Kaum ertönte der Schlusspfiff, warfen sie auch schon ihre Fähnchen von den Rängen und strömten in Scharen zu den Ausgängen. Diesen Klassiker hatten sie sich ganz anders vorgestellt, die in Orange gekleideten Fans. Ganz oben, in einer kleinen Ecke der Nordtribüne der Johann-Cruyff-Arena, lagen sich derweil ein paar hunderte mitgereiste Deutsche in den Armen. "Ohne Holland", sangen sie dabei ausgelassen, "fahr'n wir zur EM."
So weit, das betonte auch Oliver Bierhoff weniger später mit Nachdruck, ist es natürlich noch nicht. "Wir haben sicherlich den Anspruch, die Gruppe zu gewinnen. Das war aber erst der Anfang. Wir haben gesehen, wie stark die Holländer sind", sagte der Direktor der Nationalmannschaft.
Kleinreden wollte den späten, prestigeträchtigen 3:2-Sieg beim vermeintlich stärksten Gruppengegner aber auch er nicht. "Ganz wichtig", meinte der sichtlich erleichterte Bierhoff, sei der erste Auswärtssieg seit Oktober 2017 gewesen. "Ich muss unserer jungen Mannschaft ein Kompliment machen. Das tut der Seele und der Moral gut."
Auch Joachim Löw stand auf dem Weg zum Mannschaftsbus eine gehörige Portion Genugtuung ins Gesicht geschrieben. Nicht wegen der Kritik, die zuletzt nach der Ausbootung von Jerome Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller von allen Seiten auf ihn eingeprasselt war, sondern weil sich seine Mannschaft für ihren hohen Aufwand mit einem Sieg belohnt hatte. "Natürlich bin ich innerlich sehr zufrieden. Wir hatten jetzt auch mal das Spielglück, das wir in den letzten Spielen nicht so hatten. Heute haben wir die PS auf die Straße gebracht", resümierte der Bundestrainer.
Überragende erste Halbzeit, brutaler Druck, traumhaftes Finish
Tatsächlich war es der erste deutsche Sieg beim Erzrivalen seit 23 Jahren. Und er hätte wohl kaum dramatischer zustande kommen können. "Das hört sich jetzt vielleicht komisch an", meinte Joshua Kimmich, "aber im Nachhinein ist es für uns sogar wichtiger, dass wir auf diese Art und Weise gewonnen haben."
Die Löw-Elf hatte nach einer herausragenden, vor Spielfreude und Engagement nur so strotzenden ersten Hälfte mit zwei Toren der Extraklasse durch Leroy Sane (15.) und Serge Gnabry (35.) drei Gänge zurückgeschaltet und die Elftal mit einem Hang zur Lethargie wiederbelebt. Die 2:0-Führung, sie war nach den Treffern durch Matthijs de Ligt (48.) und Memphis Depay (63.) nur 18 Minuten nach Wiederanpfiff dahin gewesen. "Holland hat in der zweiten Halbzeit brutal gedrückt", berichtete Gnabry hinterher, "zum Glück haben wir bis zum Schluss durchgehalten und noch das späte Siegtor erzielt."
Nico Schulz, für gewöhnlich Linksverteidiger, hatte den Ball nach einem bilderbuchartigen Zusammenspiel zwischen den eingewechselten Ilkay Gündogan und Marco Reus in der 90. Minute im Stile eines Mittelstürmers aus knapp zehn Metern über die Linie gedrückt. "Das hätte ich mir nicht erträumt", sagte der gefeierte Hoffenheimer, "ich habe alles in meinen rechten Huf gelegt und der Ball ist reingegangen." Schulz wurde, weil er neben seinem eigenen Tor auch das zwischenzeitliche 1:0 durch Sane vorbereitet hatte, zum Spieler des Spiels ernannt.
Joachim Löw: Alles richtig gemacht
Der heimliche Gewinner des Abends war aber ein anderer. Zumindest dürfte die Kritik an Bundestrainer Löw bis zur nächsten Länderspielpause im Juni deutlich verstummen. Seine keineswegs neue, aber immer wieder mutige Systemumstellung von der Vierer- auf die Dreier- respektive Fünferabwehrkette erwies sich gegen die hoch verteidigenden Niederländer als genau das richtige Mittel.
Und auch der Großteil seiner personellen Entscheidungen trug Früchte - sei es nun das Festhalten an den kritisch beäugten Manuel Neuer und Toni Kroos, das Votum für einen umtriebigen, variablen Angriff mit den schnellen Gnabry und Sane oder der Entschluss, den wegen leichter Oberschenkelprobleme nicht vollständig fitten Reus lieber als belebendes Element von der Bank zu bringen, als von Anfang einzusetzen.
Löw: Achterbahnfahrt "eine wichtige Erfahrung"
Gleichwohl offenbarte der plötzliche Leistungsabfall im zweiten Durchgang, dass der Umbruch noch viel Zeit braucht. Eine 2:0-Führung hätte Löws Team vor ein paar Jahren wohl noch locker nach Hause gefahren. Gerade Spieler wie Niklas Süle und Antonio Rüdiger müssen sich noch daran gewöhnen, dass es nun an ihnen ist, die Defensive zu führen.
"Natürlich wäre ein 3:0 schöner gewesen. So weit sind wir aber noch nicht", erkannte Kimmich. Die wilde Achterbahnfahrt in Halbzeit zwei hatte durchaus aber noch ihr Gutes, befand jedenfalls Löw: "Dieses Auf und Ab, das die Mannschaft erleben musste, ist wichtig für die Erfahrung. So ein Sieg ist hilfreich für den Glauben in der neuformierten Mannschaft."