Für den DFB scoutete er die Gruppe A und damit den deutschen Viertelfinal-Gegner: SPOX-Experte Frank Wormuth scoutete vor Ort Viertelfinal-Gegner Griechenland (Fr., 20.15 Uhr im LIVE-TICKER). Wormuth, Leiter der Fußball-Lehrer-Ausbildung und Coach der deutschen U-20-Nationalmannschaft, über die taktischen Trends bei der EM, die unsichtbaren EM-Helden, Italiens Clou und Mats Hummels als Stilikone.
SPOX: Herr Wormuth, welche Nationalmannschaft hat Ihnen in der Vorrunde taktisch besonders gefallen? Und welches Team hat Sie taktisch besonders enttäuscht?
Frank Wormuth: Als Fußballtrainer und Ausbilder betrachte ich die Spiele ein wenig anders als der normale Fan, daher hat mich vor allem die Leistung der Italiener gegen die Spanier begeistert. Der ständige Wechsel vom defensiven 5-3-2 zum offensiven 3-5-2 war äußerst interessant anzuschauen. Mit Andrea Pirlo verfügen die Italiener über den modernen Spielgestalter auf der Sechser-Position, der für die Defensiv- und für die einleitenden Offensivaktionen verantwortlich ist. Eine taktisch sehr interessante Verhaltensweise, mit denen die Spanier richtig Probleme hatten. Ein taktisch enttäuschendes Team zu benennen ist schwer, da ich natürlich nicht alle Spiele vor Ort sehen kann. Aber es gibt ein paar Mannschaften, die sich taktisch nicht weiterentwickelt haben, und mehr vom Einsatz als von taktischen Verhaltensweisen leben.
SPOX: Gehört Deutschlands Viertelfinal-Gegner Griechenland dazu?
Wormuth: Man muss immer vorsichtig sein mit Aussagen, die auf einer externen Sichtweise begründet sind, bezüglich Griechenland scheint es jedoch zu stimmen. Ihr portugiesischer Trainer Fernando Santos hat bei der Übernahme der Nationalmannschaft angekündigt, dass er den Kombinationsfußball mag. Ihm muss allerdings ganz schnell aufgefallen sein, dass er zur Otto-Rehhagel-Philosophie zurückkehren muss: Effektivität vor Attraktivität. In der Defensive wird als Team gearbeitet, während in der Offensive das Individuum als Philosophie bevorzugt wird. Es ist nicht der moderne Fußball - doch am Ende zogen sie und nicht Russland oder Polen ins Viertelfinale ein. Die Iren konnten ob ihrer Qualität und der Klasse der Gegner auch nicht anders agieren. Aus taktischer Sicht spielte Irland in der Defensive hervorragend, nur dass es in diesem Fall nicht ausreichte.
SPOX: Nach der Frage über die Mannschaften: Gab es einen einzelnen Spieler, der Sie beeindruckte?
Wormuth: Pirlo nannte ich bereits. Ein Sami Khedira schließt durch seine Laufarbeit so viele Räume, dass der Zuschauer ihn kaum in Aktion sieht, er dennoch ungemein wichtig ist für das Defensivverhalten der deutschen Mannschaft. Würde er nicht noch vorne auftauchen, könnte der Normalfan ihn gar nicht bewerten. Ähnlich bei Lukas Podolski, dem man gegen die Portugiesen ein schwaches Spiel attestiert hatte. Nur: Es wurde von niemandem richtig positiv beurteilt, was der Junge nach hinten gearbeitet hat. Was ich damit ausdrücken möchte: In der Regel werden nur sichtbare Aktionen bewertet, dabei sind die unsichtbaren meist die wichtigsten, die über den Erfolg einer Mannschaft entscheiden. Deshalb müsste ich viele Spieler nennen, die mich beeindruckten, wie zum Beispiel den Kroaten Ognjen Vukojevic, der Luka Modric den Rücken freihält, damit dieser effektiv für sein Team sein kann.
SPOX: Sie sprachen Podolski an. Thomas Müller, sein Gegenüber auf rechts, wird ähnlich kritisch beurteilt. Zu Recht? Oder ist es bei Müller ebenfalls eine Folge von Löws Maßgabe, dass die Flügelspieler mehr als früher defensiv absichern müssen?
