"Warum tritt er überhaupt zurück?"

Jochen Tittmar
26. Mai 201517:56
Oliver Kirch kam 2012 vom 1. FC Kaiserslautern zu Borussia Dortmundimago
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Vor einem Jahr gehörte Oliver Kirch bei Borussia Dortmund zu den Senkrechtstartern. Doch aufgrund von Verletzungen kam der 32-Jährige in dieser Saison nur auf elf Pflichtspieleinsätze für den BVB. Im Interview spricht "Fußballgott" Kirch über seine Seuchen-Spielzeit, die biedere 20-Prozent-Quote und die Auswirkungen von Jürgen Klopps Rücktritt.

SPOX: Herr Kirch, als Sie vor einigen Wochen zusammen mit Erik Durm bei einer Talkshow des vereinsinternen Senders "BVB total!" auftraten, meinte dieser lachend: "Wenn ich an Olli denke, dann denke ich zunächst an seine Brust." Was soll das denn bedeuten?

Oliver Kirch: Ich war auch ziemlich von den Socken, dass das seine erste Assoziation war. Von meinen Teamkollegen habe ich da bislang noch nichts gehört. Ich bin eben aktiv im Kraftraum, so dass vielleicht meine Brust mittlerweile etwas überproportional gewachsen ist. Dies jedoch in einer Live-Talkshow zu verkünden, halte ich immer noch für zweifelhaft (lacht).

SPOX: Sie haben in dieser Saison Ihren Mitspielern oft bei der Arbeit zuschauen müssen. Während Sie das erste halbe Jahr 2014 noch als das Schönste bezeichneten, das Sie im Fußball bislang erlebt haben, kommen Sie aktuell nur auf sechs Bundesligaeinsätze. Wie beurteilen Sie die Zeit, die seitdem vergangen ist?

Kirch: Alles andere als zufriedenstellend. Ich hatte mir nach diesem halben Jahr wirklich einiges vorgenommen und wollte nach der Sommerpause dort anknüpfen, wo ich aufgehört hatte. Das wäre auch möglich gewesen: Wir hatten damals einige Verletzte und ich habe in den Testspielen sowie im Supercup und DFB-Pokal meine Einsätze bekommen. Dann kam aber der Muskelbündelriss und ich war rund drei Monate weg vom Fenster. In dieser Zeit habe ich leider sehr viel verloren.

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SPOX: Ihre Leistungen bis dahin waren mehr als ordentlich, Sie waren quasi das erste Mal auf Anhieb richtig nah dran an der Anfangsformation. Wie oft haben Sie zwischenzeitlich in die Tischkante gebissen?

Kirch: Eigentlich jedes Wochenende. Ich war teilweise schon sehr unglücklich. Neben meinem eigenen Pech kam ja hinzu, dass es in der Vorrunde überhaupt nicht für uns laufen sollte. Wenn man dann ständig hilflos vor dem Fernseher oder auf der Tribüne sitzt, ist das natürlich nicht besonders schön.

SPOX: Waren Sie enttäuscht, dass Sie, nachdem Sie wieder fit waren und auf der Sechser-Position durchaus Vakanzen bestanden, keine Einsatzmöglichkeit bekamen?

Kirch: Enttäuscht nicht, aber auch nicht zufrieden. Meine Fitness war damals natürlich noch nicht wieder auf allerhöchstem Niveau. Der Trainer lässt einen in solchen Fällen lieber noch etwas länger mit der Mannschaft trainieren oder auch ein zusätzliches Testspiel absolvieren, bevor er ihn reinwirft. Wir haben in der Hinrunde zudem die eine oder andere schlechte Erfahrung damit gemacht, Spieler direkt wieder ins kalte Wasser zu werfen, nachdem sie zuvor längere Zeit gefehlt hatten.

SPOX: Im Endeffekt verlief Ihre persönliche Saison noch bescheidener als die des BVB, oder?

Kirch: Ja, das kann man eindeutig so sagen.

SPOX: Immerhin ist jetzt wieder Licht am Ende des Tunnels, Sie sind nach einem Sehnenriss im Knie wieder ins Mannschaftstraining eingestiegen. Haben Sie Hoffnung, im Kader für das Pokalfinale zu stehen?

Kirch: Auf jeden Fall. Ich werde alles dafür tun, dass dies noch irgendwie hinhaut und ich bei diesem Highlight mit dabei sein kann. Ich hoffe, dass ich bis Ende Mai von Woche zu Woche draufpacken kann und dann rechtzeitig wieder in guter Verfassung sein werde.

SPOX: Sie spielen jetzt Ihre dritte Saison in Dortmund. Schätzen Sie doch bitte einmal, in wie viel Prozent aller Pflichtspiele Sie in dieser Zeit zum Einsatz gekommen sind?

