"Manndeckung pur und völlig daneben"

Haruka Gruber
27. Juni 201213:31
Italiens Andrea Pirlo (2.v.l.) und Giorgio Chiellini spielten in der Vorrunde gegen Spanien 1:1 Getty
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Deutschland stellt sich vor dem EM-Halbfinale eine Frage: Wie ist Italiens Andrea Pirlo zu stoppen? Für Frank Wormuth, der für Bundestrainer Jogi Löw die Squadra beobachtete, dient vor allem Theo Gebre Selassie als abschreckendes Beispiel. Außerdem spricht Wormuth, Leiter der Fußball-Lehrer-Ausbildung und Coach der deutschen U-20-Nationalmannschaft, vor dem Beginn der EM-Halbfinals (Portugal - Spanien, 20.30 Uhr im LIVE-TICKER) über ein Zweiersturm Gomez/Klose und Sami Khedira.

SPOX: England stand trotz deutlicher Unterlegenheit davor, ins Halbfinale gegen Deutschland einzuziehen. Hätten die Engländer dem DFB-Team besser gelegen als Italien? Der Eindruck war, dass sie nicht viel anders spielen als Griechenland.

Frank Wormuth: Mir persönlich wären die Engländer lieber, da ich bei der Beobachtung vor Ort klarere Verhaltensmöglichkeiten für unser Team gesehen habe. Und es stimmt: Die Engländer hatten bedeutend bessere Einzelspieler in der Offensive, spielten trotzdem griechisch. Daher wären die Verhaltensweisen der deutschen Spieler ähnlich wie gegen die Griechen gewesen. Wichtig an dieser Stelle ist zu sagen: Ein Analyst kann dem Cheftrainer viel erzählen, entscheidend ist jedoch, dass dieser filtert. Und zwar so filtert, dass die Lösungsvorschläge in die eigene Spielphilosophie passen.

SPOX: Statt England heißt der deutsche Halbfinal-Gegner: Italien. Mit der alles dominierenden Figur Andrea Pirlo. Was macht ihn so außergewöhnlich?

Wormuth: Er spielt den modernen Spieleröffner auf der Sechserposition und hat somit großen Einfluss auf die Spielweise. Er kann durch seine Pässe in die Breite das Tempo verschleppen und den Gegner zum Verschieben bringen, damit sich Schnittstellen oder "Fenster" öffnen. Gleichzeitig kann er das Spiel sehr schnell machen, wenn er vertikal in die Spitze spielt, so wie es die Russen permanent versucht haben: Steil-Klatsch, Steil-Klatsch, Torchance. Kloppo würde hier vom "richtig geilen Hochgeschwindigkeitsfußball" sprechen. Pirlo ist der Protagonist dieser Handlungsweise.

SPOX: Der Außenstehende sieht in Pirlo vor allem den tiefpostierten, eleganten Spielmacher. Sie sagten im letzten SPOX-Interview allerdings, dass Pirlo nicht nur für die einleitende Offensivaktion, sondern auch für die Defensivaktion verantwortlich zeichnet. Können Sie das präzisieren? Im Spiel gegen den Ball fallen im Mittelfeld eher die spektakulären Tacklings eines Daniele De Rossi auf.

Wormuth: Um eine Mannschaft verbal optimal zu dirigieren, würde ich mich als Trainer hinter meine Viererabwehrkette stellen. Um zudem noch selbst aktiv eingreifen zu können, ist die Position vor den Innenverteidigern perfekt. Und genau dort steht Pirlo während eines Spiels. Volker Finke war einer der ersten, der in Freiburg mit Maxi Heidenreich den Libero vor der Abwehr installierte. Auf dieser Position darf man nach einem Spiel keine Stimme mehr haben, so viel ist zu dirigieren. Und das Trikot kann nassgeschwitzt sein, sollte aber nicht schmutzig vom Gras sein. Denn: Eine Grätsche ist das allerletzte Mittel der Verteidigung. Einmal am Boden und dann ausgespielt zu werden, bedeutet nichts Gutes für das eigene Tor.

SPOX: Kein Topteam scheint derart von einem Spieler abhängig zu sein wie Italien von Pirlo. Geht die Gleichung auf: Wird Pirlo ausgeschaltet, ist Italien nur halb so viel wert?

Wormuth: Es wird sicherlich eine Maßnahme sein, dass auf Pirlo besonders aufgepasst wird. Dennoch ist es fast unmöglich, auf der Sechserposition jemanden in Manndeckung zu nehmen, weil er nach vier Seiten Abspielmöglichkeiten und vor allen Dingen Platz hat. Jos Luhukay war mit Augsburg bereits in der letzten Saison so verfahren, wobei es um die Manndeckung auf der Zehnerposition ging. Dort ist der Raum enger und die Abspielmöglichkeiten sind nicht so hoch.

Frank Wormuth vor der EM über die Stärken und Schwächen der Manndeckung

SPOX: Welche Möglichkeiten gibt es sonst, um Pirlos Wirken einzuschränken? Ist Manndeckung tatsächlich keine Option?

