Erdogan-Affäre: Özil, Löw, Bierhoff, Grindel - wie geht es weiter?

Stefan Petri
09. Juli 201814:56
Die erste Aussprache im Mai: Löw, Özil, Grindel, Gündogan, Bierhoff (v.l.).getty
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Nach den Aussagen von Oliver Bierhoff und DFB-Präsident Reinhard Grindel schlägt die Diskussion um Mesut Özil neue Wellen. SPOX nimmt die Protagonisten der Erdogan-Affäre unter die Lupe: Wie könnte Bundestrainer Joachim Löw reagieren? Was bedeutet die Medienoffensive von Bierhoff und Grindel? Und welche Möglichkeiten bleiben Mesut Özil? Fest steht: Es wird nicht leicht...

1. Bundestrainer Joachim Löw

Dass Löw im Mai nachsichtig auf die Fotos mit dem türkischen Präsidenten reagierte, mag angesichts der Tatsache, dass er auf die gleiche Berateragentur vertraut wie Özil und Gündogan, nicht verwundern. Es sei "keine glückliche Aktion" gewesen und "eine Lehre für sie". Er habe allerdings Verständnis dafür, dass "in deren Brust auch manchmal zwei Herzen schlagen".

Die beiden Spieler deshalb nicht mit nach Russland zu nehmen, sei "in keiner Sekunde" eine Überlegung gewesen, betonte Löw damals. Die Überlegung, Özil aus sportlichen Gründen nicht zu nominieren, wie sie Bierhoff nun kolportierte, war öffentlich überhaupt kein Thema. Löw bescheinigte Özil zwar Nachholbedarf, weshalb der Regisseur in der Vorbereitung Extraschichten absolvierte. Dennoch stand er im ersten Spiel gegen Mexiko wie üblich in der Startelf. Im kicker hatte er Özil bescheinigt, "eher in der Lage" zu sein, "die Dinge komplett auszublenden und sich komplett auf den Fußball zu konzentrieren."

In Russland wollte Löw das Thema klein halten. Für ihn sei dazu alles gesagt, sagte er im Vorfeld des Mexiko-Spiels. Er werde sich auf das Sportliche konzentrieren. Mögliche Pfiffe? "Okay, dann ist das so." Löw wusste zu diesem Zeitpunkt, dass ein öffentliches Statement nicht folgen und dass sich das Thema durchs Turnier ziehen würde. Auch er wird an der Entscheidung, Özil ein Fernbleiben vom Medientag in Eppan zu ermöglichen, nicht unbeteiligt gewesen sein - das soll anderen Spielern übel aufgestoßen haben.

Während Bierhoff und Grindel nun in die Offensive gingen, weilt Löw seit der Ankündigung, dass er am Ruder bleibt, im Urlaub. Ob und wie der Umbruch ausfallen wird, ob Özil eine Zukunft im Team hat, blieb bisher offen. "Rechtzeitig bis zum Start in die neue Länderspielsaison im September" soll die WM analysiert und die richtigen Schlüsse gezogen werden.

Diskussion um Mesut Özil: Wie kann Joachim Löw reagieren?

Mit dem gleichen Agentur wie Özil im Rücken wird Löw seinem verdienten Regisseur ganz sicher nicht in den Rücken fallen und ebenfalls öffentlich ein Statement fordern. Auch eine Verteidigung Özils ist unwahrscheinlich - höchstens gegen die unverhältnismäßig bis ins Rassistische abgleitende Kritik. Aber auch das wäre eine Überraschung, zumal es bisher keine konzertierte Aktion des Verbandes gab.

Welche Möglichkeiten gibt es? Sollte Özil daran denken, sich in den nächsten Wochen doch noch zu äußern, wird Löw das frühzeitig erfahren und bis dahin schweigen. Danach könnte er seinem Star erneut den Rücken stärken.

