SPOX: Herr Wormuth, welche Nationalmannschaft hat Ihnen in der Vorrunde taktisch besonders gefallen? Und welches Team hat Sie taktisch besonders enttäuscht?
Frank Wormuth: Als Fußballtrainer und Ausbilder betrachte ich die Spiele ein wenig anders als der normale Fan, daher hat mich vor allem die Leistung der Italiener gegen die Spanier begeistert. Der ständige Wechsel vom defensiven 5-3-2 zum offensiven 3-5-2 war äußerst interessant anzuschauen. Mit Andrea Pirlo verfügen die Italiener über den modernen Spielgestalter auf der Sechser-Position, der für die Defensiv- und für die einleitenden Offensivaktionen verantwortlich ist. Eine taktisch sehr interessante Verhaltensweise, mit denen die Spanier richtig Probleme hatten. Ein taktisch enttäuschendes Team zu benennen ist schwer, da ich natürlich nicht alle Spiele vor Ort sehen kann. Aber es gibt ein paar Mannschaften, die sich taktisch nicht weiterentwickelt haben, und mehr vom Einsatz als von taktischen Verhaltensweisen leben.
SPOX: Gehört Deutschlands Viertelfinal-Gegner Griechenland dazu?
Wormuth: Man muss immer vorsichtig sein mit Aussagen, die auf einer externen Sichtweise begründet sind, bezüglich Griechenland scheint es jedoch zu stimmen. Ihr portugiesischer Trainer Fernando Santos hat bei der Übernahme der Nationalmannschaft angekündigt, dass er den Kombinationsfußball mag. Ihm muss allerdings ganz schnell aufgefallen sein, dass er zur Otto-Rehhagel-Philosophie zurückkehren muss: Effektivität vor Attraktivität. In der Defensive wird als Team gearbeitet, während in der Offensive das Individuum als Philosophie bevorzugt wird. Es ist nicht der moderne Fußball - doch am Ende zogen sie und nicht Russland oder Polen ins Viertelfinale ein. Die Iren konnten ob ihrer Qualität und der Klasse der Gegner auch nicht anders agieren. Aus taktischer Sicht spielte Irland in der Defensive hervorragend, nur dass es in diesem Fall nicht ausreichte.
SPOX: Nach der Frage über die Mannschaften: Gab es einen einzelnen Spieler, der Sie beeindruckte?
Wormuth: Pirlo nannte ich bereits. Ein Sami Khedira schließt durch seine Laufarbeit so viele Räume, dass der Zuschauer ihn kaum in Aktion sieht, er dennoch ungemein wichtig ist für das Defensivverhalten der deutschen Mannschaft. Würde er nicht noch vorne auftauchen, könnte der Normalfan ihn gar nicht bewerten. Ähnlich bei Lukas Podolski, dem man gegen die Portugiesen ein schwaches Spiel attestiert hatte. Nur: Es wurde von niemandem richtig positiv beurteilt, was der Junge nach hinten gearbeitet hat. Was ich damit ausdrücken möchte: In der Regel werden nur sichtbare Aktionen bewertet, dabei sind die unsichtbaren meist die wichtigsten, die über den Erfolg einer Mannschaft entscheiden. Deshalb müsste ich viele Spieler nennen, die mich beeindruckten, wie zum Beispiel den Kroaten Ognjen Vukojevic, der Luka Modric den Rücken freihält, damit dieser effektiv für sein Team sein kann.
SPOX: Sie sprachen Podolski an. Thomas Müller, sein Gegenüber auf rechts, wird ähnlich kritisch beurteilt. Zu Recht? Oder ist es bei Müller ebenfalls eine Folge von Löws Maßgabe, dass die Flügelspieler mehr als früher defensiv absichern müssen?
Wormuth: Anders als Podolski, der in Köln nie auf den Flügeln spielt, muss sich Thomas Müller nicht umstellen, weil das Arbeiten nach hinten in der Bundesliga zum normalen Arbeitsweg eines Außenspielers gehört. Bei ihm sehe ich eher eine individuelle Hängepartie seit der WM 2010. Er kommt einfach nicht mehr an diese unbekümmerte Verhaltensweise heran. Früher stürmte er noch ohne zu Zögern auf die Gegner zu und spielte sie aus. Heute kommt es mir immer so vor, dass er zuerst denkt, bevor er aktiv wird.
SPOX: Müller steht sinnbildlich für den neuen DFB-Fußball: weniger Rausch, mehr Nüchternheit. Vermissen Sie die Leichtigkeit von der WM 2010?
