Eine Stunde nach Abpfiff saß Toni Kroos noch in der Kabine in den Katakomben des Olympiastadions. Seine Teamkollegen waren bereits an den wartenden Journalisten in der Mixed Zone vorbeimarschiert, entweder wortlos oder aber entsprechend reumütig ob der gezeigten Leistung. Nun wurde gewartet - denn Kroos müsse erst noch "überredet" werden, sich der Presse zu stellen.
Die herbe Kritik an eben jenen Teamkollegen, die Kroos direkt nach Abpfiff beim ZDF geäußert hatte, hatte sich schließlich schon herumgesprochen. Und so wollte man wissen, ob er noch eins drauflegen würde. Oder ob er vielleicht ein bisschen relativieren würde. Wie Jerome Boateng zum Beispiel, der nach dem 1:1 gegen Spanien noch gesagt hatte, "alles" müsse besser werden - und dann etwas überrascht schien von der Wirkung dieser Aussage.
Schließlich kam Kroos doch noch aus der Kabine. Und als er keinen Zoll abrückte von seinem Rundumschlag, war klar: Deutschland hat wieder einen Capitano.
Kroos liest Teamkollegen die Leviten: Ohne Leistung keine Ansprüche
Geärgert habe ihn das lasche Auftreten des Einen oder Anderen gegen die Selecao, wiederholte Kroos. Statt des unbedingten Willens, sich in den Fokus und vielleicht sogar in die WM-Startelf zu spielen, hatte der Superstar von Real Madrid unnötige Ballverluste ausgemacht, hängende Schultern und einen Schlendrian, der ihn gut 80 Tage vor Beginn der Weltmeisterschaft in Rage versetzte.
Natürlich, es war nur ein Testspiel, mit durchgewürfelter Startelf, direkt vor den entscheidenden Wochen in der Liga und den Pokalwettbewerben. Doch die Botschaft war klar: Wer sich in einem solchen Spiel - im ausverkauften Olympiastadion, gegen den auf Rache sinnenden Rekordweltmeister - nicht zur Höchstleistung anzuspornen vermag, der vermag auch keine Ansprüche auf einen Einsatz gegen Mexiko am 17. Juni zu stellen. Vielleicht nicht einmal auf einen Platz im 23-Mann-Kader.
Mit 28 Jahren ist Toni Kroos auf dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen. 2014 war er als frischgebackener Weltmeister zu den Königlichen gewechselt und dort zu einem der besten Spieler des Planeten gereift. Jetzt, nach drei Champions-League-Titeln in vier Jahren, will er in Russland die Rolle ausfüllen, die einst ein Michael Ballack ausfüllte, oder das Duo Schweinsteiger/Lahm in Brasilien.
Und mit Deutschland den WM-Titel verteidigen, als erstes Team seit 56 Jahren. Gelingt das, würde Kroos aufsteigen in die Reihe der ganz großen Legenden der DFB-Geschichte.
Kroos als Taktgeber der Nationalmannschaft
Dem Bundestrainer wird es gefallen haben, mit welcher Schärfe, mit welcher Deutlichkeit sein Führungsspieler die Mitspieler zur Ordnung rief. War er es doch gewesen, der mit vielen Wechseln das Ergebnis explizit zur Nebensache erklärt hatte. Oder auch Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff, der den Konkurrenzkampf um die Kaderplätze mit der Bemerkung entschärft hatte, dass ohnehin nur noch drei oder vier Spieler realistische Chancen hätten, auf den WM-Zug aufzuspringen.
Kroos hingegen konstatierte am Dienstagabend, dass man "auf gewissen Positionen" schlicht und ergreifend nicht gut genug gewesen sei - eine derartige Kollegenschelte sieht man heutzutage nur noch selten. Leon Goretzka brachte es seinerseits auf den Punkt: Kroos sei "mit Sicherheit in der Position, Kritik zu äußern - und deshalb werden das alle annehmen."
Diese schonungslose Selbstreflexion könnte das entscheidende Prozent sein auf dem Weg ins Finale am 15. Juli. Denn weit weg ist die Löw-Elf nicht entfernt vom großen Ziel, trotz der jetzt vier Spiele ohne Sieg gegen starke Gegner. Der Kader ist tief, erfahren und doch jung genug, die Startelf wird gespickt sein mit Weltklasse unterschiedlichster Couleur.
In dieser Startelf wird Toni Kroos den Taktstock schwingen. Am Dienstag wurde deutlich, dass er mittlerweile auch abseits des Rasens den Takt vorgibt.
Kroos beim DFB: Das Abschneiden bei Turnieren
Turnier | Abschneiden | Jahr |
Weltmeisterschaft | Weltmeister | 2014 |
Weltmeisterschaft | Dritter | 2010 |
Europameisterschaft | Halbfinale | 2016 |
Europameisterschaft | Halbfinale | 2012 |