Nach dem Spiel ist ja bekanntlich vor dem Spiel. Tim Wiese hielt sich am Mittwochabend in Hamburg penibel an die Fußball-Formel des großen Sepp Herberger.
"Ich habe doch gesagt, dass den Hamburgern mehr die Flöte geht als uns", sagte der Torhüter von Werder Bremen nach seiner Elferkiller-Gala im DFB-Pokalhalbfinale.
"Vor dem HSV-Block kann ich nicht jubeln"
Drei Schüsse vom Punkt hatte Wiese in Folge pariert und dem großen Rivalen HSV somit praktisch im Alleingang die erste von vier möglichen Niederlagen in den nächsten zweieinhalb Wochen beigebracht.
Er habe den Hamburger Schützen "tief in die Augen geschaut" und dabei festgestellt, dass außer Joris Mathijsen "alle anderen nervös waren".
Sich nach einer heroisch anmutenden Leistung in den Mittelpunkt zu stellen, ist aber nicht Wieses Ding. Der Torhüter betonte die "Super-Leistung des ganzen Teams". "Man hat gesehen, dass wir die klar bessere Mannschaft waren", sagte er.
Nach der entscheidenden Parade gegen Marcell Jansen sprintete Wiese schnurstracks Richtung Werder-Fanecke. "Vor dem HSV-Fanblock kann ich ja schlecht jubeln. Also habe ich Gas gegeben, um schnell zu unseren Fans rüber zu rennen", erklärte Wiese.
Joggen statt Bodybuilding
Seine Mitspieler versuchten vergeblich, den Held des Abends auf seinem Jubel-Run übers gesamte Feld aufzuhalten, obwohl sie von der Mittellinie deutlich weniger Meter zurückzulegen hatten. "Ich wusste nicht, dass ausgerechnet der Torhüter unser schnellster Spieler ist", grinste Sportdirektor Klaus Allofs.
Wieses Fitness kommt nicht von ungefähr. 13 Kilogramm Körpergewicht hat der 27-Jährige in den letzten zwei Jahren abgespeckt. Besuche in der Mucki-Bude hat der ehemalige Bodybuilding-Liebhaber gegen eine ausgewogene Ernährung, Ausdauer- und Schnellkraftsport getauscht.
"Zu Lauterer Zeiten wog ich 104 Kilo, jetzt nur noch 87. Ich gehe nicht mehr ins Fitnessstudio, sondern joggen. Im Sommer jeden Tag zehn bis 15 Kilometer. Ich fühle mich leicht wie eine Feder", sagte Wiese vor seinem Debüt in der A-Nationalmannschaft im November 2008.
Früher war Wiese der Schwarzenegger im Tor, der sich trotz überragender Fähigkeiten manchmal selbst im Weg stand. 2006 verhinderte er mit seiner übertriebenen Abroll-Parade gegen Juventus Turin kurz vor Schluss Werders Einzug ins Viertelfinale der Champions League - seine größte persönliche Niederlage.
Wiese verspürt Genugtuung
Das Pokalhalbfinale gegen den HSV bezeichnete Wiese als den "größten Tag meiner Karriere". Im Vorfeld hatte der Keeper das Derby zusätzlich angeheizt. Man müsse dem HSV gleich eine auf den Sack geben.
Halbstarken Sprüchen ließ Wiese ausgerechnet vor den HSV-Fans, die den Werder-Keeper seit dessen Kung-Fu-Tritt gegen Ivica Olic gefressen haben, eine starke Leistung folgen.
"Ich musste heute etwas reißen, wenn ich schon vor dem Spiel die Sprüche mache. Und ich hatte das Gefühl, dass es mein Tag wird. Ich war mir so sicher. Ich war so ruhig. Dass es dann so geklappt hat, ist eine absolute Genugtuung", sagte Wiese.
Genugtuung ist normalerweise ein Fremdwort für Wiese. Seit Jahren vermisst er die Wertschätzung für seine Arbeit in Bremen. Eine Lobby in der Nationalmannschaft hatte Wiese nie, erst unter Bundestrainer Joachim Löw kam er zu seinem Debüt im A-Team. Doch Wiese ist "nur" die Nummer drei hinter Robert Enke und Rene Adler.
Einer wie Kahn
Wiese ist gereizt und redete sich kürzlich beinahe um Kopf und Kragen. Doch seine Verbalattacken gegen Jens Lehmann ("Was er macht, ist nur noch provozierend und verarschend") blieben ohne Folgen, man wolle schließlich den Spielern nicht den Mund verbieten, erläuterte Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff.
Wiese ist eine Reizfigur, die auch mal aneckt. Enke und Adler sind anders. Spieler, die lieber nette Plattitüden absondern. Da kann ein Typ wie Wiese nicht schaden im Kreis der Nationalmannschaft.
Seine beherzte Sprungeinlage gegen Jonathan Pitroipa unmittelbar vor Ende der Verlängerung hätte böse ins Auge gehen können. Kaum ein anderer Bundesligatorwart geht ein derart hohes Risiko ein wie Wiese. Wie Oliver Kahn zu seinen besten Zeiten. Der lobte nach dem Spiel im "ZDF" beide Torhüter.
HSV unter Schock
Frank Rost hatte den HSV mit einer Reihe von glänzenden Reflexen überhaupt erst ins Elfmeterschießen gebracht. Doch hinterher jubelten nur die Bremer. Der HSV könnte nach einer starken Saison am Ende mit leeren Händen dastehen.
"Ich hoffe, dass diese Niederlage kein schlechtes Omen für die kommenden Spiele ist - dass es Hamburg nicht so ergeht wie Leverkusen 2002", sagte Ex-HSV-Coach Klaus Toppmöller dem "kicker".
Damals verlor Bayer zwei Endspiele (Champions League und DFB-Pokal) und versagte auf der Zielgeraden in der Meisterschaft.
"Es ist die ungünstigste aller Möglichkeiten, so kurz vor dem großen Traum auszuscheiden. Der Schock und die Trauer sind extrem groß", sagte HSV-Vorstandsboss Bernd Hoffmann.
Die nächste Chance auf einen Titel haben die Hamburger im UEFA-Cup. Natürlich gegen Werder. Da könnte es wieder zum Elfmeterschießen kommen. Ob dem HSV schon die Flöte geht?
HSV - Werder: Daten und Fakten zum Halbfinale