Wormuth: Anders als Podolski, der in Köln nie auf den Flügeln spielt, muss sich Thomas Müller nicht umstellen, weil das Arbeiten nach hinten in der Bundesliga zum normalen Arbeitsweg eines Außenspielers gehört. Bei ihm sehe ich eher eine individuelle Hängepartie seit der WM 2010. Er kommt einfach nicht mehr an diese unbekümmerte Verhaltensweise heran. Früher stürmte er noch ohne zu Zögern auf die Gegner zu und spielte sie aus. Heute kommt es mir immer so vor, dass er zuerst denkt, bevor er aktiv wird.
SPOX: Müller steht sinnbildlich für den neuen DFB-Fußball: weniger Rausch, mehr Nüchternheit. Vermissen Sie die Leichtigkeit von der WM 2010?
Wormuth: Wir haben von der WM 2010 die Siege gegen Argentinien oder gegen England im Hinterkopf. Wir dürfen trotzdem nicht die anderen Spiele vergessen: Gegen Serbien verloren wir das zweite Vorrundenspiel, gegen Ghana wären wir fast aus dem Turnier ausgeschieden. Auf dem Top-Level-Niveau kann fast jeder jeden schlagen, daher sollte man verschiedene Verhaltensweisen beherrschen. Und das kann unser Team ganz gut. Zum EM-Auftakte zeigte es die erforderliche Cleverness gegen Portugal. Gegen die Niederländer sah es so aus, wie es sich die meisten wünschen - dennoch wird am Ende die clevere Mannschaft Europameister und nicht die, die im Hauruck-Stil alles überrennt. Selbst die Spanier machen das nicht, auch wenn sie unheimlich dominant auftreten.
SPOX: Im Experten-Interview vor der EM sagten Sie, dass das Löw-Ideal so aussehen könnte: Defensiv wird in den ersten vier bis sechs Sekunden nach Ballverlust "spanisch" nach dem Ball gejagt, dann zieht man sich "augsburgisch" zurück. Offensiv wird nach Ballgewinn "dortmundisch" der direkte Weg nach vorne gesucht, dann "bayrisch" der Ball in den eigenen Reihen gehalten. Wie nah ist das DFB-Team dem Optimum?
Wormuth: Gegen Portugal waren defensiv die Augsburger gut zu sehen, dafür wurde offensiv zu wenig in steilgehende Läufe investiert. Das war angesichts des starken Kontrahenten und den neuen klimatischen Verhältnissen nicht anders zu erwarten. Gegen die Niederländer gab es die ersten Ansätze der Dortmunder mit dem schnellen Umschalten. Genauso wurde die punktuell eingesetzte spanische Balleroberungsmaschine sichtbar. Dass die Mannschaft die bayrisch geduldige Spielweise beherrscht, war in allen Spielen zu beobachten. So gesehen sind sie dem Ideal punktuell und entsprechend der Anforderung gegenüber dem Gegner ab und zu sehr nahe gewesen. Und das ist die große Kunst: Zu wissen, wann was einzusetzen ist.
SPOX: Zu einem Prunkstück der Deutschen hat sich die Innenverteidigung entwickelt. Bestechend vor allem die spielerischen Qualitäten von Mats Hummels und Holger Badstuber. Italien als extremes Gegenspiel bot mit Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci zwei Seitenmänner für Libero Daniele De Rossi auf, die wie klassische Vorstopper aus dunklen DFB-Tagen agieren. Was sagt es aus?
Wormuth: Im Grunde nur die Präferenz der jeweiligen Trainer. Cesare Prandelli wollte um den gelernten Mittelfeldspieler De Rossi herum typische Abräumer, um erfolgreich gegen die spanischen Weltklassestürmer zu sein. Der Bundestrainer wägt genau dasselbe ab: Braucht er auf der Innenverteidiger-Position einen guten Spielaufbau oder ein starkes Zweikampfverhalten? Stuttgarts Serdar Tasci ist hierfür ein gutes Beispiel: Überragend im Spielaufbau, Probleme im defensiven Zweikampfverhalten. Für die Bundesliga ist es gut genug, aber Jogi Löw will beides, daher spielen eben Hummels und Badstuber - auch wenn Letztgenannter nicht immer optimal gegen den Ball spielt.
SPOX: Badstuber hat Defizite im Spiel gegen den Ball?
