"Man ist eigentlich nie fertig"

Jochen Tittmar
17. Mai 201618:15
Sebastian Kehl spielte von Januar 2002 bis Juni 2015 für Borussia Dortmund getty
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Am 30. Mai 2015 beendete Sebastian Kehl im Alter von 35 Jahren seine Karriere. Das verlorene DFB-Pokalfinale gegen den VfL Wolfsburg war Kehls letztes Spiel für seinen langjährigen Verein Borussia Dortmund. Knapp ein Jahr danach spricht Kehl im Interview über die Auswirkungen seiner Weltreise, Pläne für die Zukunft, sein Studium bei der UEFA und die Argumente von Team Marktwert.

SPOX: Herr Kehl, Sie haben seit Ihrem Karriereende im vergangenen Sommer Nordamerika bereist, waren in Kanada, auf Kuba, Hawaii und in Indien. Nach einem kurzen Zwischenstopp in der Heimat ging es weiter nach Australien. Wie wichtig war es für Sie unabhängig vom Reisen, auch einmal weg vom gewohnten Dortmunder Umfeld zu kommen?

Sebastian Kehl: Sehr wichtig, auch wenn ich das nicht als Flucht verstanden wissen möchte. Als Spieler hast du ja im Sommer mit Glück drei bis vier Wochen Urlaub, da wäre es aufgrund der Strapazen schon ziemlich erzwungen gewesen, beispielsweise nach Australien zu reisen. Es war daher mein Ansatz, bewusst Länder zu entdecken, die ich noch nicht kannte und die nicht gerade um die Ecke sind. Ich wollte dadurch schnell eine größere Distanz zum Fußball bekommen, abschalten und Dinge verarbeiten. Das wäre in Mitteleuropa schwer geworden. Dort jedoch gelang das mühelos, da der Fußball in diesen Ländern keine große Rolle spielt.

SPOX: Haben Sie dort am Abend dennoch die Ergebnisse gecheckt oder war Ihnen das völlig egal?

Kehl: Nein, das habe ich dann doch ab und an mal gemacht. Das Handy war schon ein Begleiter, auch wenn ich es oft ausgeschalten habe oder es in manchen Regionen erst gar keinen Empfang gab. Sich von Handy und Internet teilweise zu lösen war eine wirklich befreiende Erfahrung.

SPOX-Redakteur Jochen Tittmar traf sich mit Sebastian Kehl in Dortmundspox

SPOX: Welche Teile der Welt, die Sie noch unbedingt sehen möchte, fehlen Ihnen denn jetzt noch - oder ist Ihr Hunger fürs Erste gestillt?

Kehl: Nein, trotz einer Weltreise bleiben ja noch viele weiße Flecken auf der Landkarte. Man ist eigentlich nie fertig. Ich würde beispielsweise gerne noch Japan und den asiatischen Raum entdecken. Jetzt stehen aber erst einmal andere Themen für mich im Vordergrund.

SPOX: Ihr guter Kumpel Christoph Metzelder hat nach dem Ende seiner Karriere direkt weitergearbeitet. Er schlägt bis heute auf verschiedenen Feldern ein hohes Pensum an. Wieso kam das für Sie nicht in Frage?

Kehl: Das habe ich mir einfach nicht vorstellen können. Ich brauchte diesen Abstand nach all den Jahren. Durch die Reise versprach ich mir, den Blick etwas zu heben und offen zu sein für neue Dinge. Natürlich war ich während meiner Karriere viel unterwegs und habe verschiedene Eindrücke gewonnen. Länder in dieser Dimension zu erleben und wahrzunehmen wie auf meiner Reise geschehen, ist mir jedoch nie gelungen - weil das beruflich als Fußballer auch gar nicht geht.

