Seit Michael Ballack im November 1999 zum ersten Mal den Leverkusener Rasen betrat, hat sich die BayArena zu einem beliebten Ziel für hochtalentierte Nachwuchsfußballer entwickelt. Auf der einen Seite brillierte die internationale Scouting-Abteilung der Leverkusener mit Verpflichtungen wie dem 19-jährigen Bulgaren Dimitar Berbatov, der später englischer Meister und Toptorjäger wurde, oder dem 20-jährigen Chilenen Arturo Vidal, bestens bekannt als Bayern-Abräumer und zuletzt als italienischer Meister mit Inter Mailand.
Auf der anderen Seite bewiesen die Leverkusener mit der Verpflichtung des damaligen A-Jugend-Meisters Julian Brandt (VfL Wolfsburg) ein gutes Näschen auf dem einheimischen Markt. Ähnliches gelang mit Kai Havertz, der mit 10 Jahren in die Bayer-Akademie kam und die Stadt mit 20 Jahren verließ, um mit Chelsea Champions-League-Sieger zu werden.
Und mit Florian Wirtz, der sich in der abgelaufenen Saison mit acht Toren und ebenso vielen Torvorlagen endgültig zum deutschen Shooting-Star mauserte, scheint die Geschichte nun eine ähnliche Wendung zu nehmen.
Florian Wirtz: Zwölf Kilometer zwischen Abstiegskampf und Europa League
"Ich musste auf meine Zukunft und meine Perspektive schauen", sagte Florian Wirtz dem Express, nachdem Bayer Leverkusen im Januar 2020 die Verpflichtung des damals 16-jährigen Wirtz vom 1. FC Köln, trotz eines mutmaßlichen "Fairness-Abkommens" unter den Bundesliga-Klubs im Rheinland, verkündete. Jenes Abkommen sollte vorzeitige Transfers von Nachwuchsspielern eigentlich verhindern.
Viele "Effzeh"-Fans zeigten sich enttäuscht - zwischen den damaligen Geschäftsführern entwickelte sich ein Streit. Doch für Wirtz war der Wechsel ins zwölf Kilometer entfernte Leverkusen offenbar der richtige Schritt: "Wenn ich zurückblicke, war es die richtige Entscheidung."
In Köln galt Wirtz als das größte Talent der vergangenen 30 Jahre. Vorwiegend auf dem rechten Flügel eingesetzt, führte er die Kölner B-Jugend 2019 mit außergewöhnlichen Leistungen zum Meistertitel und verdrängte sogar Borussia Dortmund mit Spielern wie Ansgar Knauff und Youssoufa Moukoko auf den zweiten Rang.
"Wir hätten ihn gern gehalten. Aber Florian hat sich anders entschieden. Wirklich jeder Verein hat sich um ihn bemüht", gab der damalige Kölner Sport-Geschäftsführer Horst Heldt in der Bild zu. Heldt erklärte, "dass davon die Welt nicht untergeht", doch anderthalb Jahre später schmerzt der Wechsel offenbar noch mehr. Wirtz entwickelte sich zum größten deutschen Talent seines Jahrgangs.
Florian Wirtz: Mann der Rekorde
Bereits seit Mai 2020 ist Wirtz auf der größten Fußballbühne Deutschlands zu sehen und brachte seitdem sämtliche Rekorde ehemaliger Bundesliga-Juwele in Gefahr.
Wirtz war der erste U18-Spieler mit fünf Toren, der zweitjüngster Torschütze der Geschichte und auch auf internationaler Ebene machte er sich als jüngster U21-Spieler der Historie und jüngster deutscher Vorlagengeber und Torschütze der Europa League einen Namen.
Mit 18 Jahren und 19 Tagen steht der Leverkusener Spielmacher bereits bei 36 Bundesliga-Einsätzen. Zum Vergleich: Havertz hatte zu diesem Zeitpunkt 24. Der Chelsea-Spielmacher bezeichnete Wirtz jüngst als "super Spieler".
Der Hype ist real. Auch Ex-Leverkusen-Stürmer Patrick Helmes ist sich sicher, dass die Erwartungen an Wirtz gerechtfertigt sind. "Es gibt genügend Spieler, die ihre Probleme damit hatten, die ersten Eindrücke zu bestätigen. Aber er wird es schaffen", sagte der künftige Aachen-Trainer einmal im Interview mit SPOX und Goal. Leverkusen reagierte auf die außergewöhnlichen Leistungen bereits und verlängerte mit seinem Youngster um drei weitere Jahre bis 2026.
Florian Wirtz: Stefan Kuntz wirbt für "mehr Mittelmaß"
Trotz der zahlreichen Rekorde und den überzeugenden Leistungen im deutschen Trikot versuchte U21-Nationaltrainer Stefan Kuntz, Wirtz nach dem Finaleinzug vor zu großen Lobeshymnen zu schützen: "Wir sollten den Ball flachhalten. Im letzten Spiel gegen Dänemark hat er laut den Kritikern enttäuscht, jetzt wird er in den Himmel gehoben."
"Er ist ein sehr junger Mensch, der schon mit sehr viel Erfolg und vielen Schlagzeilen umgehen muss", mahnte Kuntz über den Mann, der mit seinem 30-Sekunden-Tor und anschließendem Doppelpack im Halbfinale gegen die Niederlande die deutsche U21 ins EM-Finale beförderte.
Kuntz hat insofern Recht, als dass es in der jüngeren Geschichte genügend Beispiele von Talenten gab, die nach starken Leistungen in jungen Jahren den folgenden Erwartungen nicht standhielten. Jann-Fiete Arp, Alexander Merkel oder Donis Avdijaj wurden früh als Megatalente betitelt, legten später aber keine Weltkarriere hin. Letzterer wurde als 18-Jähriger mit einer 49 Millionen Euro teuren Ausstiegsklausel versehen, heute spielt er auf Zypern.
Florian Wirtz: Lieber EM-Titel als Abitur
Auf Zypern spielt Florian Wirtz erst, wenn er mit Bayer Leverkusen in der kommenden Europa-League-Saison auf den zyprischen Vertreter aus Nikosia oder Limassol treffen sollte. Zuvor kämpft er mit Deutschland in Sloweniens Hauptstadt Ljubljana um den U21-EM-Titel. Dafür vernachlässigt er sogar seinen Abschluss. "Ich würde lieber das Turnier gewinnen als ein gutes Abi zu haben", erklärte Wirtz nach dem Halbfinale.
Bei Bundestrainer Joachim Löw stand er ebenfalls schon auf der Liste, nach der Nominierung für die WM-Qualifikation im März gab ihm Löw jedoch keine Chance bei der Euro 2020 im Juni. "Ich konzentriere mich auf die U21", sagte Wirtz daraufhin und gab sich kämpferisch: "Und mit der möchte ich jetzt das Turnier gewinnen." Er ist ganz kurz davor.