Seinen 37. Geburtstag wird Schiedsrichter Felix Zwayer so schnell nicht vergessen. 2:1 steht es im Pokalfinale für Außenseiter Frankfurt gegen die großen Bayern. Kurz vor Schluss wirft der Favorit alles nach vorn, der Ball landet im Strafraum bei Javi Martinez, der ihn mit dem Rücken zum Tor annehmen will.
Hinter ihm Kevin-Prince Boateng, der das Spielgerät an den Mittelkreis, am liebsten wohl sogar aus dem Stadion prügeln will. Das Problem: Der gebürtige Berliner Boateng trifft nicht den Ball, sondern mit voller Wucht Martinez.
Der Bayern-Star geht zu Boden, Wagners Nachschuss nicht rein, die Bayern auf Zwayer los. Der pfeift nicht, bekommt aber dann aus dem Kölner Studio den Hinweis, sich die Szene in der Referee Review Area noch einmal anzuschauen.
Zu diesem Zeitpunkt hat Fußball-Deutschland vor dem Fernseher längst die Zeitlupen gesehen - und darf Zwayer nun bei seinem Studium der Bilder über die Schulter blicken. Bestimmt eine gute halbe Minute schaut er sich die Bilder an, spult immer wieder vor und zurück. Die gleiche Szene, die auch in die Wohnzimmer transportiert wurde, aus der perfekten Perspektive.
Er sieht, was alle sehen: Boateng zieht voll durch und trifft eindeutig Martinez. Er trifft ihn ganz klar zuerst, und es lässt sich nicht einmal zweifelsfrei ausmachen, dass der Ball im Anschluss seine Rotation ändert, also dass er zumindest in der Folge noch von Boateng berührt worden wäre.
Zwayer gibt Eckball.
Es ist, zum Abschluss von "Videobeweis in Deutschland - Jahr eins", das ultimative Versagen auf der ultimativen Bühne.
Videobeweis im Pokalfinale: Zwayer nicht als Sündenbock
Hier soll es nicht darum gehen, den euphorischen Frankfurtern ihren Triumph madig zu machen. Die Bayern hätten den Strafstoß erst einmal verwandeln und das Spiel dann für sich entscheiden müssen, was an diesem Abend ganz sicher kein Selbstläufer geworden wäre. Die Eintracht hat sich ihren ersten Titel nach 30 Jahren Durststrecke redlich verdient.
Es geht auch nicht darum, Felix Zwayer nun zum Sündenbock zu machen und in die Wüste zu jagen oder Verschwörungstheorien zu spinnen. Oder ihm gar zu unterstellen, er habe nicht den Mut gehabt, in dieser Situation und angesichts der aufgepeitschten Frankfurter Fans noch auf Elfmeter zu entscheiden.
"Ich verstehe, dass viel Druck darauf liegt, hier und in der letzten Minute Elfmeter zu geben", sagte Thomas Müller nach dem Spiel - eine Spiegelung der immer wieder geäußerten Vorwürfe, die Schiedsrichter hätten nicht den Mumm, in entscheidenden Momenten gegen die Bayern zu pfeifen.
Zwayer wollte sich nach dem Spiel nicht äußern, und ihm muss die Zeit gegeben werden, seine Entscheidung zu begründen. Oder einen Fehler zuzugeben. Wer ohne Sünde ist, werfe dann den ersten Stein.
Videobeweis versagt - es war eben keine strittige Entscheidung
Das bittere Fazit an diesem Abend ist vielmehr folgendes: Der Videobeweis ist an diesem Abend krachend gescheitert. Und das sollten sich die Entscheidungsträger auf keinen Fall schönreden.
Eine Überreaktion, mögen nun viele entgegnen. Menschliches Versagen ist eben trotz Videobeweis nicht ausgeschlossen. Strittige Entscheidungen wird es immer geben, und so weiter.
Das ist zweifelsohne richtig. Doch was ist die "Mission" des Videobeweises, wenn man so will? Es geht nicht darum, jede Szene jedes Spiels zweifelsfrei aufzuklären. Denn das geht eben nicht. War das schon Abseits oder noch nicht? Schon ein Foul oder noch normaler Körpereinsatz? Diese Diskussionen wird es immer geben.
Aber am Samstagabend im Olympiastadion ging es eben nicht um eine "strittige Situation". Es ging um eine glasklare Fehlentscheidung. "Ich treffe ihn ganz klar", sagte Boateng, "ich dachte, er muss ihn pfeifen." "Ich muss auch sagen: Das war Elfmeter", stimmte sein Trainer Niko Kovac zu.
Der Videobeweis soll den Schiedsrichter schützen
Es ging um die klassische "Alle haben es gesehen, nur der Schiedsrichter nicht"-Situation. Die Situation, vor dem man die Schiedsrichter schützen wollte - genau deshalb wurde der Videobeweis ja eingeführt.
Man hätte die Szene nicht besser malen können: Es war der eine Moment, der dem Videobeweis seine ultimative Berechtigung gegeben hätte. Die Situation, die man bei seiner Einführung sicher auch im Blick hatte: "Im Pokalfinale, alles oder nichts, 90. Minute, klares Foul im Strafraum, kein Pfiff - dafür brauchen wir ihn!"
Das hat nicht funktioniert.
Fehleranalyse: Warum hat der Videobeweis versagt?
Wenn man Felix Zwayer keine absichtliche Fehlentscheidung vorwerfen will - und das darf man nicht -, bedarf es jetzt einer genauen Analyse. Hat die Kommunikation zwischen Köln und Berlin nicht gestimmt? Ist die Referee Review Area nicht die optimale Lösung, um eine solche Entscheidung vor Ort zu treffen, nach 90 Minuten, unter diesem Druck und diesem Stress? Müssen die Video-Assistenten in Köln die Möglichkeit bekommen, eine klare - eine hundertprozentige, und da waren sich diesmal eben alle Beteiligten einig - Fehlentscheidung des Schiedsrichters noch einmal zu monieren, oder gar zu überstimmen? Welche Lehren zieht man aus diesem Spiel?
Natürlich handelt es sich beim Videobeweis in dieser Form sowieso nur um eine Testphase, die komplette Spielzeit wird ausgewertet werden. Vielleicht wird er sogar wieder abgeschafft, auch das wäre legitim.
Aber wenn es trotz Videobeweis in einem Pokalfinale in der 90. Minute zu einer solch grotesken und in diesem Moment spielentscheidenden Fehlentscheidung kommen kann - und das keine Folgen hat! -, dann ist er in dieser Form keinen Pfifferling wert.