SPOX: Sie waren bereits als Experte auf Sky zu sehen, auch überlegen Sie, die Trainerscheine zu machen, bei der UEFA belegen Sie ein Master-Studium im Bereich Sportmanagement. Wollen Sie erst einmal ein bisschen experimentieren, um sich schließlich auf ein paar konkrete Gebiete festzulegen?

Kehl: Mir geht es letztlich um Weiterbildung und Entwicklung. Ich habe derzeit das Gefühl, dass mir viele Bereiche Spaß machen, ich aber trotz meiner großen Erfahrung und meinem Wissen noch genügend dazu lernen möchte. Fernsehen, Trainerscheine, das Studium - all dies wird sicherlich helfen dieses Vorhaben umzusetzen.

SPOX: Wieso aber begeben Sie sich so schnell wieder in einen vollgepackten Rhythmus hinein, obwohl Ihnen der Abstand davon so gut getan hat?

Kehl: Dafür kann ich Ihnen keine bis ins letzte Detail schlüssige Erklärung liefern. Theoretisch könnte ich noch einmal ein Jahr lang reisen, so sehr wie es mir gefallen hat. Ich bin natürlich auch heimatverbunden und habe zwei Kinder, so dass ich im familiären Umfeld nun viele Momente ganz anders genießen kann als früher. Ich möchte jetzt zunächst einige andere Dinge angeschoben wissen. Vielleicht kommt aber demnächst schon wieder der Zeitpunkt, an dem mich eine neue Herausforderung im Sport extrem reizt. Von einem solch durchgetakteten Rhythmus wie als Fußballer bin ich derzeit aber noch etwas entfernt.

SPOX: Haben Sie sich eine Art Deadline gesetzt, bis wann Sie sich fürs Erste entscheiden möchten, wie es konkret weitergeht?

Kehl: Nein.

SPOX: Sie begannen Ihre Weltreise zunächst zusammen mit Ihrer Frau und den beiden Kindern, es ging in die USA. Nach Ende der Sommerferien flog die Familie nach Hause und es stießen teilweise Kumpels von Ihnen dazu. Sie werden dennoch Momente der Einsamkeit verspürt haben, als Sie alleine unterwegs waren. Wie sind Sie damit klar gekommen?

Kehl: Ich gewann schnell eine innerliche Ruhe, da ich mich bewusst mit anderen Themen als Fußball beschäftigte und einen neuen Weg einschlug. Man ist natürlich auf einsame Momente vorbereitet, aber anfangs braucht es etwas Zeit, sich an diese neuen Konstellationen zu gewöhnen.

SPOX: Wie sehr haben Sie es vermisst, auch einfach einmal unerkannt bleiben und in den Tag hinein leben zu können?

Kehl: Ich habe es genossen, ein Stück weit anonym und selbstbestimmter unterwegs sein zu können. In den deutschsprachigen Gebieten wäre mir das wohl nicht gelungen.

SPOX: Als Fußballer hat man kaum Zeit zum Durchschnaufen, alles folgt einem atemlosen Takt. Haben Sie es geschafft, die besonderen Momente oder Eindrücke Ihrer Reise zu genießen?

Kehl: Es besteht natürlich ein großer Unterschied im Vergleich zur Verarbeitung von Fußballspielen. Ich habe das gut hingekriegt, denn wenn es mir irgendwo besonders gut gefallen hat, bin ich einfach noch länger geblieben. Als Spieler steht man bis zu drei Mal pro Woche auf dem Platz und egal, ob man gewonnen oder verloren hat, der Blick geht sofort wieder nach vorne. Großartig genießen ist da nicht drin. Ähnlich erging es mir auf der Reise: ich versuchte, Dinge für mich abzuspeichern, indem ich mir Notizen machte oder sie auf Fotos festhielt. Doch es ist wohl unmöglich, sich diese Menge an Eindrücken jeden Tag aufs Neue hervor zu rufen.

SPOX: Es gibt während der aktiven Karriere ja kaum brauchbare Möglichkeiten, aus dem permanenten Hamsterrad auszubrechen. Wie bedauerlich ist es als Profi, nicht großartig genießen zu können?

