Nach der Auftaktniederlage des DFB-Teams gegen Mexiko bei der WM 2018 ist die Diskussion über Mesut Özil einmal mehr hochgekocht. Mehr denn je stellt sich die Frage: Sollte Bundestrainer Joachim Löw an Özil festhalten oder sollte er ihn im zweiten Gruppenspiel gegen Schweden auf die Bank setzen? Die SPOX-Redakteure Stefan Petri und Jochen Rabe diskutieren im Kopfballpendel.
Pro Özil in der Startelf: "Löw darf vor der Diskussion nicht einknicken"
Von SPOX-Redakteur Jochen Rabe
Die Diskussion um Mesut Özil ist nichts Neues. In den letzten Tagen hat die öffentliche Debatte allerdings eine Dynamik aufgenommen, die Bundestrainer Joachim Löw vor dem zweiten Gruppenspiel bei der WM gegen Schweden quasi die Pistole auf die Brust setzt. Der Tenor: Jetzt ist das Maß voll, Löw muss Özil endlich aus der Mannschaft nehmen.
Vor dieser Diskussion wird Löw nicht einknicken. Das darf er auch nicht, denn damit würde er einerseits sich selbst und seine Überzeugung verleugnen, andererseits würde er Özil so aus der Rechnung nehmen, das Turnier wäre für ihn gelaufen.
Die Argumente, Özil ausgerechnet jetzt aus dem Team zu nehmen, sind dünn. Sehr dünn. Zumal verschiedene Ebenen in der Debatte verschwimmen. Das Gefühl verfestigt sich, dass tiefere Gründe hinter der Abneigung gegen Özil liegen.
Mesut Özil, das Erdogan-Foto und die Hymnen-Diskussion
Es ist korrekt, dass Özil mit dem Erdogan-Foto einen Fehler gemacht hat. Die Kommunikation rund um den Termin und die damit gesandte Botschaft war extrem unglücklich.
Das rechtfertigt jedoch ebenso wenig die Ableitung eines Unwohlseins, im DFB-Trikot aufzulaufen, wie die absurde Hymnen-Diskussion.
Dass ein ordentlicher deutscher Nationalspieler aus voller Brust die Hymne mitsingen und am besten dabei noch weinen soll, ist folkloristischer Populismus. Die Weltmeister von 1974 blieben beim Erklingen der deutschen Nationalhymne alle stumm. Das war damals normal. Warum auch nicht?
Joachim Löw kennt Mesut Özil als Spieler und Mensch
Löw arbeitet seit vielen Jahren mit Özil zusammen. Er kennt ihn als Spieler und Mensch und vertraut ihm. Ganz sicher kann der Bundestrainer besser beurteilen als mancher lautstarker Experte, ob sich Özil in der Nationalmannschaft wohlfühlt und ob er ihn infolgedessen in seinem Team haben möchte.
Diese Frage hat Löw mit Ja beantwortet. Daran wird auch der Auftritt bei der Niederlage gegen Mexiko nichts ändern.
Özil war gegen Mexiko schwach, keine Frage. Aber wenn man daraus ableitet, dass er sich im Trikot der Nationalmannschaft unwohl fühle, könnte man Sami Khedira, Toni Kroos, Thomas Müller, Timo Werner, Mats Hummels - ach, der ganzen Mannschaft den gleichen Vorwurf machen. Die Leistung war kollektiv schwach. Sich Özil herauszupicken, legt andere Beweggründe offen.
Mesut Özils negative Körpersprache
Natürlich hat Özil keine positive Körpersprache. Sein apathischer Blick, seine hängenden Schultern und seine undynamisch wirkenden Bewegungen sorgen seit dem ersten Tag seiner Karriere dafür, dass ihm nach einem schwächeren Spiel die Motivation abgesprochen wird. Das ist im Verein so, das ist in der Nationalmannschaft so. Diesen Habitus wird er nicht mehr ändern.
Mit dieser Körpersprache stand Özil nun aber schon 26 Spiele in Folge bei großen Turnieren für Deutschland auf dem Platz. Und das Abschneiden des DFB-Teams bei Europa- und Weltmeisterschaften war in dieser Phase sehr erfolgreich.
Özil zeigte in dieser Phase, dass er alles für das Team geben möchte. Er schoss entscheidende Tore, zog in Drucksituationen bei Elfmetern nicht den Schwanz ein und stand nicht zuletzt vor vier Jahren beim WM-Titel in Brasilien in allen Spielen auf dem Platz.
Mesut Özil kann dem DFB-Team etwas Besonderes geben
Löw vertraut Özil, weil er der Mannschaft etwas geben kann, was ihr sonst niemand geben kann.
Selbst wenn er gefühlt kaum an einem Spiel teilnimmt, hat er immer seine Momente, spielt trotzdem in jeder Partie drei, vier Pässe in Räume, die sonst niemand sieht. Seine kreative Qualität ist im deutschen Kader nach wie vor einzigartig. Nicht umsonst hat Özil seit seinem Wechsel in die Premier League - nicht gerade eine Wald-und-Wiesen-Liga - mehr Assists gegeben als jeder andere.
Joachim Löw wird Mesut Özil das Vertrauen nicht entziehen - zu Recht
Die Partie gegen Mexiko gab keine Grundlage, das Vertrauen in diese Qualitäten zu verwerfen. Weil eben niemand auf dem Höhepunkt seines Schaffens war.
Deswegen wird Löw Özil beim Spiel gegen Schweden dieses Vertrauen auch nicht entziehen. Zu Recht. Wenn er das zum jetzigen Zeitpunkt tut, positioniert er sich gegen seine eigene Überzeugung. Er würde zum Umfaller vor populistischen Forderungen, die keiner logischen Argumentationslinie folgen.
