Es ist fast genau 15 Jahre her, da sorgte die Diskussion um einen neuen Tiefpunkt bei der deutschen Nationalmannschaft für ein Highlight der Fernsehgeschichte: 0:0 hatte die DFB-Elf im September 2003 auf Island gespielt und sich dabei wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert.
Darauf angesprochen redete sich Bundestrainer Rudi Völler im ARD-Studio in Rage und zog verbal vom Leder: "Die Geschichte mit dem Tiefpunkt, und nochmal ein Tiefpunkt. Nach jedem Spiel, in dem wir kein Tor geschossen haben, ist es noch ein tieferer Tiefpunkt, als wir eigentlich schon hatten. Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören."
Heraus kam eine unsterbliche Wutrede, die Mär vom "Weißbier-Waldi" und eine Medienschelte, die einen Jose Mourinho vor Neid erblassen ließe. Wer seitdem bei der Nationalmannschaft vom "Tiefpunkt" sprechen will, überlegt sich ganz genau, ob es nicht doch eine andere Vokabel tut.
Sie tut es nicht mehr.
0:3 gegen die Niederlande: Nächster Tiefpunkt nach der WM 2018
Die tiefste Talsohle seiner mittlerweile zwölf Jahre als Nationaltrainer hat Joachim Löw zweifelsohne bei der WM in Russland durchschritten. Ein blamables Vorrunden-Aus, als Titelverteidiger gegen eigentlich machbare Gegner, schlimmer kann es nicht mehr kommen.
Und doch muss man nach dem 0:3 in der Nations League gegen die Niederlande von einem neuen Tiefpunkt sprechen.
Das Wort fiel zwar nicht im ZDF-Studio in der Johan-Cruyff-Arena in Amsterdam an diesem Samstagabend, doch es schwebte unheilvoll im Raum: "Schwierig ist es im Moment schon", gab Löw zu.
Der Achtungserfolg einen Monat zuvor, das 0:0 gegen Frankreich, er war wie weggeblasen. Der Neuanfang nach der WM, mit neuem System, mit neuer Taktik, mit neuem Elan und neuer Leidenschaft, er hatte sich in Luft aufgelöst.
Joachim Löw spricht über "vogelwilde" Abwehr
Stattdessen blieb, wie ein sichtlich angeschlagener Löw mit belegter Stimme konstatieren musste, eine Mannschaft ohne Selbstbewusstsein, die nach dem 0:1 in "Einzelteile zerfallen" war, die vor gegnerischen Tor trotz einer Vielzahl von Chancen einmal mehr versagte - und die sich in der Schlussphase "vogelwild" präsentierte und auch noch abschießen ließ.
Während seine Spieler nach dem Spiel zwischen Wut auf ihr unbarmherziges Schicksal und Selbstkritik schwankten, hatte der Bundestrainer schon einer Wahrheit ins Auge sehen müssen: Die öffentliche Diskussion wird sich wegbewegen von der mangelnden Chancenverwertung, der wackligen Innenverteidigung und der Torhüterdiskussion.
Jetzt geht es um ihn. Und es wird eng.
Löw sollte nach der WM den Neuanfang schaffen
Enger noch als nach der WM, also nach dem eigentlichen Tiefpunkt seiner Ära als Trainer der Nation. Schließlich zehrte er da noch vom Goodwill, resultierend aus der zurückliegenden erfolgreichen Dekade, von erfolgreichen Turnieren mit dem WM-Titel in Brasilien als Krönung. Drei schlechte Spiele, in denen alles zusammenkam, was man sich nur vorstellen kann, geschlagen mit dem Fluch des Titelverteidigers, man wollte sie ihm verzeihen.
Man wollte Löw die Möglichkeit geben, nach dem dunklen Kapitel ein weiteres zu schreiben. Weil er den Rückhalt der Spieler hatte, weil - auch das gehört dazu - ein passender Nachfolger nicht in Sicht war. Aber auch deswegen, weil er Liga und DFB mit seiner schonungslosen Analyse überzeugen konnte. Weil die Kritik angekommen schien, das Bestehen auf Ballbesitz, die Entfremdung von den Fans.
Doch drei Monate nach der WM und drei Spiele später sind unterm Strich keine wirklichen Fortschritte zu erkennen. Die positiven Ansätze, die nach den Länderspielen im September gegen Frankreich und Peru erkennbar waren, auf ihnen sollte eigentlich aufgebaut werden.
Stattdessen wirkt es so, als hätte es sie nie gegeben. Joshua Kimmich auf der Sechs hat sich bewährt - das war's. Er hat aber nicht dazu geführt, dass Toni Kroos oder der zweite Achter befreit aufspielt.
