"Wir hatten Zeit, uns Gedanken zu machen und den ersten Schock zu verarbeiten. Es war eine schreckliche, entsetzliche und schockierende Nacht", eröffnete Joachim Löw am Montag rückblickend die Pressekonferenz vor dem Länderspiel gegen die Niederlande. Es war eine denkwürdige Fragerunde.
Erst am Sonntagnachmittag hatten die Verantwortlichen des DFB entschieden, die normalerweise prestigeträchtige Begegnung gegen den Nachbarn nach den terroristischen Attentaten von Paris nicht abzusagen. Eine Entscheidung, die vor allem Spielern und Trainer schwer fiel, wie Löw offenlegte.
"In der Nacht auf Samstag und nach unserer Rückkehr nach Deutschland hatte ich das Gefühl, dass das Spiel nicht stattfinden kann und nicht stattfinden soll. Ich fragte mich: 'Gibt es aktuell nichts Wichtigeres als den Fußball?'", sagte der immer noch sehr betroffen wirkende Bundestrainer, dessen Gefühlslage offenbar auch die meisten seiner Spieler "im Schockzustand und in der Angst" teilten.
Verbundenheit als demonstrative Stärke
Und doch entschied sich der DFB dazu, nicht zurückzuweichen: "Wir wissen, dass wir gefordert sind und gehen das Spiel mit voller Überzeugung an. Wir wollen ein klares Zeichen setzen und für unsere Werte und Kultur antreten", kommentierte Bierhoff die Entscheidung, die nicht sportlich, sondern allem voran politisch gefällt wurde.
"Die Spieler waren aber auch dafür, dass wir für unsere Werte in dieser Form einstehen", pflichtete ihm Löw bei. Dennoch wolle er vor der Partie mit jedem Einzelnen noch einmal das Gespräch suchen: "Wir müssen der Mannschaft erklären, warum wir uns entschieden haben, dieses Spiel stattfinden zu lassen."
Ob Rauball, Löw oder Bierhoff: Alle zeigten sich in den letzten Tagen sehr dankbar - gegenüber den eigenen Spielern, aber vor allem auch gegenüber der französischen Mannschaft, die in der Nacht der Anschläge noch genauso lange im Stadion geblieben war wie das DFB-Team. "Das zeigt ihre sportliche Verbundenheit", befand Löw.
Diese soll nun erwidert werden. Nicht nur sportlich, sondern vor allem kulturell - eine Symbolik, die auch Bundeskanzlerin Angela Merkel demonstriert. Zusammen mit mehreren Ministern wird sie das Spiel in Hannover besuchen.
"Alle Zuschauer bilden eine Einheit"
Wenn es am Dienstagabend auf den Platz geht, ist die Mannschaft in ihren Sorgen aber nicht allein. Vor allem die zehntausenden Zuschauer im und um das Stadion herum plagt die Ungewissheit in Sachen Sicherheit. Es ist ein unangenehmes Thema, dem der DFB aber nicht ausweicht.
"Im Moment haben wir keine Sorgen, da die Sicherheitsvorkehrungen für dieses Spiel verstärkt worden sind", bemühte sich Löw um Beruhigung. Bierhoff ergänzte: "Wir werden größtmögliche Sicherheit für die Zuschauer und Mannschaften garantieren."
Partystimmung oder La-Ola-Wellen erwarte Löw in Hannover ausdrücklich nicht. Stärke könnten die Zuschauer aber dennoch demonstrieren - im Kollektiv: "Alle Menschen, die im Stadion sind, bilden einen Zusammenhalt und eine Einheit."
Zudem plant der DFB eine solidarische Aktion, die insbesondere den Opfern, jedoch auch den Franzosen und der gesamten westlichen Welt gewidmet ist. Man habe bereits darüber nachgedacht, vor dem Spiel die Marseillaise zu singen oder französische Nationaltrikots zu tragen, schilderte Bierhoff: "Wir wollen die Besonderheit dieses Spiel entsprechend darstellen."
Fokus auf dem einzig Wesentlichen
Die sportliche Aussagekraft geht seit Freitagabend gegen null. Sechs Nationalspieler stehen Löw am Dienstagabend gar nicht mehr zur Verfügung - ein Umstand, der sonst auch in jedem noch so unwichtigen Länderspiel für Gesprächsstoff sorgen würde. Diesmal nicht.
Manuel Neuer, Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger erhalten vom Bundestrainer eine Pause. Jonas Hector fehlt wegen eines Pferdekusses im Oberschenkel, Jerome Boateng wegen einer schmerzhaften Sehnenreizung in der rechten Kniekehle. Zudem ist Leroy Sane wie vorgesehen zur U21 gereist, um mit Hrubeschs Team das EM-Quali-Spiel gegen Österreich zu bestreiten.
Ein einzelner niederländischer Journalist bemühte sich auf der Pressekonferenz am Montag dennoch um eine sportliche Einschätzung der Begegnung - vor allem in Bezug auf die in der Weltrangliste dramatisch abgestürzte Elftal. Löw blockte bestimmt ab: "Zur Lage der holländischen Nationalmannschaft möchte ich keine Stellung nehmen. Ich glaube, es ist am heutigen Tag nicht der richtige Zeitpunkt dazu. Den Fokus möchte ich auf andere Dinge richten. Danke."
"..., dann haben wir schon gewonnen"
Wer im viel zitierten "Klassiker" gegen Oranje eine Chance erhält, ist nebensächlich. Das betonte auch Löw, dem es wichtig war, festzuhalten: "Das Ergebnis wird nicht die entscheidende Rolle spielen. Ich wünsche mir sehr, dass die sportliche Rivalität in den Hintergrund tritt. Es wird für mich nicht der Maßstab sein, der es eigentlich gewesen wäre - nämlich ein Test für die EM."
Ohnehin ist es fraglich, inwiefern man bei den eingesetzten Spielern überhaupt von einer "Chance" sprechen kann. Vielmehr schultern Mario Gomez und Co. in der HDI Arena eine gewaltige Aufgabe. Denn die Mannschaft ist es, die "die Botschaft für Freiheit und Demokratie" nach außen trägt.
"Obwohl anfangs nicht alle spielen wollten, sind sie sich ihrer Vorbildfunktion als Nationalspieler bewusst und wollen diese Rolle auch annehmen", sagte Bierhoff, der das Spiel ganz vorsichtig auch als Möglichkeit betrachtet, die Ereignisse aus Paris zu verarbeiten: "Wir hoffen, dass die Spieler die Gedanken während des Spiels ablegen und wieder an den Sport denken können."
Doch auch dafür wird es noch ein paar Tage benötigen, betonte Löw: "Natürlich werden unsere Gedanken auch während des Spiels bei den Opfern und deren Angehörigen sein. Diese Partie findet mit ganz anderen Werten statt als sonst." Dem Bundestrainer ist am Dienstag nur eins wichtig: "Wenn wir das Spiel auf diese Art verstehen, haben wir unabhängig vom Ergebnis schon gewonnen."
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