Schweigt Özil konsequent weiter, hat Löw zwei Möglichkeiten: Er könnte Özil dennoch für die Partien gegen Frankreich und Peru nominieren, damit würde er seinen WM-Kurs konsequent fortsetzen. Gleichzeitig würde er dem Präsidium den Schwarzen Peter zuschieben: Grindel hat öffentlich ein Ultimatum ausgesprochen. Er könnte sich kraft seiner Richtlinienkompetenz gegen Özil stellen, er müsste es nach seinen letzten Aussagen geradezu. Damit würde die Mission Wiederaufbau denkbar schlecht starten und der DFB wie so oft in den letzten Wochen ein katastrophales Bild abgeben.

Alternativ könnte Löw auf Özil verzichten und ihn nicht mehr nominieren. Nicht aufgrund des Erdogan-Fotos: Gäbe er dieses als Grund an, würde er gleichzeitig einen großen Fehler zugeben, die "keine Sekunde darüber nachgedacht"-Aussage würde ihn einholen. Aus sportlichen Gründen wäre es mit Hinblick auf den Umbruch zumindest vertretbar, allerdings ist Özil erst 29 und der einzige klassische Regisseur von internationalem Format.

Ein neues System? Auf junge Spieler setzen? Löw könnte so argumentieren, es bliebe wohl aber zumindest ein fader Nachgeschmack.

2. DFB-Präsident Reinhard Grindel und Teammanager Oliver Bierhoff

DFB-Präsident Reinhard Grindel und Teammanager Oliver Bierhoff gaben in der Erdogan-Affäre nach außen ein katastrophales Bild ab. Wurde das Thema zunächst verschleppt, ist daraus nun ein beispielloser Schlingerkurs geworden.

Zur Erinnerung: "Man muss auch verstehen, wie Türken in dieser Sache ticken", war die erste Reaktion Bierhoffs. Anschließend wurden die "jungen Menschen" verteidigt, man dürfe sie nach einem Fehler "nicht auf ewig verdammen". Im Trainingslager in Eppan wollte Bierhoff das Thema per Dekret von oben abschließen mit "Wir haben sehr viel gemacht, und jetzt reicht es auch", danach sah er die Medien in der Pflicht: "Ihr beendet es doch nicht. Ihr bringt es doch jeden Tag wieder, weil ihr keine Themen habt." Nur um wenig später zurückzurudern.

Unerklärlich ist, warum der 50-Jährige das Thema im Interview mit der Welt erneut auf die Agenda brachte, noch vor der geplanten Aufarbeitung der WM. Vor allem die Art und Weise. Einen Tag später wurde nach empörten Reaktionen erneut zurückgerudert: "Was ich sagen wollte, war: Wenn wir auf ihn hätten verzichten wollen, dann nicht wegen des Fotos, sondern aus sportlichen Gründen - aber wir haben uns für ihn entschieden und dazu stehen wir auch."

Wie diese Überzeugung trotz mehrfachen Gegenlesens derart missverständlich abgedruckt werden kann, bleibt Bierhoffs Geheimnis. Zumal die sportliche Analyse von Özils Leistung absolut nichts damit zu tun hat, ihn "für eine Sache zu überzeugen". Immerhin muss man Bierhoff zugutehalten, dass er Özil in diesem Zusammenhang gegen Kritik unter der Gürtellinie verteidigte.

Auch Grindel vollführte einen radikalen Schwenk: Zuerst erklärte er, das Duo habe sich für ein "Wahlkampfmanöver missbrauchen" lassen. Auf der ersten Pressekonferenz in Vatutinki postulierte er dann, dass ein besseres Krisenmanagement in der Erdogan-Affäre kaum möglich gewesen wäre, und überhaupt: Gündogan habe "alles gemacht, was man zur Einordnung tun kann. Trotzdem ist er ausgepfiffen worden." Unausgesprochen also die Meinung, dass auch Aussagen Özils nicht helfen würden. Der könne die Antwort, wenn schon nicht in Interviews, dann auf dem Platz liefern.

