Fabio Grosso und Carles Puyol. Zwei Namen, die auf ewig mit der Geschichte des deutschen Fußballs verbunden bleiben werden. Grosso, der Italiener, hat Deutschland im Halbfinale der WM 2006 das entscheidende erste Gegentor beigebracht - im unmittelbaren Anschluss an eine Ecke. Puyol, der Spanier, hat Deutschland im Halbfinale der WM 2010 mit einem Kopfballtor nach einer Ecke aus dem Turnier genommen.
Ein großer Teil der Nationalspieler hat zudem das Champions-League-Finale 2012 erlebt, als Didier Drogba eine einzige Ecke reichte, um den FC Chelsea gegen einen deutlich überlegenen FC Bayern im Spiel zu halten. Die Münchner ließen ihrerseits dagegen 20 Eckbälle ungenutzt.
"Stell auf den Hrubesch scharf, gleich knallt's"
In den letzten Jahren gab es ein Missverhältnis zwischen den vorhandenen Möglichkeiten durch Standardsituationen und daraus resultierendem Ertrag. Als Deutschland noch nicht von Joachim Löw trainiert wurde und kühle Effizienz eine Stärke der DFB-Auswahl war, stellte sich das anders dar.
Sei es im EM-Finale 1980 gegen Belgien, als Karl-Heinz Rummenigge einem Fotografen zuraunte: "Stell die Linse scharf auf den Hrubesch, gleich knallt's". Oder bei der WM 1986, als Deutschland im Finale durch zwei Tore nach Ecken aus einem 0:2 ein 2:2 machte.
Selbst beim WM-Titel 1990 resultierten alle Tore der DFB-Auswahl nach dem Achtelfinale nur noch aus Standards. Und Anfang des Jahrtausends hatte Deutschland mit Michael Ballack einen der besten Kopfballspieler der Welt in seinen Reihen, der viele wichtige Tore erzielte.
Löw akzeptiert den Charme der Standards
Bei den letzten Turnieren war diese Qualität aber verschüttet gegangen. Löw konnte dem ruhenden Ball nur wenig abgewinnen. Zwar gab es auch 2010 und 2012 Tore nach Standards, aber für ihn versprühte das schlichte Muster Ecke-Kopfball-Tor einen etwas zu simplen Charme.
Er setzte andere Prioritäten, ließ lieber taktische Abläufe trainieren und konzentrierte sich auf ein hohes Fitnesslevel seiner Spieler. Für Standardsituationen fehle dann oft die Zeit, lautete das Argument.
Es kam daher schon überraschend, dass sich Löw auf seiner ersten Pressekonferenz im Campo Bahia als "Freund vom Einstudieren der Standards" präsentierte. Er hat diesen Punkt im Trainingslager in Südtirol und auch in Brasilien verstärkt trainieren lassen.
Das Resultat kann sich sehen lassen. Fünf der zehn deutschen Turniertore resultierten aus Standards, vier davon nach Ecken oder Freistößen von Toni Kroos, ein weiteres aus einem Strafstoß. "Standards sind eine Waffe, sie haben Gewicht", sagte Löw.
Keine Methode
Die beiden Kopfballtore von Mats Hummels, der Siegtreffer von Thomas Müller gegen die USA, der Ausgleich durch Miroslav Klose gegen Ghana, allesamt wichtige Tore, die nach ruhenden Bällen fielen.
"Es ist nicht so, dass da eine bestimmte Methode dahinter steckt", sagte Hummels nach seinem Siegtor gegen Frankreich. "Die Bälle sind einfach gut geschlagen." Mit großem Variantenreichtum ist die DFB-Elf bisher tatsächlich nicht aufgefallen, der einzig einstudierte Trick entwickelte sich gegen Algerien zu einer Slapstick-Nummer.
Personal gibt neue Möglichkeiten
Aber durch die personelle Umgestaltung der Abwehrreihe haben sich offensiv ganz andere Möglichkeiten im Kopfballspiel ergeben. Es gibt mehr Zielspieler und Hummels und Höwedes sind mit ihrer Physis und ihrem Timing eine Bedrohung für jeden Gegner.
Dazu kommen noch kopfballstarke Spieler wie Klose, Bastian Schweinsteiger oder Per Mertesacker. Jerome Boateng ist als einziger Verteidiger nicht für die Offensive vorgesehen, er soll mit seiner Schnelligkeit die Gefahr gegnerischer Konter minimieren und muss hinten bleiben.
Ein Unterschied zu den vorangegangenen Turnieren ist auch der Standardschütze. Kroos bringt seine Bälle mit erstaunlicher Konstanz gut in den Strafraum. Diese Qualität war in den letzten Turnieren nicht in diesem Maß vorhanden. Dabei fehlt mit Marco Reus der vielleicht beste Schütze sogar verletzt.
Löw muss zahlen
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch im Halbfinale gegen Brasilien Ecken und Freistöße eine wichtige Rolle spielen werden. Zum einen haben die Brasilianer ihre drei Tore der K.o.-Runde durch Innenverteidiger nach Standards erzielt und zum anderen rechnen die Deutschen mit vielen Fouls der Selecao, die selbst Möglichkeiten für Freistöße bringen werden.
Als kleiner Sieger darf sich jetzt schon Hansi Flick sehen. Der Assistenztrainer hat wie vor den vergangenen Turnieren mit dem Bundestrainer um ein Abendessen gewettet, dass Deutschland ein Tor aus einer Standardsituation erzielen werde.
Die Wette hat er schnell und deutlich gewonnen. "Jogi wird zahlen, also freue ich mich auf dieses Essen." Wenn am Ende nach Grosso und Puyol Hummels oder Höwedes die Reihe fortsetzen, wird Löw den finanziellen Aufwand verschmerzen können.