Wormuth: Im EM-Viertelfinale versuchte es der Tscheche Theo Gebre Selassie mit Cristiano Ronaldo. Der rechte Außenverteidiger ging dem Portugiesen fast bis auf die andere Seite nach. Lustig, denn er öffnete damit seine rechte Seite komplett. Das war Manndeckung pur und im Grunde völlig daneben. Das hatte mich an meine Trainer von früher erinnert, die mir oft die Anweisung gegeben hatten, den Mittelstürmer notfalls bis auf die Toilette zu folgen. Wer Pirlo stören will, muss ihn von hinten attackieren, weil er damit kaum rechnet und die Augen nach vorne gerichtet hat. Von vorne oder von der Seite ist es kaum möglich, da er zu gut in der Handlungsschnelligkeit, also im Umgang mit Situationen unter Druck, ist. Aber welcher Stürmer kann ihn von hinten attackieren? Zum einen unauffällig und zum anderen ohne Foul? Und welcher Stürmer kann zusätzlich Kraft aufwenden, obwohl er doch für Tore zuständig ist?

SPOX: Wäre es eine interessante Option für Löw, es Italien gleichzutun und entgegen des Trends einem Zweiersturm Gomez/Klose zu vertrauen? Klose ist ein hervorragender Ballklauer.

Wormuth: Klar ist es möglich. In dem Fall würde ich Gomez die Aufgabe der Keilspitze überlassen und Klose müsste die Neuneinhalb spielen. Er ist derjenige von den beiden, der nach hinten arbeiten kann, die gegnerische Sechs ärgert, sich zwischen den Linien bewegt und zugleich Torgefahr ausstrahlt.

SPOX: Italiens Zweiersturm Balotelli/Cassano macht den Anschein, als ob er sehr wenig nach hinten arbeitet. Wie ist so etwas im modernen Fußball, in dem der Stürmer als erster Pressingspieler verstanden wird, möglich?

Wormuth: Ganz einfach: Indem Italien vorne kein Pressing spielen lässt. Warum etwas machen, dass man mit seinen Stürmern nicht hinbekommt? Beide sind in der Vorwärtsbewegung so stark, dass die anderen Italiener gerne die Defensivarbeit für sie übernehmen. Und ich möchte korrigieren: Ich habe beim Spiel gegen die Engländer Balotelli in einigen Szenen hinten gesehen, zumindest bis zur Anbindung an seine Mittelfeldkette. Diese Umschaltbewegung geschah natürlich nicht sofort, sondern erst nach reiflicher Überlegung - aber er fand den Anschluss an seine Mannschaft.

SPOX: Balotelli stellt als Mensch und Fußballer jeden vor Rätsel. Wie würde Ihr Scouting Report über Balotelli aussehen?

Wormuth: Für einen echten Scouting Report müsste ich all die Attribute noch besser ordnen und mit Handlungsbeispielen zusammenbringen. Grob zusammengefasst: Seine Stärken liegen eindeutig im Offensivverhalten. Er ist sehr schnell und besitzt einen explosiven Antritt sowie eine sehr gute Handlungsschnelligkeit. Er hat unter Druck immer eine Lösung parat, setzt seinen Körper ein und ist im Strafraum unberechenbar. Außerdem sein Torriecher. Seine Schwächen sind seine Ausraster, wenn er provoziert wird und wenn es nicht so läuft, wie er es haben will. Dass man von ihm aus sich in den Angriff einschalten kann, sei hier nur mal am Rande erwähnt. Unter dem Strich ist er eine Granate, die explodieren kann - und das in beide Richtungen.

Hier geht's zu Teil II: Italiens Ähnlichkeit zu Spanien und Khediras neue Popularität

SPOX: Pirlo und der Zweiersturm sind die Konstanten, egal ob Italien im 3-5-2 oder in der 4-4-2-Raute spielt. Aber welche Unterschiede gibt es zwischen den beiden Grundordnungen?

Wormuth: Entscheidend bei jeder Systemdiskussion, die sich nur auf die Grundordnung bezieht, ist die Frage nach Überzahl und Raum. Also: Wo könnten wir Überzahl haben und wo sind Räume frei oder zu? Im 3-5-2 wird der Flügel von einem Mittelfeldspieler bearbeitet. In der 4-4-2-Raute hingegen von einem Abwehrspieler. Dadurch ist die Laufwegbelastung im 3-5-2 für den Mittelfeldspieler nicht so hoch wie bei der 4-4-2-Raute, wo der Außenverteidiger die Bahn rauf und runter rennen muss. Ein weiterer Unterschied ist die Besetzung des zentralen Mittelfeldes: Im 3-5-2 sind es drei Spieler, in der 4-4-2-Raute sind es allerdings vier, so dass hier eine Überzahl im Mittelfeldspiel vorhanden ist.

SPOX: Nachdem die ersten beide Spiele im 3-5-2 bestritten wurden, setzte Italien in den letzten beiden Spielen auf die 4-4-2-Raute. Welche Nachteile und welche Vorteile bietet diese Grundordnung?