Von dieser Haltung ist beim DFB-Präsidenten nichts mehr übrig, wie das Interview im kicker zeigt: "Es stimmt, dass sich Mesut bisher nicht geäußert hat. Das hat viele Fans enttäuscht, weil sie Fragen haben und eine Antwort erwarten. Diese Antwort erwarten sie zu Recht. Deshalb ist für mich völlig klar, dass sich Mesut, wenn er aus dem Urlaub zurückkehrt, auch in seinem eigenen Interesse öffentlich äußern sollte."

Späte Erkenntnis bei der DFB-Spitze: Mesut Özil muss sich äußern

"Kluges Krisenmanagement heißt kühlen Kopf bewahren und nicht jedem Druck nachgeben", sagte Grindel. Davon ist beim DFB nichts zu sehen. So ist es legitim, eben dieses Interview auch als Schadensbegrenzung im Fall Bierhoff zu betrachten: Grindel reagierte nur wenige Tage später, sein Gespräch mit dem kicker wurde also sehr kurzfristig geführt und umgehend veröffentlicht.

Gleichzeitig ist es eine konzentrierte Medienoffensive in Richtung Özil. Mit schlechtem Stil und vor sich hin stolpernd geführt, in krassem Widerspruch zu früheren Aussagen getätigt.

Aber beim DFB scheint sich endlich - lediglich acht Wochen zu spät - die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass das Thema ohne ein öffentliches Statement Özils nicht zu beenden ist. Besuche beim Bundespräsidenten, bei der Kanzlerin, "Özil hat uns gegenüber gesagt..."-Statements, Aussitzen, Medienkritik, sogar die Flüchtlingskrise als Einordnung - all das wurde versucht, all das hat nicht funktioniert.

Jetzt wird der Druck auf den Nationalspieler erhöht. Sicherlich auch, um vom eigenen Versagen abzulenken, und um das Verhältnis zu den Fans irgendwie zu kitten. Und es ist Wasser auf die Mühlen jener Klientel, die man ganz sicher nicht bedienen will. Gleichzeitig ist es grundsätzlich richtig: Özil muss sich äußern.

Warum schweigt Mesut Özil?

Die Frage ist: Hat sich Özil - und bei Gündogan liegt die Sache ähnlich - nicht geäußert, weil er sich nicht aus innerer Überzeugung gegen Erdogan äußern will? Oder weil er sich nicht äußern kann, aus Angst vor Repressalien gegen sich selbst oder die eigene Familie?

Für letzteres spricht, dass Bierhoff selbst von "bestimmten und offensichtlichen Gründen" sprach, die Özil von einer Stellungnahme abhalten würden. Der Fall Enes Kanter ist ein warnendes Beispiel: Der NBA-Star aus der Türkei gehört zum Erdogan-kritischen Lager und wurde wegen Beleidigung des Präsidenten schon einmal beinahe eingesperrt, im Juni wurde sein Vater in einem Schauprozess zu mindestens fünf Jahren Haft verurteilt. Die Konsequenzen können also durchaus real sein, wenn man es sich mit dem Autokraten verscherzt.

Gleichzeitig ist es nicht das erste Foto Özils mit Erdogan, die beiden kennen sich schon mehrere Jahre. Berater Harun Arslan erklärte zudem in der Zeit, dass neben der kulturellen Prägung und dem Höflichkeitsgedanken auch ein ambivalenteres Bild des türkischen Machthabers vorhanden sei: Der habe die Türkei schließlich modernisiert und für einen Aufschwung gesorgt.

Wäre die Ablehnung gegen Erdogan vorhanden, hätte man im Zweifelsfall wie Emre Can reagieren und dem Treffen fernbleiben können. Bierhoff sprach zudem davon, Özil überzeugen zu wollen - vergeblich. Das spricht nicht unbedingt für großes Verständnis gegenüber einem verzweifelten Spieler in einer Zwickmühle. Stattdessen ist die Geduld des DFB aufgebraucht.