Wormuth: Ich erzähle hier sicherlich nichts Neues und Holger Badstuber kennt selbst seine Entwicklungsmöglichkeit. Er hat alles im Griff, wenn der Gegner mit dem Rücken zu ihm steht. Er gerät jedoch wie alle anderen großen Innenverteidiger in Schwierigkeiten, wenn ein Gegenspieler frontal mit dem Ball auf einen zu rennt. Vor allem gegen kleine quirlige Messis ist das nicht einfach. Erinnern wir uns an das Niederlande-Spiel und Robin van Persies Tor: Der Pass davor auf van Persie hätte von den anderen unterbunden und Hummels sich dann anders verhalten müssen. Und es war schwer für Badstuber, sofort van Persies Tempo aufzunehmen, damit es nicht erst im Strafraum zum Kontakt kommt. Nur: Wenn Du als Spieler solche Situationen ohnehin schon nicht magst, fängt Du an zu denken... und dann ist es schon zu spät.
Hier geht's zu Teil II: Wormuth über das Karagounis, die Russen und Italiens Libero-Wiedergeburt
SPOX: Die "BBC" produzierte eigens eine TV-Taktik-Analyse zu Badstuber-Partner Hummels, weil seine offensive Spielweise so beeindruckend sei. Kann Hummels neben Spaniens Gerard Pique zur Stilikone unter den Innenverteidigern werden?
Wormuth: Ja, beide verkörpern den neuen Stil der Innenverteidiger. Beide sind taktisch hervorragend geschult, sowohl im Defensiv- wie im Offensivverhalten. Hummels kam nicht umsonst in der Jugend auf der Sechs zum Einsatz. Daran werden sich zukünftig alle Trainer orientieren müssen, weil das Spiel von hinten heraus immer wichtiger wird. Nehmen wir doch mal Stephan Andersen, den Torhüter der Dänen, im ersten Spiel gegen die Niederlande. Obwohl die Niederländer vorne beim Abstoß zugestellt haben, hat dieser Wahnsinnige mit seinen Innenverteidigern 3-gegen-2 im Strafraum gespielt. Auch wenn Arjen Robben dadurch fast ein Tor geschossen hätte - sensationell! Das ist wohl der moderne Fußball: Der Ball muss in den eigenen Reihen bleiben.
SPOX: Antiquiert wirkt hingegen der Fußball der Griechen. Mit dem gesperrten Giorgos Karagounis fehlt gegen Deutschland zudem noch der Kreativste. Welche Auswirkungen hat der Ausfall?
Wormuth: Zum ersten: Er schießt alle Standards - und das ziemlich gut. Zum zweiten: Er ist einer der Wenigen bei den Griechen, die mit einem Solo einen Gegner alleine ausspielen können. Von daher verlieren sie eine ganz wichtige Stütze, die als Kapitän und Antreiber zudem der "interne Pusher" des Teams war. Andererseits werden die Verantwortlichkeiten auf viele Schultern verteilt, was ziemlich unangenehm werden kann für die deutsche Nationalmannschaft.
SPOX: Was macht Griechenland gefährlich?
Wormuth: Aufgrund ihrer tiefstehenden Spielweise ergeben sich für die wenigen Spieler, die sich am Angriff beteiligen, große Räume. So können die Spieler mit einer guten Ballbehandlung wie der gesperrte Karagounis mit dem Blick zum gegnerischen Tor und dem Ball am Fuß laufen und Risiken eingehen - im Wissen dessen, dass bei einem Ballverlust kein Konter droht. Das ist nicht viel - aber die Griechen verstehen es, aus wenig viel zu machen.
spoxSPOX: Um in der Wortwahl zu bleiben: Russland hatte viel und machte wenig daraus. Wie konnte es soweit kommen, dass das deutlich talentiertere Team gegen Griechenland verlor und in der Gruppe ausschied? Lag es an der Mentalität?
Wormuth: Nein, die Russen hatten gegen Griechenland genügend Möglichkeiten für Tore, sie wurden lediglich beim finalen Pass oder beim Torschuss gehindert. Dennoch spielten sie gut: Ständiges Steil-Klatsch in ihrem vertikalen Spiel - nur am Ende brachten sie nicht mehr die Geduld auf. Alle Russen rückten in die Mitte ein und machten damit ihre Räume selbst zu, und die hoch stehenden Außenverteidiger, die dann Außenstürmer waren, wurden zu selten angespielt, um vor dem Strafraum den Gegner in die Breite zu ziehen.
SPOX: Das auffälligste Merkmal der Russen war das Dreier-Mittelfeld mit Roman Schirokow, Konstantin Syrjanow und Igor Denissow. Drei in Westeuropa fast gänzlich unbekannte Spieler, dabei vereinen sie fußballerische Fähigkeiten mit Zweikampfstärke und taktischer Disziplin. Wie gefiel Ihnen Russland?
