Als die deutsche Nationalmannschaft nach dem 0:3 am Samstag gegen die Niederlande vom Rasen trottete, fingen die Kameras Julian Draxler und Leroy Sane ein - das Duo, das auf der Pressekonferenz am Mittwoch zuvor noch positiv und voller Tatendrang gewirkt hatte. Sane hielt sich beim Sprechen die Hand vor den Mund, um möglichen Lippenlesern keine Munition zu bieten, Draxler gestikulierte erregt.
Worüber sie sprachen, ist nicht bekannt. Womöglich aber formulierte Draxler in diesem Moment schon seine harsche Kritik vor, die er in der Mixed Zone dann zum Besten gab: Die Probleme lägen mitnichten nur an der schwachen Ausbeute vor dem gegnerischen Tor. "Wir sind zu harmlos, haben wenige Überraschungsmomente. Es fehlen die Ideen, etwas Besonderes zu machen." Stattdessen spiele man "immer so hin und her, bis wir den Ball verlieren und den Konter kassieren. So können wir nicht weitermachen."
Es wirkte im Moment nicht wie ein vorbereiteter, wohlüberlegter Rundumschlag, um die eigenen Kollegen wach zu rütteln, wie man es in der Vergangenheit bei Toni Kroos oder Hummels schon erlebt hat. Vielmehr sprach Draxler in seinen Augen einfache Wahrheiten aus.
Trotz zwei Fehlern gegen Holland: Draxler übt Kritik
Es waren die wohl überraschendsten Aussagen an diesem Abend. Zum einen aufgrund ihrer Deutlichkeit und weil sie von einem Spieler kamen, von dem man dies bei Interviews im DFB-Dress eher nicht kennt. Und zum anderen deshalb, weil Draxler gegen die Holländer nach seiner Einwechslung selbst noch zwei krasse Fehler gemacht hatte, die zum 0:2 und zum 0:3 führten.
Während andere Spieler, gerade wenn sie nicht zum absoluten Führungskreis des Teams gehören, nach einem solchen schwarzen Abend lieber schweigend an der Presse vorbeigehen, nahm Draxler die zwei Gegentore freimütig auf seine Kappe - verzichtete aber trotzdem nicht auf seine Fundamentalkritik, wohl wissend, dass seine Patzer noch stärker im Rampenlicht stehen würden.
Julian Draxler beim DFB auf der Suche nach seiner Rolle
Draxler nimmt im Gefüge der Nationalmannschaft derzeit eine sonderbare Rolle ein. Zwar gehört er neben den Neuers, Kroos' und Müllers zu den Weltmeistern von 2014 und ist damit in der so oft beschworenen Spaltung des Teams auf der Seite der Arrivierten einzuordnen. Andererseits gehört er eben doch nicht dazu, wenn von einem Neuanfang geredet wird: Hier gehört er wieder zur neuen Generation um Sane, Brandt und Co.
Der 25-Jährige wusste vielleicht selbst nicht, ob er auch gemeint war, als Löw zwar meinte, die eingewechselten Spieler - Sane, Brandt und er - hätten das Spiel belebt, aber "die jungen Spieler brauchen immer noch Zeit. Man kann von ihnen keine Wunderdinge erwarten."
Dazu kommt die Tatsache, dass er im Team ja schon einmal eine ganz andere Rolle bekleidet hat: Als Kapitän führte er die Nationalmannschaft in Abwesenheit der Arrivierten zum Sieg beim Confed Cup und wurde anschließend zum besten Spieler des Turniers gewählt. Löw setzte auf ihn, er war auf der linken Seite erste Wahl.
Nicht mehr: Auf der Suche nach der zündenden Idee tauschte ihn Löw bei der WM auf linksaußen zuerst durch Marco Reus aus, danach durch Timo Werner. Der hat auf dem Flügel derzeit die Nase vorn, den klassischen Zehner gibt es nicht mehr. Draxler ist auf der Suche nach seiner Rolle - im Teamgefüge, wie auch auf dem Platz.
Draxlers Jugendtrainer Dirk Reimöller: "Julian Draxler ist steinige Wege gegangen"
Wie ist diese deutliche Kritik, die man schließlich auch als Absage an die Taktik des Bundestrainers deuten könnte, angesichts dieser Situation zu bewerten? "Es zeigt einen selbstreflektierten jungen Mann mit klaren Zielen", sagt Draxlers früherer Jugendtrainer Dirk Reimöller gegenüber SPOX und Goal. Reimöller war bei Schalkes U17 zwei Jahre lang für die Entwicklung des Talents verantwortlich gewesen. Heute ist er Sportlicher Leiter des Hessischen Fußball-Verbandes.
