verzweiflung trieb.
Löws halbherzige Erklärung
In der Überhand sind bisher aber andere Szenen: Sie zeigen einen zögerlichen Özil, der noch ein zweites oder drittes Mal um seine eigene Achse kreiselt, der eine Anspielstation sucht und nicht findet.
Sein Trainer Joachim Löw will ihm daran gar nicht zwingend die Schuld geben. "Wir waren bei den Laufwegen ungeduldig und haben verpasst zu warten und dann erst loszusprinten, wenn der Mesut am Ball war", sagt er nach dem Spiel gegen die Dänen, als sich Özil mit zunehmender Spieldauer in Einzelaktionen verhedderte.
Der Laufweg bestimme immer noch den Pass, nicht umgekehrt, betonte Löw. Das erklärt, warum Özil das Zuspiel in die Tiefe nicht gelingen mochte. Es erklärt aber nicht, warum er dann nicht - im Sinne eines weiter seriös vorgetragenen Angriffs - den Ball nach hinten oder quer spielt. An Anspielstationen für den risikoarmen Pass mangelte es nicht.
Allerdings muss man auch bedenken, dass ihm mit Miroslav Klose jener Typ Angreifer bisher abgeht, der sich am besten an sein von Instinkt und Intuition geprägtes Spiel anpasst und den Spielfluss am Laufen halten kann.
Das Einfache ermöglicht erst das Besondere
Vielleicht wollte Özil in einigen Aktionen bisher einfach zu viel. Für einen offensiven Mittelfeldspieler ist das Risiko sein treuer Begleiter. Zu viel davon kann aber nicht gut sein. Das Besondere verliert schnell seinen Reiz, wenn es sich dazwischen nicht mit dem einfachen Handwerk des Fußballs abwechselt.
Denn gerade darin ist Mesut Özil ein nahezu unerreichter Meister seines Fachs: Einem Pass in letzter Sekunde eine entscheidende Richtungsänderung zu geben oder ihn einfach weiterlaufen zu lassen. Oder eine Körpertäuschung, mit der er sich und den Ball aus einer festen Umklammerung löst. Das sind die Dinge, die ihn fast einzigartig machen.
Seine Explosion kommt noch
Andere große Spieler tragen Özils derzeitigen Symptome seit Jahren mit sich spazieren. Auch Leo Messi und Cristiano Ronaldo werden in ihren Auswahlmannschaften nicht so glücklich, wie sie es sich auf Grund ihrer unerreichten Leistungen auf Klubebene selbst versprechen.
Das Gute bei Mesut Özils Lage ist, dass es sich dabei bisher allenfalls um einen flüchtigen Eindruck handelt, der schon im nächsten Spiel aus der Welt zu schaffen ist. Am Freitag, gegen die Griechen. Denn dass diese Mannschaft Mesut Özil braucht, kann niemand ernsthaft in Frage stellen.
Joachim Löw hat über seinen Schützling übrigens noch nie behauptet, er wäre der Beste der Welt. Aber er hat sich in den Tagen von Danzig immerhin zu einer forschen Prophezeiung durchringen können. "Bei der WM 2010 hat er auch erst in der K.o.-Phase gegen England und Argentinien überragende Spiele gemacht. Die große Explosion Özils kommt noch. Ich spüre das."
Der EM-Spielplan in der Übersicht