SPOX: Herr Tanner, müssen wir uns Sorgen um den deutschen Nachwuchs machen? Wirklich viele Titel gab es in den letzten Jahren nicht. Erst vor wenigen Tagen scheiterte beispielsweise die U19 bei der EM im eigenen Land bereits in der Vorrunde.
Tanner: Es gibt ja nicht erst seit diesem Jahr Anzeichen dafür, dass der deutsche Nachwuchs der Musik hinterherläuft. Das Abscheiden der Klubs in der Youth League ist auch ein Indikator dafür, wie man im internationalen Vergleich dasteht. Da war dieses Jahr im Frühjahr schon keine einzige deutsche Mannschaft mehr dabei. Klar, manche legen die Priorität vielleicht auf die Liga, aber so ein eklatant schwaches Abschneiden darf einer Fußballnation wie Deutschland nicht passieren.
SPOX: Woran liegt das?
Tanner: Das hat viele Gründe. Offensichtlich werden vor allem im Training nicht immer die richtigen Ansätze verfolgt. Oft wird im Jugendbereich zu sehr passiv agiert und zu wenig aktiv Fußball gespielt. Wenn ich zu sehr auf das Verhindern aus bin, setze ich zu wenige und nicht die richtigen Reize. Zudem ist eine Förderung in den Bereichen Spielintelligenz und Kreativität so nicht groß möglich. Das ist keine Ausbildung.
SPOX: Das bedeutet, dass die Spieler im Training animiert werden, aktiv mitzudenken?
Tanner: Genau, ich muss die Jungs zum aktiven Fußballspielen anleiten. Das ist für mich in der Entwicklung einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren. Wenn sie jemanden so fordern, dass er immer hellwach sein muss, dann wird dieser Spieler sich komplett anders entwickeln.
SPOX: Muss denn nicht noch früher angesetzt werden?
Tanner: Ein Kind muss motorisch auf eine breitere Basis gestellt werden. Es wird in der heutigen Zeit immer wichtiger, dass sich ein Talent richtig bewegen kann. Durch diese motorischen Basisfähigkeiten lernen sie einerseits viel schneller, andererseits ist das Gelernte stabiler. Dazu ist es wichtig, die Kinder spielen und etwas ausprobieren zu lassen. Das sind alles Kleinigkeiten, die konzeptionell verankert werden können. Das Problem ist, dass die Umsetzung solcher Maßnahmen meistens unpopulär ist. Denn die Lorbeeren dafür gibt's meist erst zehn Jahre nach der Einführung. Wenn irgendwo etwas schief läuft, dann muss es ja immer schnell gehen. Aber so funktioniert der Jugend-Fußball halt nicht.
SPOX: Was wären konkrete Maßnahmen, die den DFB voranbringen könnten?
Tanner: Wir haben in Deutschland ja schon sehr viele positive Ansätze gehabt. Es gibt gute Strukturen und immer wieder wurde versucht, qualitativ nachzubessern. Das ist alles schön und gut. Was mir fehlt, sind innovative Überlegungen. Ein Beispiel: In Österreich gibt es in den Jugendmannschaften beispielweise keinen Abstieg. Somit wird den Trainern die Möglichkeit gegeben, ihre Teams offensiv auszurichten, ohne gleich um den Job fürchten zu müssen. Vor allem in den unteren Altersstufen bis zur U16 ist es eine Katastrophe, dass ein Abstieg überhaupt möglich ist.
SPOX: Wenn kein Abstieg möglich ist, ist gleichzeitig aber auch kein Aufstieg möglich. Zementiert das nicht die Vorherrschaft der oberen Klubs?
Tanner: Dieses Problem hat man auf der höchsten Ebene und vor allem in einem kleinen Land nahezu immer. Das hat nichts mit Auf- und Abstieg zu tun. Bekanntlich ist es aber immer schwieriger, die Spitze zu halten, als an sie zu kommen.
SPOX: Hansi Flick betonte zuletzt, dass die Spieler wieder individueller gefördert werden sollen. Ist das ein erster Ansatz?
Tanner: Individuelle Förderung hört sich natürlich super an. Athletiktraining ist beispielsweise seit langem schon individuell abgestimmt. Im Technik- und Taktikbereich ist das schon wieder etwas anderes. Da muss mir erst jemand genau erklären, wie er das machen will und welche Inhalte da wie trainiert werden sollen. Da sind noch zu viele Phrasen im Umlauf.
SPOX: Leipzig und Salzburg sind Vorzeigeklubs im Nachwuchs. Könnte sich der DFB hier nicht etwas abschauen?
Tanner: An beiden Standorten wird im Juniorenbereich tolle Arbeit geleistet. Wir haben mit Salzburg beispielsweise seit 2014 drei Mal in Folge die U19 Champions Trophy in Düsseldorf gewonnen, teilweise sogar noch mit deutlich jüngeren Spielern. Zudem haben mittlerweile die ersten beiden Jungs, die durch das neue Konzept ausgebildeten wurden, Einsätze im Profikader. Viele weitere sind in der Pipeline. Viel können wir also nicht falsch machen. Das reicht uns als Bestätigung.
SPOX: Sie sind vor vier Jahren nach Salzburg gewechselt. Was hat sich seitdem verändert?
Tanner: 2012 war der Ausbildungsstand der Spieler vor allem im taktischen Bereich in Salzburg nahezu bei null. Alle konnten ein wenig kicken und mit dem Ball umgehen. Sobald der Gegner dazu kam, war das aber zu wenig. Wir sehen nach knapp vier Jahren, dass die kommenden Jahrgänge einfach immer besser werden. Das ist ein klares Indiz dafür, dass wir den richtigen Hebel angesetzt haben.
SPOX: Bei der U19-EM schlug Deutschland Österreich dennoch mit 3:0. Wie ist das zu erklären?
Tanner: Die beiden Länder sind im Grunde in fußballerischer Hinsicht nicht zu vergleichen. Das fängt bei der Anzahl fußballspielender Kinder und Jugendlicher an und hört bei der Leistungsdichte in den Ligen auf. Wenn dann noch ein paar Leistungsträger von ihren Vereinen nicht abgestellt werden und dafür Jungjahrgänge zum Einsatz kommen, dann kann man auf Topniveau nicht mehr mithalten. Trotzdem hat sich Österreich gegen Italien und Portugal gut aus der Affäre gezogen. Gegen Deutschland fehlte dann am Ende sicher auch die Kraft.