Darüber hinaus gibt es fast nur Fragezeichen: Droht nach dem Neuer-Patzer eine Torwartdiskussion? Was ist mit dem so wackligen Boateng los? Wenn ein Thomas Müller immer erst dann effektive Szenen hat, wenn er den rechten Flügel verlässt - warum spielt er dann auf rechts? Warum ist Timo Werner, mit zwei Doppelpacks in der Liga, kein Mann mehr für die Spitze, aber ein Mark Uth? Warum durfte Leroy Sane schon wieder nicht in der Startelf ran? Die Liste ließe sich weiter fortsetzen (siehe: Philipp Max, Maximilian Philipp).
Zwei Probleme für Löw: Schwache Weltmeister und Blockade im Kopf
Für all diese Punkte lassen sich Erklärungen, Argumente und Gegenargumente vorbringen. Am schwersten wiegen jedoch zwei Aspekte. Erstens: Löw hat einen radikalen Umbruch ausgeschlagen, er setzt weiter auf ein Gerüst aus Weltmeistern, vor allem von Bayern München. Kaum einer hat das bisher mit Leistung zurückzahlen können.
Zweitens: Löw ist nicht nur als Taktiker, sondern auch als Psychologe gefragt. In den wenigen Trainingseinheiten, die ihm als Bundestrainer zur Verfügung stehen, muss er die Köpfe der Spieler frei bekommen. Ob sie in der Liga nun gerade einen Lauf haben oder nicht, ist zweitrangig: Mit dem Adler auf der Brust werden die Karten neu gemischt.
Das ist ihm in der Vergangenheit oft genug gelungen, man denke nur an seine Nibelungentreue zu Miroslav Klose. Der zeigte im DFB-Dress plötzlich ein ganz anderes Gesicht.
Dieser Tage - oder eher: Monate - scheint er diese Blockade jedoch nicht lösen zu können. Vermeintliche Leistungsträger, die im Verein schwächeln, bringen diesen zentnerschweren Ballast mit zur Nationalmannschaft. Man kann auch nicht davon sprechen, dass die WM aufgearbeitet und abgehakt wurde, wenn immer wieder die gleichen Fehler wie bei der WM gemacht werden.
Löw rechnet mit Trainerdiskussion
Zusammengefasst: Wenn sich der aufgeschobene Umbruch nicht in guten Ergebnissen widerspiegelt, wenn Löw aus den Veteranen keine Leistung herauskitzeln kann und wenn er weder als Taktiker noch als Psychologe zu überzeugen weiß, gehen ihm die Argumente aus.
Das weiß er selbst. Mit einer Trainerdiskussion "müsse man rechnen", erklärte Löw gefasst: "Damit müssen wir leben, wenn man so eine Leistung zeigt - ich als Trainer zu allererst."
Vorschnelle Schritte des DFB sind dabei nicht zu erwarten. Es wäre ein monumentales Scheitern, den Vertrag mit Löw vor der WM zu verlängern, dann früh auszuscheiden, mit ihm den Neuanfang zu wagen - und ihn dann wegen Erfolglosigkeit doch abzusägen. Aber Löw ist angezählt.
Deutsche Länderspiele im Jahr 2018
Datum | Gegner | Ergebnis |
23.03. | Spanien (H) | 1:1 |
27.03. | Brasilien (A) | 0:1 |
02.06. | Österreich (A) | 1:2 |
08.06. | Saudi-Arabien (H) | 2:1 |
17.06. | WM: Mexiko | 0:1 |
23.06. | WM: Schweden | 2:1 |
27.06. | WM: Südkorea | 0:2 |
06.09. | Frankreich (H) | 0:0 |
09.09. | Peru (H) | 2:1 |
13.10. | Niederlande (A) | 0:3 |
16.10. | Frankreich (A) | -:- |
15.11. | Russland (H) | -:- |
19.11. | Niederlande (H) | -:- |
Übersteht Löw einen Abstieg in der Nations League?
Noch wäre in der Nations League der zweite Platz möglich, selbst wenn man punktlos aus Paris zurückkehrt - ein Heimsieg gegen die Niederlande im November könnte dafür schon reichen.
Ein Abstieg aus der Eliteklasse der Nationenliga wäre allerdings eine bittere Pille, die für den Verband schwer zu schlucken wäre. In einem solchen Fall wäre Löw nicht zu halten, soll es nach Informationen der Süddeutschen Zeitung im Präsidium geheißen haben.
Das 168. Länderspiel an der Seitenlinie, das den 58-Jährigen Sepp Herberger als Rekordtrainer des Deutschen Fußball-Bundes ablösen ließ - es könnte in mehrerlei Hinsicht als Zäsur in die Geschichte eingehen.
Rudi Völler gewann nach seiner Wutrede übrigens die folgenden Spiele gegen Schottland (3:0) und Island (2:1), bevor man 0:3 gegen Frankreich verlor. Ein weiterer Tiefpunkt stand ihm da noch bevor: Bei der EM 2004 schied Deutschland sieglos nach der Vorrunde aus. Völler trat zurück.