Wenn's läuft, läuft's. Dann geht die Fahne in so einer Situation eben nicht nach oben.
Yunus Malli schlägt einen Freistoß aus dem linken Halbfeld in den Sechzehner. Mario Gomez steht sträflich frei - deutlich im Abseits - und drückt den Ball mit dem Kopf ins Netz. Die Fahne des Schiedsrichterassistenten bleibt unten. Das Tor zählt. Der VfL Wolfsburg führt gegen den FC Augsburg mit 1:0. Drittes Tor im dritten Spiel nacheinander. Die Nummer 33 hat endlich den eigenen Torinstinkt wieder gefunden.
Es ist reine Spekulation, klar, aber vermutlich hätte der Treffer in der Hinrunde nicht gezählt. Oder Gomez hätte den Torhüter angeköpft. Oder er hätte den Ball nur irgendwie touchiert und nicht in Richtung Tor drücken können.
"Es ist klar, dass ich mehr Tore machen muss und auch will. Mein Anspruch ist ein anderer als vier Tore in einer Halbserie", hatte der Angreifer in der Winterpause angekündigt.
Und Gomez scheint auch zu liefern.
Eine alte, ziemlich ausgelatschte Plattitüde besagt, dass Stürmer an Toren gemessen werden. Bei kaum einem Spieler dieser Zunft traf diese Aussage in den vergangenen Jahren so sehr zu wie bei Mario Gomez.
Wie ein Fähnchen im Wind
Die vereinfachte Stammtischmeinung: Wenn Gomez trifft und Tore am Fließband erzielt, ist er in Ordnung, sobald er einige Chancen liegen lässt, ist er für eine Mannschaft ein Klotz am Bein. In den letzten Jahren hat sich die Einstellung zu dem Angreifer häufig gedreht wie ein Fähnchen im Wind. Wunderstürmer, Chancentod, Klumpfuß, Wunderstürmer und dann noch einmal von vorne.
Als Gomez im Sommer als Torschützenkönig der türkischen Liga zum VfL Wolfsburg wechselte, galt er als dicker Transfercoup. Und für viele als Geheimfavorit auf seine zweite Kanone in der Bundesliga nach 2011 (damals 28 Tore für Bayern München).
Gomez' Zahlen ernüchternd
Die Zwischenbilanz nach 19 Spieltagen ist zumindest von den nackten Zahlen mit sechs Treffern ernüchternd. An der Spitze der Torjägerliste hat Pierre-Emerick Aubameyang bereits elf Hütten mehr auf dem Konto. Mit Timo Werner (elf), Sandro Wagner (zehn) und Serge Gnabry (sieben) haben gleich drei deutsche Angreifer mehr Treffer erzielt.
Im bisherigen Saisonverlauf traf Gomez alle 267 Minuten. Zum Vergleich: Aubameyang erzielte alle 88 Minuten ein Tor, Lewandowski alle 109 Minuten, auch der selbsternannte "beste Stürmer Deutschlands" Wagner netzte alle 147 Minuten.
Wenngleich die Statistiken der Nummer 33 nicht unbedingt die eines kommenden Torschützenkönigs sind, ist seine Bedeutung für die Wolfsburger Mannschaft enorm hoch. Gomez ist beim VfL mehr als die Summe seiner Tore.
"Ich denke nicht mehr nur an mich und schaue, wie ich glänzen kann. Das große Ganze steht für mich viel mehr im Vordergrund - der Erfolg des Teams", sagte Gomez im Dezember im Interview mit der Welt.
Dass dem 31-Jährigen die mannschaftliche Leistung mehr am Herzen liegt als eigene Meriten, äußert sich einerseits in seinem Verhalten auf dem Platz. Mit 30 klärenden Aktionen überflügelt er andere Angreifer wie Aubameyang (eine), Lewandowski (elf) und Wagner (24) deutlich. Bei gegnerischen Ecken und Freistößen ist Gomez im eigenen Sechzehner eine Macht und wirft sich in alles rein, was ihm vorgesetzt wird.
Den Finger in die Wunde
Noch dicker unterstreicht Gomez seine Führungsqualitäten allerdings abseits des Platzes. Das beste Beispiel dafür lieferte er in besagter Partie vor anderthalb Wochen gegen den FC Augsburg.
Er selbst hatte die Wölfe mit seinem dritten Treffer im dritten Spiel nacheinander in Führung gebracht. Auf Kurs vierter Sieg in Folge. Zur Fortsetzung der Aufholjagd. Am Ende verlor der VfL jedoch durch vermeidbare Gegentore und stand ohne Punkte da.
