Ernst Tanner gilt seit Jahren als ausgewiesener Experte im Bereich Nachwuchs. Seit 2012 ist der Ex-Hoffenheim-Manager Leiter der Nachwuchsabteilung bei Red Bull Salzburg und feiert dort zahlreiche Erfolge. SPOX sprach mit dem 49-Jährigen nach dem frühen Aus der deutschen U19 bei der Heim-EM. Tanner übt harte Kritik an der Nachwuchsförderung in Deutschland und erklärt, warum die Junioren international weit hinterherhinken. Auch Löws A-Mannschaft bekommt ihr Fett weg.
SPOX: Herr Tanner, müssen wir uns Sorgen um den deutschen Nachwuchs machen? Wirklich viele Titel gab es in den letzten Jahren nicht. Erst vor wenigen Tagen scheiterte beispielsweise die U19 bei der EM im eigenen Land bereits in der Vorrunde.
Tanner: Es gibt ja nicht erst seit diesem Jahr Anzeichen dafür, dass der deutsche Nachwuchs der Musik hinterherläuft. Das Abscheiden der Klubs in der Youth League ist auch ein Indikator dafür, wie man im internationalen Vergleich dasteht. Da war dieses Jahr im Frühjahr schon keine einzige deutsche Mannschaft mehr dabei. Klar, manche legen die Priorität vielleicht auf die Liga, aber so ein eklatant schwaches Abschneiden darf einer Fußballnation wie Deutschland nicht passieren.
SPOX: Woran liegt das?
Tanner: Das hat viele Gründe. Offensichtlich werden vor allem im Training nicht immer die richtigen Ansätze verfolgt. Oft wird im Jugendbereich zu sehr passiv agiert und zu wenig aktiv Fußball gespielt. Wenn ich zu sehr auf das Verhindern aus bin, setze ich zu wenige und nicht die richtigen Reize. Zudem ist eine Förderung in den Bereichen Spielintelligenz und Kreativität so nicht groß möglich. Das ist keine Ausbildung.
imagoSPOX: Das bedeutet, dass die Spieler im Training animiert werden, aktiv mitzudenken?
Tanner: Genau, ich muss die Jungs zum aktiven Fußballspielen anleiten. Das ist für mich in der Entwicklung einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren. Wenn sie jemanden so fordern, dass er immer hellwach sein muss, dann wird dieser Spieler sich komplett anders entwickeln.
SPOX: Muss denn nicht noch früher angesetzt werden?
Tanner: Ein Kind muss motorisch auf eine breitere Basis gestellt werden. Es wird in der heutigen Zeit immer wichtiger, dass sich ein Talent richtig bewegen kann. Durch diese motorischen Basisfähigkeiten lernen sie einerseits viel schneller, andererseits ist das Gelernte stabiler. Dazu ist es wichtig, die Kinder spielen und etwas ausprobieren zu lassen. Das sind alles Kleinigkeiten, die konzeptionell verankert werden können. Das Problem ist, dass die Umsetzung solcher Maßnahmen meistens unpopulär ist. Denn die Lorbeeren dafür gibt's meist erst zehn Jahre nach der Einführung. Wenn irgendwo etwas schief läuft, dann muss es ja immer schnell gehen. Aber so funktioniert der Jugend-Fußball halt nicht.
SPOX: Was wären konkrete Maßnahmen, die den DFB voranbringen könnten?
Tanner: Wir haben in Deutschland ja schon sehr viele positive Ansätze gehabt. Es gibt gute Strukturen und immer wieder wurde versucht, qualitativ nachzubessern. Das ist alles schön und gut. Was mir fehlt, sind innovative Überlegungen. Ein Beispiel: In Österreich gibt es in den Jugendmannschaften beispielweise keinen Abstieg. Somit wird den Trainern die Möglichkeit gegeben, ihre Teams offensiv auszurichten, ohne gleich um den Job fürchten zu müssen. Vor allem in den unteren Altersstufen bis zur U16 ist es eine Katastrophe, dass ein Abstieg überhaupt möglich ist.
SPOX: Wenn kein Abstieg möglich ist, ist gleichzeitig aber auch kein Aufstieg möglich. Zementiert das nicht die Vorherrschaft der oberen Klubs?
Tanner: Dieses Problem hat man auf der höchsten Ebene und vor allem in einem kleinen Land nahezu immer. Das hat nichts mit Auf- und Abstieg zu tun. Bekanntlich ist es aber immer schwieriger, die Spitze zu halten, als an sie zu kommen.