Kirch: Wenn man von 50 Pflichtspielen pro Saison ausgeht, wären das 150 Partien insgesamt. Ich tippe, 20 davon habe ich gespielt.

SPOX: Nicht schlecht, Hut ab. Es waren inklusive Supercup exakt 152 Pflichtspiele, Sie sind aber in 30 davon aufgelaufen - also 20 Prozent. Wie wirken diese bloßen Zahlen auf Sie?

Kirch: Ich wollte auch eigentlich Prozent sagen (lacht). Man muss meine erste Saison ganz klar ausklammern, da hat es einfach noch nicht richtig funktioniert. Wenn ich ganz ehrlich bin, zähle ich nur eineinhalb Jahre - nämlich ab der Rückrunde der Vorsaison. Mit dieser Zeit bin ich abgesehen von den Verletzungen durchaus einverstanden. Auch die Punktausbeute, die wir in dieser Periode in Spielen mit meiner Beteiligung erzielt haben, ist glaube ich nicht so schlecht.

SPOX: Seit Ihrem Durchbruch im Vorjahr rund um das Champions-League-Rückspiel gegen Real Madrid haftet Ihnen allerdings ein wenig der Ruf an, zwar immer auf den Punkt da zu sein, wenn Sie gebraucht werden, aber auch wieder ohne Murren ins zweite Glied zu rücken. Ist Ihnen diese Lesart zu negativ?

Kirch: Nicht wirklich. Wenn es heißt, ich wäre immer auf den Punkt da, dann ist das ja erst einmal eine Wertschätzung und wird von Verein und Umfeld honoriert. Spielen dann wieder andere und ich sitze auf der Bank, dann ist es einfach wirklich so, dass ich damit im ersten Moment kein Problem habe.

SPOX: Das ist nicht selbstverständlich, wenn man nur 20 Prozent aller Spiele gemacht hat.

Kirch: Das mag sein, aber ich haue doch nicht auf die Pauke und meine, in jedem Spiel aufgestellt werden zu müssen. Das ist bei unserem Spielermaterial auch einfach nicht realistisch. Wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, was durchaus schon vorgekommen ist, dann suche ich das Gespräch mit dem Trainer. Natürlich möchte ich immer spielen, aber ich bin keiner, der Stunk macht oder sich bei der Presse ausweint, wenn er nicht zum Zug kommt. Das mag dem einen oder anderen Fußballer vielleicht schon einmal geholfen haben, doch es ist nicht meine Art.

SPOX: Diese Art kommt besonders bei den Anhängern an. Dort werden Sie an mancher Stelle als Fußballgott bezeichnet, weil Sie auch durch große Spielstärke und Übersicht bestechen würden.

Kirch: Man nennt mich Fußballgott? Vollkommen zu Recht natürlich (lacht). Das werde ich mal überprüfen. Aber Spaß beiseite: Dass mein fußballerisches Können gelobt wird, ist superschön zu hören. Ich glaube jedoch, es hängt eben auch mit meiner Art zusammen. Ich bin einfach kein Lautsprecher, sondern liefere so gut es geht meine Leistung ab, wenn ich gefragt bin.

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Seite 2: Kirch über Jojics Schicksal, den Klopp-Rücktritt und seine Zukunft

SPOX: In der Zeit vor dem Madrid-Highlight standen Sie oftmals nicht im Kader und mussten einige Nackenschläge verkraften. Mit welchen Augen sehen Sie nun einen Mitspieler wie Milos Jojic, der nun schon seit längerer Zeit eine ähnliche Durststrecke durchmachen muss?

Kirch: Ich habe schon häufiger mit ihm darüber gesprochen, weil dir in solch unschönen Situationen wenige Leute wirklich helfen können. Allerdings muss man in erster Linie selbst dafür sorgen, dass einem nichts vorgeworfen werden kann. Du darfst dir im Training nichts zu Schulden kommen lassen und musst versuchen, dich so gut es geht bei Laune zu halten. Das ist nicht immer einfach, aber irgendwann wird ganz sicher die nächste Chance kommen - und dann musst du da sein. Das ist in meinen Augen der einzige Ausweg in einer solchen Phase.

SPOX: Den Ausweg sucht auch Jürgen Klopp nach Ende der Saison. Wie überraschend kam denn sein Rücktritt für Sie?

Kirch: Zu dem Zeitpunkt total überraschend. Das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten. Dass er sich im stillen Kämmerlein ab und zu auch einmal seine Gedanken macht, damit konnte man sicherlich rechnen. Die Saison tat ihm weh und ging nicht spurlos an ihm vorüber. Ich habe gehofft, dass es letztlich nicht passieren wird. Nun muss man seine Entscheidung einfach respektieren - auch wenn es jetzt wieder wunderbar bei uns läuft und sich alle irgendwie fragen: Warum tritt er überhaupt zurück?

