Hin und wieder kommt man recht nah an Joachim Löw heran - 'lässt er nah an sich heran', müsste man wohl präzisieren. Wie etwa im Interview mit dem Kurier vor wenigen Tagen, als er Motivationsprobleme nach dem WM-Titel 2014 offenbarte. "Lass mich in Ruhe, ich will nichts mehr wissen vom Weltmeister", bekam sein Berater im Urlaub auf Sardinien zu hören. "Was wollen wir jetzt eigentlich?", habe er sich selbst gefragt.
Normalerweise kommt man nicht sonderlich nah an Joachim Löw heran, sondern muss eine gewisse Distanz wahren. Auf dem Trainingsgelände von ZSKA Moskau etwa: Die Mannschaft ist noch im Zelt, er jedoch schon auf dem Platz. Er spielt ein paar Bälle, versucht ein paar Kunststückchen. "Gehört das jetzt schon zu den 15 Minuten öffentlichem Training?", scherzen die Journalisten und Fotografen hinter dem Absperrband. Löw jongliert. Klick.
Und manchmal lässt Löw an sich heran, um zu Protokoll zu geben, dass er lieber nicht so gerne an sich heran lässt. Flughäfen und Bahnhöfe seien ihm ein Graus, verrät er, wieder dem Kurier: "Da hast du keine Sekunde Ruhe. Wenn ich zum Beispiel im Zug sitze und es steigen Fans ein und die erkennen mich und singen ein Lied. Ehrlich, da würde ich manchmal am liebsten aus dem Fenster springen."
Im abseits gelegenen und abgeschotteten Vatutinki droht Löw dieses Schicksal nicht. Die 80 Millionen Bundestrainer in der Heimat müssen mit Pressekonferenzen und kurzen TV-Auftritten vorlieb nehmen. Fünf Minuten hier, eine halbe Stunde dort. Fliegender Wechsel zwischen Mikro, Wasserglas und Espresso-Tasse. Stirnrunzeln. Nachdenklicher Blick. Lobgesänge nur aus sicherer Entfernung, von den Kindern der deutschen Schule aus Moskau auf der Tribüne. So hat er es am liebsten.
Obwohl es doch seine Mission ist, den Fans in den Sitzen neben ihm neue Munition zu geben: der fünfte Stern. Die Titelverteidigung, es wäre die erste seit 1962.
Zwölf Jahre Löw: In einer Reihe mit Herberger, Schön und Beckenbauer
Alle zwei Jahre steht der mittlerweile 58-Jährige aus dem Breisgau für rund zwei Monate im Fokus der Öffentlichkeit wie sonst nur seine hochbezahlten Stars. Die WM 2018 ist sein sechstes großes Turnier als Cheftrainer - sein siebtes, wenn man den Confederations Cup von 2017 mit einberechnet. Wer nach der Jahrtausendwende geboren wurde, kennt kein Leben ohne den Bundes-Jogi mit der ewig gleichen Frisur, dem badischen Einschlag und dem charakteristischem, geräuschvollen Luftholen vor einer Antwort.
Sechs Turniere, sechsmal mindestens Halbfinale. Löw steht in einer Reihe mit Sepp Herberger, Helmut Schön und Franz Beckenbauer. Ein Sieg am 15. Juli im Luschniki-Stadion und er hätte sie allesamt überflügelt. Das Meisterstück hat er in Brasilien abgeliefert. Diesmal ... was ist eigentlich die Steigerungsform von "unsterblich"?
Im Laufe der zwölf Jahre hat sich ein Bild von Löw geformt. 80 Millionen Bilder, um genau zu sein, keins so wie das andere. Mosaike, bestehend aus Versatzstücken von nah und fern, von blauen Strenesse-Pullovern, Interviews, Kader-Entscheidungen, Aufstellungen, Taktiken und natürlich Ergebnissen.
Löw in der Öffentlichkeit: Kaum Kritik am Weltmeistertrainer
Spätestens seit 2014 hat Löw in der deutschen Öffentlichkeit eigentlich Narrenfreiheit. Dass er mit Manuel Neuer einen Torhüter ohne Matchpraxis mitnimmt oder mit Leroy Sane den besten Jungprofi der Premier League streicht, verursacht im Ausland wesentlich größere Schlagzeilen. Natürlich gibt es auch daheim Fragezeichen, doch die enden in aller Regel mit "In Jogi we trust!" Der Erfolg gibt ihm doch Recht.