Kehl: Nicht sehr, denn Fußballprofi zu sein ist ein absoluter Traumberuf. Trotz mancher Einschränkungen würden sicher sehr viele gerne mit einem Fußballer tauschen wollen. Ich bin total glücklich und sehr dankbar, diesen Beruf so lange ausgeübt zu haben. Aber klar, man muss auf vieles verzichten, einige Annehmlichkeiten sind mit dem Profidasein nicht zu vereinbaren. Man ist häufig fremdbestimmt, es muss sich dem Trainings- und Spielplan untergeordnet werden. Andere haben nach der Schule ihr Leben genossen, sind um die Welt gereist oder konnten das Studentenleben auskosten. Das kann ein Fußballer in dieser Form nicht, denn man kann schlichtweg nicht alles im Leben haben.

SPOX: Wieso kann man den Eindruck gewinnen, dass sich die zu Marken aufgebauten Profifußballer immer mehr in einer Art Scheinwelt aufhalten?

Kehl: Das liegt daran, dass man als Spieler gläsern geworden ist. Es werden überall Fotos von einem gemacht, man ist in vielen Bereichen überhaupt nicht mehr privat und kann sich nur selten zurückziehen. In der Hinsicht sollte man schon aufpassen, dieses Rad nicht zu überdrehen.

SPOX: Braucht es denn wirklich die zahlreichen sinnfreien Social-Media-Posts oder beispielsweise ein Rap-Video, in dem Pierre-Emerick Aubameyang und Marco Reus zu sehen sind?

Kehl: Das muss letztlich jeder für sich selbst entscheiden. Als Spieler hat man heute mittels der sozialen Medien die Möglichkeit, eine eigene Marke zu kreieren, seinen Marktwert zu steigern und eine enorme Reichweite zu erzielen. Auch früher gab es die vermeintlich verrückten Spieler, die haben dann halt bis vier Uhr morgens Karten gezockt.

SPOX: Das war aber nicht öffentlich.

Kehl: Weil es eine andere Generation war. Der Wandel der Zeit bringt solche Entwicklungen eben mit sich.

SPOX: Ist es für einen Spieler noch erstrebenswert, angesichts der vielen Annehmlichkeiten die eigene Komfortzone zu verlassen?

Kehl: Ich glaube weiterhin, einige Spieler bekommen nach dem Karriereende Probleme zu realisieren, dass das normale Leben mit der Fußballwelt nicht mehr viel gemeinsam hat. Es gibt Spieler, die sich extrem daran gewöhnt haben, dass ihnen alles abgenommen wird - durch den Verein, den Berater, die Familie. Es gibt aber auch genügend Spieler, die ihr Leben in die Hand nehmen, eine hohe schulische Ausbildung genossen haben und in der Lage sind, selbst eine Überweisung zu tätigen oder einen Flug zu buchen. Auch da hat sich viel getan und man sollte nicht zu sehr pauschalisieren.

SPOX: Bei der UEFA bekommen Sie nun erklärt, wie Themen wie die 50+1-Regel oder die Vermarktung der TV-Gelder genau funktionieren. Wie sehr ist man denn als Profi mit diesen Angelegenheiten konfrontiert?

Kehl: Man hat eine Meinung dazu, die jedoch relativ oberflächlich ist. Ein Fußballer muss nicht wie ein Verein, ein Verband oder die Liga denken. Daher ist man weit davon entfernt, sich ernsthaft damit auseinander zu setzen und Vor- und Nachteile der einzelnen Aspekte abzuwägen, auch im internationalen Vergleich. Der komplette Hintergrund ist somit eher vage.

SPOX: Sie wollen das nun mittels des Studiums für sich ändern.