Man dürfe nicht vergessen, dass Draxler viel erlebt und einen langen, nicht immer einfachen Weg hinter sich habe, vom "Profi bei Schalke unter Felix Magath über die internationalen Erfahrungen in Paris bis hin zum Kapitän bei der Confed-Cup-Mannschaft".
Die Aussagen am Samstagabend sind für ihn Beweis dafür, dass sein ehemaliger Schützling "sich Gedanken macht und sich mit dem Wert Nationalmannschaft auseinandersetzt." Es habe sich schließlich nicht um persönliche Kritik am Bundestrainer gehandelt: "Er ist sich dessen bewusst, dass er eine Verantwortung gegenüber Fußballdeutschland hat, er ist Vorbild für Kinder und Jugendliche."
Diese Erkenntnis habe bei Draxler erst über mehrere Jahre reifen müssen, sagt Reimöller: "Ihm wurde in seiner Jugend oft suggeriert, dass er der Tollste ist, deshalb kam er auf der Ebene der Landesauswahl Westfalen überhaupt nicht zurecht und ist auch spät Nationalspieler geworden. Ich glaube, dass sich bei Julian diese Erkenntnis dadurch entwickelt hat, dass er sehr steinige Wege gegangen ist."
Reimöller: "Abgang von PSG für Draxler vielleicht besser"
Dabei darf man Draxlers schwierige Situation bei PSG nicht außer Acht lassen. Unter Unai Emery gehörte er in der vergangenen Saison zum Stammpersonal und spielte fast immer, auch wenn er manchmal von der Bank kam. Unter Thomas Tuchel ist es für ihn noch schwerer geworden: Zweimal spielte er durch, schon sechsmal reichte es nur zu einem Kurzeinsatz.
Seine kleiner werdende Rolle im Klub und bei der Nationalmannschaft weist also Parallelen auf. Draxler muss sich nicht nur über PSG bei Löw bewerben, sondern wenn möglich auch umgekehrt.
"Die Situation der zentralen Kreativspieler wird immer schwieriger, wenn man sich die Topmannschaften anschaut", weiß Reimöller, der früher auch mit anderen großen Namen wie Mario Götze oder Ilkay Gündogan zusammengearbeitet hat.
Unter Umständen könne dabei auch ein Klubwechsel hilfreich sein: "Für ihre Entwicklung in den Vereinen ist es vielleicht sogar besser, wenn Spieler wie Julian oder Mario nicht in einem europäischen Spitzenteam spielen, sondern in einer Mannschaft, die von ihnen abhängt und ohne sie nicht erfolgreich ist. Dann können sie sich entwickeln und werden später auch in der internationalen Spitze zum Leistungsträger."
Schließlich habe Draxler seinen "Leistungszenit noch lange nicht erreicht. Ich bin von seinen fußballerischen und menschlichen Fähigkeiten überzeugt."
Spiel Draxler am Dienstag gegen Frankreich?
Erst einmal muss sich der Rechtsfuß seinen Platz in der Startelf von Löw wieder erkämpfen. Sein großes Plus sieht Reimöller in Draxlers Vielseitigkeit: "Er wird mit Sicherheit immer ein guter Außenbahnspieler sein, aber er kann auch eine zentrale Rolle im Mittelfeld spielen."
Sollte Löw weiter mit einem 4-3-3 bzw. 4-1-4-1 planen, "sind da sicherlich zwei Positionen im Mittelfeld, die er ausfüllen kann. Er findet überraschende Lösungen und kann auch selbst torgefährlich werden." Entscheidend sei das Vertrauen des Trainers.
Gegen Frankreich (Di., 20.45 Uhr im LIVETICKER) könnte Draxler in die Startformation zurückkehren. Es wäre ein Einsatz vor seinem Pariser Publikum. In diesem Fall könnte er selbst dabei helfen, das krankende Offensivspiel zu beleben - und sich vor Vereinstrainer Tuchel präsentieren.
"Wenn es so weitergeht, werden wir nicht so schnell in die Weltspitze zurückkommen", sagte Draxler am Samtag. Vielleicht hat er dabei auch ein bisschen an sich selbst gedacht.