Schwache Ergebnisse in der Vorbereitung? Ein knappes 2:1 gegen Saudi-Arabien, das mal eben mit 0:5 gegen Russland verliert? Wird schon noch, wird schon noch. Turniermannschaft, habt ihr vergessen?
Auf der anderen Seite gibt es ein kleines gallisches Dorf, dessen Bewohner sich Löw partout nicht ergeben wollen. Sie weisen auf den größten deutschen Talente-Pool seit Jahrzehnten hin, auf das grässlich vercoachte EM-Halbfinale 2012 und die Tatsache, dass er vor vier Jahren Philipp Lahm stur ins Mittelfeld stellte und erst durch Shkodran Mustafis Verletzung zu seinem Glück gezwungen wurde. Es gibt sie, diese Kritiker, doch in der Öffentlichkeit finden sie nicht statt.
Es bräuchte ein sportliches Erdbeben, um die beiden Lager zu erschüttern. Das Aus in der Vorrunde oder aber den golden schimmernden WM-Pokal. Ersteres ist kaum vorstellbar, letzteres zumindest noch weit weg.
Joachim Löw als Trainer der Widersprüche
Löw selbst ist längst im Tunnel. Er weiß, dass noch viel Arbeit vor ihm liegt, um zu verhindern, dass aus dem Weltmeister eine "durchschnittliche" Mannschaft wird, die das gleiche Schicksal ereilt wie 2014 Spanien oder 2010 Italien. Die mäßige Vorbereitung hat den Druck noch einmal erhöht, wenn das überhaupt möglich ist vor dem größten und wichtigsten Turnier der Welt.
Da schert es ihn auch nicht, dass er widersprüchliche Signale aussendet. "Wir wollen immer irgendwie Trendsetter sein", erklärte er beispielsweise. "Deswegen schauen wir in die Zukunft. Wir sind auch so ein bisschen Visionäre und überlegen uns manchmal völlig verrückte Dinge, auch wenn sie noch so absurd erscheinen." Das von ihm favorisierte 4-2-3-1 ist allerdings schon fast traditionell, die falsche Neun längst ad acta gelegt. Überraschungen sind bei Löw Mangelware.
Oder die hochgelobte Scouting-Abteilung, technisch mit allem Pipapo. Stolz wurde die Partnerschaft mit SAP auf der Pressekonferenz am Freitag vorgezeigt - bevor Oliver Bierhoff zugab, dass letzten Endes doch das Bauchgefühl des Bundestrainers entscheidend sei und die Datenflut nur einen minimalen Einfluss habe.
Den nach 2014 beschlossenen radikalen Neuanfang sucht man ebenfalls vergebens. "Wir haben dann im Trainerteam beschlossen, dass wir alles verändern müssen. Die Abläufe, die Systeme, auch die Spielweise. Nichts sollte mehr so bleiben, wie es war", verriet Löw darüber, wie er sich damals selbst neu motiviert habe. Vier Jahre später dürften gegen Mexiko sechs Spieler aufgestellt werden, die auch schon im Finale 2014 gegen Argentinien in der Startelf standen.
"Absolut weiterentwickelt": Löw ist bei den Spielern beliebt
Der Vorteil: Er kennt die Spieler, die Spieler kennen ihn. Löw gebe der Mannschaft ein gutes Gefühl, lobte Jerome Boateng am Donnerstag, er schenke den Spielern Vertrauen, welches diese dann zurückzahlten. "Als Trainer hat er sich absolut entwickelt", fügte Toni Kroos hinzu. "Von der Ansprache, vom Detail her, was er von uns verlangt, wie er uns auf auf Gegner einstellt." Löw sei "ein absoluter Toptrainer."
Einer, der es versteht, im Kreis seiner Spieler anders aufzutreten als in der Öffentlichkeit. "Die Gelassenheit, die er mitbringt, tut der Mannschaft unglaublich gut", sagte etwa Sami Khedira. Löw sei "nicht mehr so verbissen" wie früher. Eine erstaunliche Erkenntnis angesichts der Tatsache, dass der Bundestrainer in den letzten zwei Jahren permanent als Mahner auftrat und predigte, dass es ungleich schwerer werde als noch 2014.
Andererseits ist es keine Überraschung. Gerade die Achse erfahrener Kräfte wie Neuer, Boateng, Kroos oder Müller: Alle sind sie schon seit 2010 dabei, womöglich bleiben sie wie Löw bis zur WM 2022 in Katar. Natürlich lässt Löw sie näher an sich heran als die Öffentlichkeit.
Sie singen ihm schließlich auch keine unangenehmen Lieder.