SPOX: Hansi Flick betonte zuletzt, dass die Spieler wieder individueller gefördert werden sollen. Ist das ein erster Ansatz?
Tanner: Individuelle Förderung hört sich natürlich super an. Athletiktraining ist beispielsweise seit langem schon individuell abgestimmt. Im Technik- und Taktikbereich ist das schon wieder etwas anderes. Da muss mir erst jemand genau erklären, wie er das machen will und welche Inhalte da wie trainiert werden sollen. Da sind noch zu viele Phrasen im Umlauf.
SPOX: Leipzig und Salzburg sind Vorzeigeklubs im Nachwuchs. Könnte sich der DFB hier nicht etwas abschauen?
Tanner: An beiden Standorten wird im Juniorenbereich tolle Arbeit geleistet. Wir haben mit Salzburg beispielsweise seit 2014 drei Mal in Folge die U19 Champions Trophy in Düsseldorf gewonnen, teilweise sogar noch mit deutlich jüngeren Spielern. Zudem haben mittlerweile die ersten beiden Jungs, die durch das neue Konzept ausgebildeten wurden, Einsätze im Profikader. Viele weitere sind in der Pipeline. Viel können wir also nicht falsch machen. Das reicht uns als Bestätigung.
SPOX: Sie sind vor vier Jahren nach Salzburg gewechselt. Was hat sich seitdem verändert?
Tanner: 2012 war der Ausbildungsstand der Spieler vor allem im taktischen Bereich in Salzburg nahezu bei null. Alle konnten ein wenig kicken und mit dem Ball umgehen. Sobald der Gegner dazu kam, war das aber zu wenig. Wir sehen nach knapp vier Jahren, dass die kommenden Jahrgänge einfach immer besser werden. Das ist ein klares Indiz dafür, dass wir den richtigen Hebel angesetzt haben.
SPOX: Bei der U19-EM schlug Deutschland Österreich dennoch mit 3:0. Wie ist das zu erklären?
Tanner: Die beiden Länder sind im Grunde in fußballerischer Hinsicht nicht zu vergleichen. Das fängt bei der Anzahl fußballspielender Kinder und Jugendlicher an und hört bei der Leistungsdichte in den Ligen auf. Wenn dann noch ein paar Leistungsträger von ihren Vereinen nicht abgestellt werden und dafür Jungjahrgänge zum Einsatz kommen, dann kann man auf Topniveau nicht mehr mithalten. Trotzdem hat sich Österreich gegen Italien und Portugal gut aus der Affäre gezogen. Gegen Deutschland fehlte dann am Ende sicher auch die Kraft.
SPOX: Wie bewerten Sie das Auftreten der deutschen A-Nationalmannschaft bei der EM in Frankreich?
Ernst Tanner: Ich sehe es deutlich kritischer als viele andere. Deutschland spielt zum Beispiel einen Stil, der sehr stark auf Dominanz ausgerichtet ist. Uns fehlen jedoch die Waffen, um das auch in Tore umzumünzen. Dann muss die Frage gestellt werden, ob das zielführend ist.
SPOX: Das heißt, uns fehlt ein Sturmtank der Marke Gomez?
Tanner: Nein, überhaupt nicht. Es geht vielmehr um die Spielidee. Wenn ein Team nach einer Balleroberung nicht ins Risiko geht und zielgerichtet und schnell nach vorne spielt, wird es heutzutage extrem schwer, Tore zu schießen. Insbesondere wenn auf bestimmen Positionen schlichtweg die Geschwindigkeit fehlt. Damit meine ich sowohl die physische Schnelligkeit als auch die spieldynamische. Gegen vermeintlich schwächere Gegner haben sich die Deutschen auch noch Torchancen herausgespielt, keine Frage. Im Spiel gegen Italien und Frankreich sah das schon anders aus. Da hatten wir kaum Möglichkeiten und haben hinten recht viel zugelassen.
SPOX: Sie schlagen also vor, dass Deutschland wieder wegkommen muss vom dominanten Ballbesitz-Fußball?
Tanner: Meiner Meinung nach schon. Es ist bekannt, dass man Tore in der heutigen Zeit relativ schnell nach der Balleroberung erzielen muss. Denn eigentlich hat man gegen organisierte Teams nur wenige Sekunden Zeit, um den Ball nach vorne und durch Lücken zu spielen. Danach ist alles sofort wieder zu. Wenn man sich in Deutschland daran ergötzt, 80 Prozent Ballbesitz zu haben und ellenlange Ballstafetten zu spielen, dann verkennt man den Zahn der Zeit. Das ist zum Teil langweiliges Ballgeschiebe und eröffnet dem Gegner zudem die Möglichkeit zum Pressing.