Wormuth: Ich habe die Russen live gesehen und fand die Interpretation ihres Spiels absolut der Philosophie und der Qualität der Nationalmannschaft passend. Wenn auf der linken Außenbahn ein Andrei Arschawin rumsteht, der nach vorne unglaubliche Qualitäten besitzt, dafür defensiv kaum mitarbeitet, benötigt es Abräumer dahinter, die gleichzeitig den Ball von A nach B bringen können. Vielleicht nicht so spektakulär wie andere - Andrea Pirlo etwa - trotzdem effektiv fürs Team. Daher fand ich die Russen im Vergleich zur EM 2008 viel cleverer. Damals agierten sie unglaublich schnell, vor allem im offensiven Umschalten. Heute wechseln sie ständig ihr Tempo zwischen Schlafwagenfußball und Highspeedaktionen. Sie wirken in der 80. Minute ohne Kondition und plötzlich schlagen sie im Umschalten ein Tempo an, dass der Gegner die Welt nicht mehr versteht. Ich glaube, dass sie aus der Vergangenheit gelernt haben. Hauruckfußball allein macht keinen Europameister.
Schirokow, Syrjanow und Denissow: Sie hassten und sie liebten ihn
SPOX: Gibt es beim amtierenden Europameister Spanien etwas Neues?
Wormuth: Spanien ist Spanien. Sie ziehen ihr Programm runter, egal gegen wen es antritt. Das konnte ich bei der U-21-EM in Dänemark und der U-17-EM in Lichtenstein beobachten. Die Spanier spielen mit den gleichen Spielertypen immer ihr Spiel. Es ist noch immer verdammt schwer, gegen diese Ballbesitzer anzukommen.
SPOX: Eines der neuen Trends heißt: "falsche Neun". Fanden Sie Spaniens Versuch gegen Italien, ohne einen echten Stürmer zu spielen, so enttäuschend wie viele Experten? Jose Mourinho sprach von einem "sterilen Fußball".
Wormuth: Der Trend kann zukünftig weiter in diese Richtung gehen. Variabilität ist im Kommen. Wir sprechen hier vom beweglichen Mittelstürmer, der sich immer abwechselt mit einer hängenden Spitze. Dadurch bekommt die Verteidigung keinen richtigen Zugriff. Die Spanier passen den Ball teilweise noch am Strafraum raus zum Flügelspieler, der den Gegner wieder zum Verschieben bringt, damit Räume im 16er frei werden. Es hat was - alleine schon wegen der Herausforderung für die gegnerischen Innenverteidiger, im leeren Raum zu decken. Natürlich ist die Aufstellung mit Cesc Fabregas extrem, weil sie oft tatsächlich keine Anspielstation im Strafraum haben. Doch wenn ein Spieler mit vollem Speed in die Tiefe rennt, wie es Messi sehr oft tut, ergeben sich selbst gegen tiefstehende Mannschaften gute Chancen.
SPOX: Dafür, dass so viel über "falsche Neuner" gesprochen wurde, ist diese Variante bei der EM eigentlich nebensächlich. Von Spanien und Russland abgesehen setzen fast alle Teams mit einem Zentralstürmer auf einen klassischen Neuner.
Wormuth: Das stimmt: Das 4-2-3-1 ist bei vielen Teams für einen Targetplayer konzipiert, der großgewachsen ist, den Ball hält, sich mit dem Rücken zum Tor gegen zwei Gegner behauptet und als Kopfballungeheuer die Flanken verwertet. Aber auch das wird sich im Laufe der Zeit wieder verändern, weil die Trainer immer auf Innovationen aus sind.
SPOX: Italien verwehrt sich allen Trends und funktionierte De Rossi erfolgreich zum Libero um. Obwohl im modernen Fußball der Libero fast schon verpönt ist - kann De Rossi eine Renaissance einleiten?
Wormuth: Warum nicht? Wenn man sich mit der Geschichte des Fußballs beschäftigt, erkennt man, dass vermeintlich Neues schon mal da war. Die Viererkette hatte es schon lange gegeben, bevor Arrigo Sacchi sie in Italien einführte. Das schnelle Umschalten in die Offensive, also der Konter, wurde in England Anfang des letzten Jahrhunderts von Herbert Chapman "erfunden". Also wird auch irgendwann der Libero zurürckkommen, wie immer er interpretiert wird. Ich verstehe eines ohnehin nicht: Warum soll der Libero prinzipiell schlecht sein? Das ist mir zu Deutsch gedacht.
Wormuth ist während der EM als SPOX-Eperte tätig und meldet sich regelmäßig zu Wort, um über taktische Trends bei der EM aufzuklären.
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