Was nun? Für Grindel und Bierhoff wäre eine Äußerung Özils, mit der sich der Konflikt zumindest ansatzweise in Wohlgefallen auflösen lässt, die zweifelsohne bestmögliche Lösung. Kommt diese nicht, kann auch Löw reagieren - Grindel sprach im kicker nicht umsonst auch von der sportlichen Analyse.

Tun ihm weder Özil noch Löw den Gefallen, bleibt dem DFB-Präsidenten nach seinem Ultimatum eigentlich nur noch die Suspendierung des Spielers. Damit käme es nicht nur zum Bruch zwischen Bundestrainer und DFB, es gäbe auch noch Beifall von ganz falscher Seite. Und Erdogan würde sofort die Deutungshoheit der Affäre an sich reißen: "Schaut her, der Spieler wurde rausgeworfen, weil er ein Foto mit einem demokratisch gewählten Präsidenten gemacht hat! Das zeigt, dass man euch in Deutschland nicht akzeptiert!"

3. Mesut Özil

Özil hat seine Linie über acht Wochen konsequent durchgezogen. Dabei wurde er vom DFB zuerst geschützt, dann sogar unterstützt. Die Schonfrist ist jetzt vorbei.

Sollte er weiter schweigen, ist seine Nationalmannschaftskarriere höchstwahrscheinlich Vergangenheit. Der DFB könnte es ihm nicht mehr durchgehen lassen, und selbst wenn Löw einen internen Machtkampf gewinnen und ihn weiter nominieren sollte, würden in den Stadien in Deutschland Pfeifkonzerte auf ihn warten. Es wäre kein haltbarer Zustand.

Özil könnte sich für einen Mittelweg entscheiden. Er könnte aus der Nationalmannschaft zurücktreten, dabei auf Interviews verzichten und sich einem Statement für schöne Jahre in der DFB-Elf bedanken. Vielleicht würde er dadurch einen Teil der öffentlichen Sympathie zurückgewinnen. Danach könnte er sich auf Arsenal konzentrieren, vielleicht in ein paar Jahren auch in die Türkei wechseln und dort seine Karriere beenden. In Deutschland könnte in dieser Zeit Gras über die Sache wachsen.

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass ihn das Foto und sein anschließendes Schweigen noch über viele Jahre verfolgen würde. Özil hätte einen Großteil der Sympathien in der Öffentlichkeit verspielt, er als Musterschüler der Integration hätte keinen Platz mehr beim DFB. Er, der zeit seines Lebens zwischen zwei Welten verbrachte, hätte sich für eine entschieden.

Kann ein Statement Özils alle zufriedenstellen?

Was ist, wenn er sich äußert? Einen Rücktritt soll er nicht anstreben, will der kicker erfahren haben. Nach Bild-Informationen ist ein Statement nicht ausgeschlossen.

Sollte Özil in Richtung DFB Gesprächsbereitschaft signalisieren, würden Löw, Bierhoff und Grindel mehrere Steine vom Herzen fallen. Ein Heer von PR-Beratern stünde bereit, um an einer passenden Erklärung zu schnitzen. Diese müsste eine Gratwanderung vollbringen: Özil einerseits in der deutschen Öffentlichkeit aus der Schusslinie nehmen, Erdogan und türkische Fans andererseits nicht vor den Kopf stoßen.

Beim DFB wäre man sicherlich mit wenig zufrieden, das beweist der Fall Gündogan. In der Türkei könnte man sicherlich damit leben, wenn eine konkrete Verurteilung Erdogans ausbleibt. Am schwersten dürfte es ihm fallen, die deutschen Fans noch einmal für sich zu gewinnen. Andererseits: Schlimmer kann es in dieser Hinsicht kaum noch werden.