SPOX: Hatten Sie eher gedacht, dass er nach der durchwachsenen Saison so ehrgeizig ist, diese sportliche Scharte persönlich wieder auswetzen zu wollen?

Kirch: Ich denke, es muss sich jetzt einfach etwas verändern. Ich könnte mir jedenfalls vorstellen, dass der Verein einen größeren Schnitt plant. Unter diesen Voraussetzungen dann auf die nächste perfekte Saison zu warten und erst danach aufzuhören, ist sehr schwierig. Man hat ja nie eine Garantie dafür, dass es in der nächsten Saison wieder einfacher wird. Möglicherweise würde es sogar noch schwieriger, wer weiß das schon?

SPOX: Wie haben Sie denn von der Entscheidung erfahren?

Kirch: Ich habe seinen Abschied quasi gegoogelt (lacht). Ich war noch verletzt und absolvierte an diesem Tag in Maastricht und Barcelona zwei PR-Termine für einen Sponsor. Auf der Messe in Barcelona kam ein Besucher auf mich zu, der ein Autogramm wollte. Er fragte mich, was ich denn dazu sage und meinte, das könne doch alles gar nicht wahr sein. Ich wusste zunächst von nichts und habe erst einmal das Handy gezückt, um mich im Internet selbst davon zu überzeugen.

SPOX: Das heißt, Sie waren nicht mit dabei, als Klopp seinen Abschied auch vor der Mannschaft verkündete?

Kirch: Nein. Ich bin erst relativ spät am Abend wieder nach Hause gekommen.

SPOX: Wie war Ihr erster Eindruck, nachdem sie sich wieder über den Weg gelaufen sind?

Kirch: Man hätte sicherlich annehmen können, dass es eine komische Situation oder Atmosphäre sein wird. Doch im Gegenteil, die Stimmung war relativ gelöst. Vom Trainer ging Lockerheit aus. Das kennt man ja: Sobald eine Entscheidung - in welcher Art auch immer - gefällt ist, fühlt man sich freier im Kopf. Diesen Eindruck hatte ich dann auch von ihm.

SPOX: Seit Klopps Verkündung läuft es beim BVB wieder rund, man gewann fünf von sieben Pflichtspielen. Wenn Ihnen jemand im Februar gesagt hätte, der BVB werde drei Monate später im Pokalfinale stehen und Chancen auf Europa haben, was hätten Sie demjenigen entgegnet?

Kirch: Wo kann ich unterschreiben? (lacht) Wir sind uns alle im Klaren darüber, dass diese Saison zu großen Teilen sehr, sehr bescheiden verlief. Im Endeffekt zählt aber oft auch der letzte Eindruck. Wir kommen vom absoluten Nullpunkt, haben uns im Laufe der Rückrunde aber so nach oben gekämpft, dass wir nun die Chance haben, die Saison mit einem i-Tüpfelchen zu beenden. Gelingt uns das, dann hätten wir eine versöhnlichere Saison gespielt als vielleicht sogar der eine oder Verein, der vor uns steht.

SPOX: Wie geht es denn dann mit Ihnen weiter? Sie besitzen ja noch einen Vertrag bis 2016. Als Sie 2014 um zwei Jahre verlängerten, fanden die finalen Gespräche erst im letzten Vertragsjahr statt. SPOX

Kirch: Wir haben bisher noch nicht gesprochen. Ich muss jetzt erst einmal schauen, wieder heranzukommen. Da schiele ich vor allem auch auf die nächste Saison, um mich dann von Beginn an wieder präsentieren zu können. Zumal die Kaderplanung für 2016/2017 noch weit weg ist. Ich denke, dass wir uns gegen Ende meiner Vertragslaufzeit wieder unterhalten werden.

SPOX: Gab es bereits Kontakt zu Thomas Tuchel?

Kirch: Nein, aktuell nicht. Wir haben uns aber vor drei, vier Jahren schon einmal getroffen, da ging es noch um einen möglichen Wechsel zu Mainz 05.

SPOX: Aus Dortmunder Sicht übernimmt Tuchel im Idealfall den amtierenden Pokalsieger. Was glauben Sie wäre los, wenn Jürgen Klopp mit dieser Trophäe den Verein verlassen würde?

Kirch: Totale Eskalation! Ich bin davon überzeugt, dass dann eine Feier abgehen würde, die alles bisher in der Stadt Dagewesene sprengt. Diese Bilder haben wir auch alle schon im Kopf. Jeder Einzelne würde es ihm von Herzen gönnen.

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Oliver Kirch im Steckbrief