Vor den Mikros platzte Gomez der Kragen: "Das war ein Rückfall in alte Zeiten, wo wir denken, wir müssen in der Champions League spielen, aber so einfach ist es nicht mit ein bisschen Arschwackeln. Das war überheblich, naiv, dumm", raunzte er und fügte an: "Wir haben angefangen, mit Mentalität Spiele zu gewinnen, und jetzt schenken wir es einfach her. So gewinnen wir kein Spiel mehr."
Nicht zum ersten Mal in dieser Saison legte der Angreifer den Finger in die Wunde. Eigentlich ungewöhnlich: Gomez ist erst seit Sommer beim VfL und gehört nicht dem Mannschaftsrat an (Benaglio, Gustavo, Schäfer, Bruma, Blaszczykowski).
Erfahrung, Standing, Selbstbewusstsein
Doch das ist ihm egal. Er hat die Erfahrung, das Standing und das Selbstbewusstsein, auch ohne offizielles Amt eine Führungsposition auszufüllen.
Die schwierige Zeit nach seinem Abgang vom FC Bayern und Jahren voller schwerer Verletzungen mitsamt Verpassen der WM 2014 hat Gomez geprägt: "Ich spürte, wie wichtig es ist, mit sich im Reinen zu sein und auch mal loslassen zu können. Du verkrampfst, wenn du nur darauf aus bist, anderen zu gefallen. Durch das Alter und die Erfahrung hat sich meine Einstellung zum Fußball und zum Leben ein wenig geändert", sagte er zur Welt. Genau das Nicht-allen-gefallen-Wollen kommt dem Angreifer für seine klare Kante zugute.
Mit jener klaren Kante ist Gomez goldwert für den VfL - nach innen und nach außen.
Im Wechseltheater um Julian Draxler positionierte sich der 31-Jährige klar: "Ich erwarte, dass jeder Spieler von uns offen und fair mit der Gemeinschaft umgeht. Und wenn ein Spieler für sich spürt, dass er nicht mehr beim VfL sein möchte, muss der Klub mit ihm entscheiden, was das Beste für beide Seiten ist."
Selbstkritischer Gomez
Auch mit sich selbst ging Gomez nach der sportlich durchwachsenen Hinrunde schonungslos ins Gericht: "Hätten wir die ersten fünf Spiele der Saison für uns entschieden, würden wir jetzt über ganze andere Dinge reden. Aber da habe zum Beispiel auch ich viele gute Chancen vergeben. Weshalb ein großer Teil der Schuld für unser Abschneiden auch bei mir liegt."
Für den Angreifer geht es nicht um den Einzelnen. Nicht um ihn selbst. Nicht um irgendeinen anderen. Sondern um das große Ganze.
Doch gehört Gomez selbst bald zur Riege der Spieler, die "nicht beim VfL sein" möchten? Bei seiner Vorstellung im Sommer war von Beginn an klar kommuniziert: Wenn die Wölfe Europa verpassen, werden sich Verein und Spieler noch einmal zusammensetzen.
Der kürzeste Weg nach Europa
Dass der VfL in der kommenden Saison europäisch spielen wird, ist mehr als fragwürdig. Zwar betonte Gomez kürzlich, Wolfsburg nicht - wie vielen anderen zumindest unterstellt wird - als Durchgangsstation zu sehen. Im Sommer jedoch muss bei den Niedersachsen alles auf den Prüfstand. Und sicher auch bei Gomez persönlich. Eine Visitenkarte hat er trotz seiner mittelprächtigen Torquote in dieser Saison bislang abgegeben. Als Spieler, der eine Mannschaft nicht nur mit Toren weiterbringt, sondern mit Persönlichkeit und Ausstrahlung.
Oder verpasst der VfL Europa etwa doch nicht? Der vielzitierte "kürzeste Weg nach Europa" führt über den Pokal. Eine Chance bleibt also noch.
Im Achtelfinale steht allerdings die schwierigste aller Aufgaben an: ein Auswärtsspiel bei Gomez' Ex-Klub FC Bayern München. Anfang Dezember gab es dort bei der 0:5-Niederlage ordentlich Backenfutter. Oder wie es Gomez bekannt schonungslos ausdrückte: "Es ist brutal, es ist deprimierend."
Wieder so eine Plattitüde, aber in Spielen gegen die Bayern geht es manchmal um Kleinigkeiten. Und der Pokal hat... Vielleicht ist so eine Kleinigkeit am Dienstagabend, dass bei einem Gomez-Tor die Fahne wieder unten bleibt...
Mario Gomez im Steckbrief