Zudem verriet er, wer sein Topfavorit auf den EM-Titel ist, warum Stefan Kuntz in seinen Augen nicht Bundestrainer geworden ist und welches Interesse er selbst an einer Nachfolge von Joachim Löw hatte.
Herr Matthäus, 1980 haben Sie den EM-Pokal als Spieler selbst in der Hand gehalten, im Turnierverlauf aber kaum gespielt. Fühlen Sie sich trotzdem als Europameister?
Lothar Matthäus: Natürlich fühlt man sich mehr als Europameister, wenn man alle Spiele spielt und entscheidende Tore schießt. Aber ich war mit 19 Jahren dabei, durfte sogar 15 Minuten spielen und das war ein tolles Erlebnis für einen Jungen, der zwölf Monate vorher noch in der vierten Liga gespielt hat.
Auf welche Stärken muss die deutsche Mannschaft in diesem Jahr setzen, um Mannschaften wie Frankreich, Portugal oder Ungarn gefährlich zu werden?
Matthäus: Sie müssen einfach wieder als Team auftreten, nicht so wie in Russland. Sie müssen auch mit dem Trainer ein Team werden, was ich beim 0:6 gegen Spanien vermisst habe. Dass man sich auch von außerhalb unterstützt. Und wenn diese Voraussetzungen da sind, haben wir die Qualität um ganz weit zu kommen. Ich will nicht sagen, dass wir der Topfavorit sind...
Wer ist das für Sie?
Matthäus: Wir dürfen uns nicht kleiner machen als wir sind. Ich schätze die Portugiesen stärker ein als bei ihrem Titelgewinn vor fünf Jahren, viele Spieler haben tragende Rollen in großen Klubs. Frankreich ist gespickt mit Weltklassespielern. Diese drei Teams zählen zum engen Favoritenkreis. Aber wir müssen uns auch hinter Frankreich nicht verstecken. Wir haben viele Spieler, die in den letzten zehn Monaten die Champions League gewonnen haben und Akteure, die viele nationale Titel geholt haben.
Matthäus über Sane: "Er müsste seine Lektion gelernt haben"
Hat Löw im Rahmen der Möglichkeiten den perfekten Kader zusammengestellt?
Matthäus: Perfekt ist er nicht. Perfekt wäre es, wenn wir jedes Spiel gewinnen und Europameister werden würden. Im Kader habe ich einen Spieler vermisst: Ridle Baku, der auf der rechten Seite eine überragende Saison gespielt hat. Jogi Löw hat nach dem Dänemark-Spiel gegen Lettland einiges korrigiert und Kimmich auf rechts gestellt, aber Baku wäre für mich mehr als eine Alternative gewesen. Dann hätte man Kimmich im Zentrum als aggressiven Spieler spielen lassen können. Baku hat immerhin die U21-EM geholt, also mehr als einen Trost bekommen.
In Ihrer Sky-Kolumne haben Sie zuletzt Leroy Sane in die Pflicht genommen und an dessen Einsatzbereitschaft appelliert. Wie haben Sie damals einen Spieler, bei dem Sie mangelnden Einsatz registriert haben, in die Spur gebracht?
Matthäus: Wir haben damals sicherlich auch Spieler gehabt, die nicht immer mitgezogen haben. Ich denke da an Mario Basler, der in kein System gepasst hat, weil er gespielt hat, was er wollte. Er hat offensiv viel richtig gemacht, aber nach hinten zu kommen, enger zu stehen oder nach innen zu rücken war ihm egal. Mario war immer auf den Außen und hat dort den Unterschied gemacht.
Und so einen Unterschied könnte auch Leroy Sane machen?
Matthäus: Solange ein Spieler den Unterschied macht, akzeptiert das die Mannschaft auch. Leroy Sane ist ein Spieler, den ich grundsätzlich als großen Fußballer sehe, der viel Potenzial mitbringt. Aber er hat gegen Dänemark Situationen gehabt, in denen er nicht mit zurückgekommen ist oder abgeschaltet hat. Das kann man gegen Dänemark verzeihen, aber wenn ein Spieler so einen Charakter hat, macht er das im Endspiel vielleicht auch und dann wird es ihm niemand mehr verzeihen. Ich liebe Sane auf dem Platz, aber es gehört die ein oder andere Disziplin dazu, die er noch lernen muss. Er müsste eigentlich seine Lektion gelernt haben, nachdem Jogi Löw ihn 2018 nicht mitgenommen hat.
Stichwort Disziplin und Einsatzbereitschaft: Sie bezeichneten Joshua Kimmich zuletzt als überragenden Mann in der Zentrale. Welche Eigenschaft von ihm hätten sie gerne gehabt?
Matthäus: Eigentlich keine, denn er ist ein Spieler, der mich an mich selbst erinnert. Er gibt immer alles, hat keine Angst etwas zu sagen, Verantwortung zu übernehmen und mit Leistung voranzugehen. Eigentlich hat Kimmich ähnliche Eigenschaften, die ich früher gehabt habe. Deswegen müsste ich mir da nicht so viel abschauen.
Matthäus: "Kuntz müsste eigentlich sauer auf Salihamidzic sein"
Nach der EM ist für Bundestrainer Joachim Löw Schluss. Haben Sie kurz auf seine Nachfolge spekuliert?
Matthäus: Ich hatte eigentlich gar kein Interesse an diesem Posten. In der Öffentlichkeit ist der Name dann gespielt worden. Wenn der DFB oder ganz Deutschland nach meinem Namen gerufen hätten, dann wäre der Druck für mich da gewesen, Verantwortung zu übernehmen. Aber ich wusste, dass das nicht passieren würde. Hansi Flick ist die Ideallösung, auch wenn Stefan Kuntz das als erfolgreicher U21-Nationaltrainer nicht unbedingt gerne hören wird. Aber es ist ein Unterschied, ob du die U21 trainierst oder die erste Mannschaft.
Kann man sagen, dass Stefan Kuntz das Pech hatte, dass es noch Hansi Flick als Kandidaten gab?
Matthäus: Das Pech für Stefan Kuntz war, dass sich Hansi Flick bei Bayern München nicht mehr wohlgefühlt hat. Also müsste Stefan Kuntz eigentlich sauer auf Hasan Salihamidzic sein, weil er einer der Hauptgründe war, dass Flick die Bayern verlassen wollte und am Ende auch durfte.
Andernfalls hätte man Kuntz unbedingt in Erwägung ziehen müssen?
Matthäus: Dann wäre Stefan Kuntz ganz sicher einer der Hauptkandidaten gewesen, schon allein wegen dem, was er in den Jahren zuvor geleistet hat. Er macht mit der U21 einen tollen Job und vielleicht ist das auch seine Berufung, mit jungen Spielern diesen Weg zu gehen. Deshalb muss der DFB froh sein, dass er in Zukunft zwei tolle Trainer hat. Ich hoffe nicht, dass Stefan Kuntz nach drei U21-EM-Endspielen nach Neuem strebt. Wichtig ist, dass solche Menschen dem DFB erhalten bleiben.
Als jemand, der die EM schon einmal gewonnen hat: Welchen Tipp würden Sie den deutschen Spielern heute mitgeben?
Matthäus: Denen brauchst du gar nichts mit auf den Weg geben. Sie müssen einfach an sich glauben, die Qualität ist vorhanden, also hängt es jetzt an der Einstellung. Da müssen sie sich gegenseitig pushen und Rücksicht aufeinander nehmen. Denn es ist klar, dass der ein oder andere mal unzufrieden ist. Aber das Wichtigste ist, dass sie einfach den Titel nach Deutschland holen wollen.