Wormuth: Wir haben von der WM 2010 die Siege gegen Argentinien oder gegen England im Hinterkopf. Wir dürfen trotzdem nicht die anderen Spiele vergessen: Gegen Serbien verloren wir das zweite Vorrundenspiel, gegen Ghana wären wir fast aus dem Turnier ausgeschieden. Auf dem Top-Level-Niveau kann fast jeder jeden schlagen, daher sollte man verschiedene Verhaltensweisen beherrschen. Und das kann unser Team ganz gut. Zum EM-Auftakte zeigte es die erforderliche Cleverness gegen Portugal. Gegen die Niederländer sah es so aus, wie es sich die meisten wünschen - dennoch wird am Ende die clevere Mannschaft Europameister und nicht die, die im Hauruck-Stil alles überrennt. Selbst die Spanier machen das nicht, auch wenn sie unheimlich dominant auftreten.
SPOX: Im Experten-Interview vor der EM sagten Sie, dass das Löw-Ideal so aussehen könnte: Defensiv wird in den ersten vier bis sechs Sekunden nach Ballverlust "spanisch" nach dem Ball gejagt, dann zieht man sich "augsburgisch" zurück. Offensiv wird nach Ballgewinn "dortmundisch" der direkte Weg nach vorne gesucht, dann "bayrisch" der Ball in den eigenen Reihen gehalten. Wie nah ist das DFB-Team dem Optimum?
Wormuth: Gegen Portugal waren defensiv die Augsburger gut zu sehen, dafür wurde offensiv zu wenig in steilgehende Läufe investiert. Das war angesichts des starken Kontrahenten und den neuen klimatischen Verhältnissen nicht anders zu erwarten. Gegen die Niederländer gab es die ersten Ansätze der Dortmunder mit dem schnellen Umschalten. Genauso wurde die punktuell eingesetzte spanische Balleroberungsmaschine sichtbar. Dass die Mannschaft die bayrisch geduldige Spielweise beherrscht, war in allen Spielen zu beobachten. So gesehen sind sie dem Ideal punktuell und entsprechend der Anforderung gegenüber dem Gegner ab und zu sehr nahe gewesen. Und das ist die große Kunst: Zu wissen, wann was einzusetzen ist.
SPOX: Zu einem Prunkstück der Deutschen hat sich die Innenverteidigung entwickelt. Bestechend vor allem die spielerischen Qualitäten von Mats Hummels und Holger Badstuber. Italien als extremes Gegenspiel bot mit Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci zwei Seitenmänner für Libero Daniele De Rossi auf, die wie klassische Vorstopper aus dunklen DFB-Tagen agieren. Was sagt es aus?
Wormuth: Im Grunde nur die Präferenz der jeweiligen Trainer. Cesare Prandelli wollte um den gelernten Mittelfeldspieler De Rossi herum typische Abräumer, um erfolgreich gegen die spanischen Weltklassestürmer zu sein. Der Bundestrainer wägt genau dasselbe ab: Braucht er auf der Innenverteidiger-Position einen guten Spielaufbau oder ein starkes Zweikampfverhalten? Stuttgarts Serdar Tasci ist hierfür ein gutes Beispiel: Überragend im Spielaufbau, Probleme im defensiven Zweikampfverhalten. Für die Bundesliga ist es gut genug, aber Jogi Löw will beides, daher spielen eben Hummels und Badstuber - auch wenn Letztgenannter nicht immer optimal gegen den Ball spielt.
SPOX: Badstuber hat Defizite im Spiel gegen den Ball?
Wormuth: Ich erzähle hier sicherlich nichts Neues und Holger Badstuber kennt selbst seine Entwicklungsmöglichkeit. Er hat alles im Griff, wenn der Gegner mit dem Rücken zu ihm steht. Er gerät jedoch wie alle anderen großen Innenverteidiger in Schwierigkeiten, wenn ein Gegenspieler frontal mit dem Ball auf einen zu rennt. Vor allem gegen kleine quirlige Messis ist das nicht einfach. Erinnern wir uns an das Niederlande-Spiel und Robin van Persies Tor: Der Pass davor auf van Persie hätte von den anderen unterbunden und Hummels sich dann anders verhalten müssen. Und es war schwer für Badstuber, sofort van Persies Tempo aufzunehmen, damit es nicht erst im Strafraum zum Kontakt kommt. Nur: Wenn Du als Spieler solche Situationen ohnehin schon nicht magst, fängt Du an zu denken... und dann ist es schon zu spät.
Hier geht's zu Teil II: Wormuth über das Karagounis, die Russen und Italiens Libero-Wiedergeburt