Das würde nicht zu seinem Verhalten in seiner Amtszeit passen. Zu einer sturen Überzeugung, die ihm zwar wie 2012 vor die Füße fiel, die ihn aber letztlich auch zum Weltmeister-Trainer machte.
Contra Özil in der Startelf: "Es gibt sportliche Gründe gegen Özil"
Von SPOX-WM-Reporter Stefan Petri
Warum sollte Löw daran denken, Özil auf der Bank zu lassen?
Die öffentliche Diskussion, die es dieser Tage in Deutschland gibt, ist Käse. Insofern, als dass sie sich von der Diskussion um andere, zuletzt ebenfalls schwache Spieler, unterscheidet. Fühlt er sich "unwohl" im DFB-Trikot? Aufgrund der Pfiffe gegen die Erdogan-Fotos vielleicht, die er sich selbst zuzuschreiben hat. Irgendwelche abstrakten, tieferliegenden Gründe herbei zu spekulieren, ist ebenso stumpf wie sinnlos.
Körpersprache? Auch daran sollte sich mittlerweile jeder gewöhnt haben - er wird kein Spartakus mehr werden. Der eine oder andere, nicht hämisch gemeinte (!) Flachs über physische Eigenheiten, kann dabei sogar amüsant sein. Angriffe unter die Gürtellinie wie "toter Frosch", nur um damit die Schlagzeilen zu beherrschen, sollte man entweder sein lassen oder ignorieren.
Es ist wohlgemerkt eine andere Frage, ob ein Spieler mit einer anderen Ausstrahlung nicht positiv auf das Spiel einwirken könnte, indem er einerseits die eigenen Mitspieler mitreißt und andererseits dem Gegner allein durch seine Präsenz Respekt einflößt. Dieser Meinung zu sein, ist nicht verwerflich. Das jetzt, nach so vielen Jahren, von Özil einzufordern ist jedoch müßig, die Diskussion darüber deshalb sekundär.
Pro oder Contra Özil: Löw muss aus sportlicher Sicht entscheiden
Gibt es Ablehnung gegen Özil, die tiefer geht als seine Leistung oder die Erdogan-Affäre? Die vielleicht sogar im einen oder anderen Fall ausländerfeindliche Züge trägt? Das mag sein - aber Wasser auf die Mühlen irgendwelcher Populisten, für die Özils Herausnahme fehlgeleitete Genugtuung wäre, spielt in dem Fall keine Rolle - so hart das klingt.
Özil auf der Bank, weil Hinz und Kunz in der Heimat laut kreischen, ist ein schwachsinniger Grund. Aber Achtung: Özil in der Startformation zu lassen, weil Hinz und Kunz laut kreischen und man ihnen diese Genugtuung nicht gönnt, ist das Gleiche in grün. Beides hätte mit der Leistung auf dem Platz nichts zu tun - und wäre Löw deshalb auch herzlich egal, davon bin ich überzeugt.
Kurz und gut: Eine Startelf ohne Özil kann nur zwei Gründe haben. Entweder ist der 29-Jährige nach der Erdogan-Affäre psychisch so mitgenommen, dass er keine Leistung bringen kann. Dafür gibt es genau null Anhaltspunkte.
Özils Statistiken überzeugen nicht - macht er das Team besser?
Oder aber es hat sportliche Gründe. Und die gibt es. Özil hat in den letzten zwei Turnieren jedes Spiel von Beginn an bestritten, in 13 Partien (plus drei Verlängerungen) kaum mehr als eine halbe Stunde verpasst. Heraus sprangen zwei Tore (eins davon in der 119. Minute zum 2:0 gegen Algerien 2014) und zwei Vorlagen (eine davon in der zweiten Minute der Nachspielzeit zum 2:0).
Dem gegenüber stehen mittlerweile einfach zu viele Spiele, in denen er unsichtbar bis schwach agierte. Natürlich hat er ein feines Füßchen, natürlich kann er tolle Pässe spielen. Aber diese Tatsache allein rechtfertigt keinen ewigen Stammplatz. Zumal er schließlich auch seine Schwächen hat.
Seit 2010 vertraut Löw in großen Turnieren immer auf den Spielmacher. Diese Serie darf jedoch nicht um ihrer selbst willen Bestand haben. Es lief fast immer gut, das ist wahr: immer mindestens Halbfinale. Im Moment läuft es jedoch alles andere als gut. Özil ist ein Spieler, der ein gutes Team besser macht - aber vom Typ her nicht unbedingt der, der ein mäßiges Team gut macht. Nach dem Mexiko-Spiel wird über Khedira diskutiert, über Draxler, Müller, Werner, die Dreierkette ... warum nicht Özil?
Neue Dynamik durch Draxler, Reus oder Müller
Er ist der einzige Spielertyp seiner Art im Kader. Möglich, dass er fehlen würde. Aber wer weiß, ob nicht ein Reus oder Draxler hinter den Spitzen eine ganz neue Dynamik ins Spiel bringen würden? Mehr Dribblings, Sprints, Zug zum Tor, Torgefahr? Oder ein Thomas Müller als Raumdeuter zwischen den Spitzen? Den Spielmacher gegen tief stehende Schweden könnte auch ein Kroos oder Gündogan geben.
Ich glaube ehrlich gesagt nicht daran, dass Löw von Özil abrückt. Aber für mich nehmen die Argumente, es einfach mal mit einem anderen Spieler in der Zentrale zu versuchen, langsam überhand. Ist das Spiel gegen Schweden dafür der falsche Zeitpunkt? Wer weiß: Vielleicht wäre es auch die Initialzündung für einen Lauf tief die K.o.-Runde. Hat es früher schließlich auch schon gegeben.