Wormuth: Wenn man in der 4-4-2-Raute aufläuft, diese wie Italien zudem noch mit zentralen Mittelfeld- und nicht Außenbahnspielern besetzt, sollte man im defensiven Verhalten den Ball nach innen lenken. Denn im Zentrum lässt sich Überzahl herstellen. Eingeleitet werden sollte dieses Lenken nach innen durch breitstehende Stürmer, ansonsten sind die Laufwege nach außen weiter als in anderen Grundordnungen.

SPOX: Und offensiv?

Wormuth: Im Angriffsverhalten bietet sich außen viel Platz, der vom Außenverteidiger genutzt werden muss. Ergo: In der 4-4-2-Raute braucht es offensive Außenverteidiger, die aus der Tiefe unbemerkt kommen können. Voraussetzung ist die Spielverlagerungsabsicht. Man lockt den Gegner auf die eine Seite und verlagert schnell und präzise auf die andere Seite, wo der Außenverteidiger sich einschaltet. So ist es möglich, ganz schnell in den Rücken des Gegners zu kommen.

SPOX: Die italienischen Außenverteidiger arbeiten zwar emsig, gehören jedoch allesamt nicht zur internationalen Spitzenklasse. Ist das eine Schwachstelle, auf die Deutschland abzielen sollte?

Wormuth: Ich bin durch die Beobachtungsaufgabe ein wenig in den Vorbereitungsprozess des Bundestrainers involviert und halte mich daher mit Lösungsansätzen vor dem Spiel natürlich zurück. Die Italiener lesen sicherlich SPOX. Lassen wir uns überraschen.

SPOX: Das italienische Mittelfeld steht sehr kompakt, weil in der 4-4-2-Raute vier Spieler auflaufen, die allesamt eine Mischung sind aus Sechser/Achter/Zehner und je nach Bedarf ihre Rolle anders interpretieren. Sehen Sie in dieser Vielseitigkeit eine der großen Stärken der Italiener?

Wormuth: Über Stärken können wir reden - und in der Tat sind die Italiener im Mittelfeld sehr variabel und kombinationssicher. Sie sind dem spanischen Spiel sehr nahe, auch wenn nicht in der extremen Penetranz des geduldigen Ballbesitzspieles.

SPOX: Auffällig an den italienischen Fußballern: Im Kontrast zum deutschen Flachpassspiel agieren die Italiener sehr häufig mit hohen Steilpässen, selbst gegen die kopfballstarken Engländer. Warum?

Wormuth: Schwerpunkt ihres Fußballs ist ebenfalls das Flachpassspiel. Das liegt in der Natur des italienischen Fußballs. Dennoch sah man insbesondere im Spiel gegen die Engländer den langen Flugball auf Balotelli, weil die Engländer ab und zu weg vom eigenen Strafraum standen. Und da John Terry und Joleon Lescott in der Innenverteidigung nicht die schnellsten Spieler sind, war es nachvollziehbar, hier mit Flugbällen über die Abwehrrecken zu agieren, zumal Balotelli sehr schnell ist. Also taktisch betrachtet eine einwandfreie Verhaltensweise.

SPOX: Angesichts des starken italienischen Mittelfelds wird es sehr auf Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger ankommen. Sind sie der ähnlichen Ansicht, dass Schweinsteigers Leistungen bisher durchwachsen sind und er eher von Khedira gestützt wird?

Wormuth: Dass Schweinsteiger im Vergleich zu Khedira keine runde Saison bei den Bayern hatte, wissen wir alle. Aber mittlerweile hat er wieder konditionell aufgeholt. Ich sehe ihn sehr mannschaftsdienlich arbeiten - und wissen wir überhaupt, wie er sich verbal einbringt? Nein. Er übernimmt auf dem Platz eine Leaderrolle und ist sehr wichtig, da er im Gegensatz zu Philipp Lahm von seiner Position aus alle verbal erreicht.

SPOX: Schweinsteiger spielt anders als früher wesentlich defensiver als Khedira, der nicht nur Bälle erobert und Offensivaktionen einleitet, sondern selbst in die Spitze geht und zum Abschluss kommt. Sehen wir einen neuen Sami Khedira?

Wormuth: Er fällt mit seiner Spielweise auf, vor allem bei uns Deutschen. Es liegt in der Natur unserer Mentalität, immer nur schwarz und weiß zu sehen. Ich finde: Khedira hat immer schon so gespielt. Vielleicht liegt seine aktuelle Popularität an der kontrollierten Leistung von Schweinsteiger?

SPOX: Erinnert Sie Khediras an Michael Ballack zu dessen besten Zeiten?

Wormuth: Ballack war eher einer, der von der Zehn aus spielte und sich defensiv beteiligte. Bei Khedira ist es umgekehrt. Er verkörpert den neuen Stil des Sechsers. Seinen Spielstil gab es in der Vergangenheit noch gar nicht.

Wormuth ist während der EM als SPOX-Eperte tätig und meldet sich regelmäßig zu Wort, um über taktische Trends bei der EM aufzuklären.

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