Es bleibt weiter ungeheuerlich, unter welchen Umständen die Insassen des Mannschaftsbusses von Borussia Dortmund die Tage nach dem Sprengstoffanschlag verbringen mussten. Auch für alle anderen Vereinsangestellten dürften das mit die schwersten Wochen ihres beruflichen Lebens gewesen sein.
Diese Geschehnisse innerhalb des pausenlos sich drehenden Fußballkreislaufs zu verarbeiten, kann kaum funktionieren. Doch die Gedanken scheinen bei den Schwarzgelben in den letzten Tagen deutlich abgelenkter zu sein. Es stellte sich erstmals ein leichtes Gefühl der Verdrängung ein.
Das lag in erster Linie am sportlichen Erfolg und dem moralisch wertvollen Sieg in Gladbach. Durch den Einzug ins Pokalfinale hat der BVB nach dem 3:2-Sieg beim FC Bayern München nun auch auf dem Platz eine geschichtsträchtige Saison gespielt. Die Krönung wäre der Pott in Berlin.
Zorc: Es ist eine große Genugtuung"
Es gab großen Respekt und Anerkennung dafür, wie klar und empathisch sich die Betroffenen nach dem Attentat geäußert haben. Die Sympathiewerte der Borussia sind zweifelsohne angestiegen, diesmal ungewollt. Die Sportlerwelt wünschte Dortmund Glück.
Dieses war nun wie von Trainer Thomas Tuchel erhofft im Überfluss nötig, um tatsächlich zum vierten Mal in Folge das Endspiel zu erreichen. Das hat vor dem BVB noch nie eine Mannschaft geschafft. Die Dortmunder kämpften wie ein Underdog und hätten eigentlich verlieren müssen, doch sie waren am Ende kaltschnäuzig wie ein Spitzenteam.
"Es ist eine große Genugtuung. Wir hatten heute vielleicht das nötige Glück, das wir in den vergangenen Wochen nicht hatten", sagte Sportdirektor Michael Zorc.
Saison für die Vereinschronik
Den Bayern die Saison ein Stück weit vermiesen zu können, hatte Tuchel im Vorfeld der Partie geäußert, das sei nun auf einmal möglich. Die Genugtuung, die der Erfolg in München auslöst, wird für die Borussen nun riesig sein. Das ist bei einem Sieg gegen die Bayern schon immer so gewesen. Die Irrungen und Wirrungen dieser Berg-und-Talfahrt-Saison aber nun doch noch auf einem sportlich beachtenswerten Rang meistern zu können, wird langfristig den größeren Effekt auf den Verein haben.
Der BVB kann die Saison mit Platz drei in der Bundesliga und dem Pokalsieg über Eintracht Frankfurt ins Positive wenden und dadurch hat die Saison nicht nur aufgrund des Anschlags einen festen Platz in der Vereinschronik verdient.
Niemand in Schwarzgelb wird sich in ein paar Jahren detailliert an Ousmane Dembeles schönen Siegtreffer zum 3:2 erinnern können. Die Rettungstat von Sven Bender, der im Stile eines Handballtorwarts einen sicheren Treffer zum wohl vorentscheidenden 3:1 für den FC Bayern verhinderte, macht diesen Überraschungserfolg geschichtsträchtig.
Erster Schritt zur Stabilisierung
Wie einst Jürgen Kohler beim Sieg im Old Trafford gegen Manchester United vor genau 20 Jahren oder Neven Subotics Grätsche auf der Linie im Champions-League-Finale 2013 in Wembley ist diese Szene der Stoff dafür, um die Geschichte dieser Saison rund zu machen.
"Dieser Erfolg ist für das Selbstvertrauen und die Entwicklung der Mannschaft unersetzbar", sagte Tuchel nach dem Spiel. Ihr Potenzial und Talent hat Dortmunds junges Team zahlreich unter Beweis gestellt, ebenfalls wie fragil es sein kann. Jetzt scheint der erste kleine Schritt zur Stabilisierung immer mehr getan.
Dies ist natürlich auch ein Verdienst des diffus beäugten Trainers, der sich trotz allem erst kürzlich wieder mit Boulevardschlagzeilen hinsichtlich seiner Zukunft ausgesetzt sah.
Tuchels Position sollte gestärkt sein
Zuletzt prägte er die Berichterstattung auf andere Weise. Tuchel hat, im Grunde seitdem er den Bus als Opfer des Anschlags verließ, enorm reflektierte, menschliche Aussagen getätigt. Nie zuvor sah man ja einen Fußballtrainer mehrfach die Woche unmittelbar nach einem mit Glück überlebten Schicksalsschlag über die Situation sprechen.
Tuchel weist weiterhin den besten Punkteschnitt aller BVB-Trainer auf, doch es will auch weiterhin nicht so recht das Gefühl aufkommen, als hätten sich Verein und Trainer bereits ausreichend aneinander gewöhnt. Die aktuelle Sprachregelung hat sogar dafür gesorgt, dass vier Wochen vor Saisonende noch nicht eindeutig ist, ob Tuchel zur neuen Saison noch Cheftrainer sein wird.
Die bloße Aussicht auf einen sehr guten Saisonausgang sowie sein öffentlicher Umgang mit der Anschlagssituation sollten Tuchels Profil und Position innerhalb des Klubs aber um einiges gestärkt haben.
Positives Gefühl hilfreich zur Aufarbeitung
Eben weil die Borussia den vor Saisonstart vielzitierten "größten Umbruch der letzten zehn Jahre" (Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke) jetzt aus eigener Kraft in die richtige Bahn lenken kann, trotz eines noch nie dagewesenen Zwischenfalls. Ein Sieg in Berlin, dazu ein klares Bekenntnis zu Tuchel und der BVB hätte sich gewissermaßen der meisten Nachfragen entledigt.
So könnte das in dieser Saison oft wacklig wirkende Konstrukt in Dortmund mit einem positiven Gefühl die Urlaubspause angehen und anschließend in die Vorbereitung auf die neue Spielzeit starten. Das wäre für die individuelle Aufarbeitung der Geschehnisse sicherlich durchaus hilfreich.
Es hat jetzt mehr als zuvor allen Anschein, dass die Liaison zwischen Tuchel und dem BVB Bestand haben wird. Und im Sommer stehen mit Ömer Toprak und Mo Dahoud ja auch schon zwei Neuzugänge fest, die erwiesenermaßen Wunschspieler Tuchels sind.
FC Bayern München - Borussia Dortmund: Die Statistik zum Spiel