Kehl: Genau. Es ist total spannend und hilft mir, viele Themen, die im Fußball eine immer wichtigere Rolle spielen, noch einmal auf eine andere Art und Weise kennen zu lernen. Es gibt nun mal im Ecosystem Fußball so viele unterschiedliche Interessensvertretungen, da spielt so viel mit hinein. Ich schärfe damit meine eigene Meinung und bekomme ein größeres Bild, um Sachlagen wie zum Beispiel die 50+1-Regel, das Transfersystem oder das Zustandekommen von TV-Verträgen intensiver zu verstehen.

SPOX: Zementierte Tabellen, häufig dieselben Teams im Champions-League-Viertel- oder Halbfinale, die Rufe nach einer Superliga - haben Sie den Eindruck, der heutige Fußball ist übersättigt?

Kehl: Die Zuschauerzahlen bleiben konstant, die Abonnentenzahlen und TV-Gelder steigen - das würde nicht funktionieren, wenn es keinen Markt dafür gäbe. Das Interesse in den Fußball ist weiterhin riesig, so dass die UEFA nun beispielsweise mit neuen Wettbewerben wie der Nations League darauf reagiert.

SPOX: Dieser Markt scheint sich jedoch von der Basis zu entfernen, wenn man ihn mit dem Zustand von vor 20 Jahren vergleicht.

Kehl: Aber woran machen wir fest, ob sich der Markt von der Basis entfernt hat? Weil vor 20 Jahren geringere Gelder gezahlt wurden?

SPOX: Von 80.000 Plätzen bei einem Champions-League-Finale werden nur die Hälfte von den Anhängern beider Vereine besetzt und der Rest wird unter Geschäftsleuten aufgeteilt, die das entsprechende Budget mitbringen. In England ist diese Entwicklung bereits weit fortgeschritten.

Kehl: Selbstredend befindet man sich dabei auch in einem Spagat, den man bewältigen muss. Einerseits wollen wir hier in Deutschland attraktive Spieler und Begegnungen, so dass wir mit anderen Märkten konkurrieren können. Dafür braucht man aber Geld, da Wettbewerbsvorteile mancher Mitkonkurrenten kompensiert werden müssen. Deshalb ist es der Anspruch besonders der großen Vereine, der Musik nicht hinterher zu laufen. Dadurch geht die Schere innerhalb der Ligen jedoch auch wieder ein Stückchen weiter auseinander, ganz klar.

SPOX: Was also tun?

Kehl: Zum Beispiel sollte bei der neuen Vergabe der TV-Gelder ein Schlüssel gefunden werden, der die Solidarität innerhalb der Liga beibehält. Das wird nicht leicht, da es viele Interessen gibt und man bestimmt nicht alle Klubs auf einmal glücklich machen kann. Denn eines ist auch klar und sicherlich nicht im Interesse vom FC Bayern oder Borussia Dortmund: dass die Bundesliga am Ende langweilig und eintönig wird. Es gilt, kompromissbereit zu sein und mit Augenmaß zu hantieren, um sich eben nicht von der Basis zu entfernen. Der Fan ist ein ganz wichtiger Bestandteil innerhalb des Fußballzirkus und soll das natürlich auch bleiben.

SPOX: Dass diese Komponente stärker zum Tragen kommt, ist ja auch eines der Argumente des kürzlich gegründeten "Team Marktwert".

Kehl: Selbstverständlich sollten bei der Verteilung die sportlichen Erfolge der Vereine den größten finanziellen Ausschlag geben. Den Ansatz der Traditionsklubs, aufgrund höherer Zuschauerzahlen eine größere Zahl an Leuten zu erreichen und damit mehr für den Fußball innerhalb des Landes zu tun, halte ich für legitim und fair. Es sollte ernsthaft darüber nachgedacht werden, ein Modell zu finden, bei dem die Gewichtung eine Rolle spielt, welcher Verein bei Fans und Abonnenten mehr zum Produkt Bundesliga beiträgt. Ich glaube auch, dass dies am Ende so umgesetzt wird.