SPOX: Der FC Barcelona spielt mit so viel Ballbesitz allerdings seit Jahren äußerst erfolgreich.
Tanner: Klar, Barca kann das auch machen. Die haben Neymar, Messi und Suarez vorne drin und spielen im Hinblick auf Spielwitz und Tempo in einer anderen Liga. Mit diesen Stars kann auch eine stabile Abwehr ausgehebelt werden. Deutschland hat aber diese Spieler nicht, deshalb muss man sich was anderes überlegen.
SPOX: Wie könnte so etwas aussehen? Vor allem gegen tiefstehende Gegner tat sich der DFB ja zuletzt äußerst schwer.
Tanner: Die destruktive Spielweise ist ja nicht neu. Chelsea hat das beispielsweise vor Jahren schon erfolgreich vorgemacht. Wer gegen tiefstehende Mannschaften erfolgreich sein will, muss sowohl gegen als auch mit dem Ball unglaublich schnell und dynamisch agieren. Im Grunde muss man so einen Gegner packen, wo es nur geht und immer wieder schnell und dynamisch von allen Seiten in den Strafraum spielen. Aber das ist mit Risiko verbunden, alles andere als einfach und muss zwingend im Training geübt werden. Die hohe Kunst ist es, die Räume dahinter geordnet zuzustellen und Konter so zu unterbinden. Es ist ein sehr intensives Spiel, für das auch eine gewisse Fitness nötig ist. Wenn die nicht vorhanden ist, kann ich es nicht spielen.
SPOX: Herrscht beim DFB denn eine zu große Zufriedenheit für solch einschneidende Veränderungen? Schließlich war Deutschland seit 2006 bei den großen Turnieren stets mindestens im Halbfinale und ist aktueller Weltmeister.
Tanner: Deutschland hat meines Erachtens auch bei der WM 2014 außer gegen Brasilien keinen berauschenden Fußball gespielt, sondern war seinen Gegnern qualitativ in vielen Bereichen und als Mannschaft insgesamt klar überlegen. Die aktuelle EM war generell auf einem äußerst schwachen Niveau. Keine einzige Mannschaft hat es geschafft, seine Dominanz auf die Anzeigetafel zu bringen oder ist durch einen besonderen Spielstil aufgefallen. Das wirft natürlich Fragen auf, die sich auch der deutsche Fußball zwingend stellen muss: Warum hat der Ballbesitz-Fußball nicht funktioniert? Was muss ich in der Zukunft ändern? Und welche Spieler habe ich überhaupt in Zukunft? Darauf müssen Antworten gefunden und Rückschlüsse gezogen werden.
SPOX: Muss auch die Frage nach Dreier- oder Viererkette geklärt werden? spox
Tanner: Im Nachhinein ist es immer einfach zu reden. Aber ich finde, dass die Analysen im TV und den Medien das Problem überhaupt nicht erkannt haben. Da wurde ja tagelang über diese Abwehrumstellung philosophiert. Das trifft nicht ansatzweise den Kern. Generell war das doch keine schlechte Idee. Gegen die zwei lahmen Stürmer der Italiener brauchst du ja nicht viel verteidigen, da reichen unsere drei Verteidiger sowieso. Aus der Mitte und vorne kam dann von den Deutschen halt zu wenig, obwohl Italien keine Raketen hinten drin hat.
SPOX: Wird denn nicht grundsätzlich zu viel in einzelne Systeme hineininterpretiert?
Tanner: Auf jeden Fall. Ich bin beispielsweise überhaupt kein Systemfanatiker. Ob jetzt ein Team in einem 4-3-3 oder in einem 4-1-4-1 spielt, ist völlig egal. Das sind auf dem Spielfeld ein paar Meter Unterschied. Für mich ist die zugrundeliegende Spielidee viel entscheidender. Es geht um das schnelle Umschalten, um kognitive Prozesse, Antizipation, schnelle Entscheidungsfindung und vor allem temporeiche Ausführung. Das alles muss verinnerlich werden.
SPOX: Gibt es also eine so große mediale Diskussion, weil viele durchschnittlich interessierte Fans sich an diese Zahlen klammern?
Tanner: Das ist genau das Problem. Viele verstehen nicht, was auf dem Feld passiert und können die Dinge nicht nachvollziehen. Durch die Ballorientierung weichen wir den Systemgedanken ja nahezu komplett auf. Diese Philosophie kennt keine Positionstreue und hat thematisch einen ganz anderen Ansatz. Die beiden Begriffe sind eigentlich im Grunde widersprüchlich.