SPOX: Die "BBC" produzierte eigens eine TV-Taktik-Analyse zu Badstuber-Partner Hummels, weil seine offensive Spielweise so beeindruckend sei. Kann Hummels neben Spaniens Gerard Pique zur Stilikone unter den Innenverteidigern werden?
Wormuth: Ja, beide verkörpern den neuen Stil der Innenverteidiger. Beide sind taktisch hervorragend geschult, sowohl im Defensiv- wie im Offensivverhalten. Hummels kam nicht umsonst in der Jugend auf der Sechs zum Einsatz. Daran werden sich zukünftig alle Trainer orientieren müssen, weil das Spiel von hinten heraus immer wichtiger wird. Nehmen wir doch mal Stephan Andersen, den Torhüter der Dänen, im ersten Spiel gegen die Niederlande. Obwohl die Niederländer vorne beim Abstoß zugestellt haben, hat dieser Wahnsinnige mit seinen Innenverteidigern 3-gegen-2 im Strafraum gespielt. Auch wenn Arjen Robben dadurch fast ein Tor geschossen hätte - sensationell! Das ist wohl der moderne Fußball: Der Ball muss in den eigenen Reihen bleiben.
SPOX: Antiquiert wirkt hingegen der Fußball der Griechen. Mit dem gesperrten Giorgos Karagounis fehlt gegen Deutschland zudem noch der Kreativste. Welche Auswirkungen hat der Ausfall?
Wormuth: Zum ersten: Er schießt alle Standards - und das ziemlich gut. Zum zweiten: Er ist einer der Wenigen bei den Griechen, die mit einem Solo einen Gegner alleine ausspielen können. Von daher verlieren sie eine ganz wichtige Stütze, die als Kapitän und Antreiber zudem der "interne Pusher" des Teams war. Andererseits werden die Verantwortlichkeiten auf viele Schultern verteilt, was ziemlich unangenehm werden kann für die deutsche Nationalmannschaft.
SPOX: Was macht Griechenland gefährlich?
Wormuth: Aufgrund ihrer tiefstehenden Spielweise ergeben sich für die wenigen Spieler, die sich am Angriff beteiligen, große Räume. So können die Spieler mit einer guten Ballbehandlung wie der gesperrte Karagounis mit dem Blick zum gegnerischen Tor und dem Ball am Fuß laufen und Risiken eingehen - im Wissen dessen, dass bei einem Ballverlust kein Konter droht. Das ist nicht viel - aber die Griechen verstehen es, aus wenig viel zu machen.
SPOX: Um in der Wortwahl zu bleiben: Russland hatte viel und machte wenig daraus. Wie konnte es soweit kommen, dass das deutlich talentiertere Team gegen Griechenland verlor und in der Gruppe ausschied? Lag es an der Mentalität?
Wormuth: Nein, die Russen hatten gegen Griechenland genügend Möglichkeiten für Tore, sie wurden lediglich beim finalen Pass oder beim Torschuss gehindert. Dennoch spielten sie gut: Ständiges Steil-Klatsch in ihrem vertikalen Spiel - nur am Ende brachten sie nicht mehr die Geduld auf. Alle Russen rückten in die Mitte ein und machten damit ihre Räume selbst zu, und die hoch stehenden Außenverteidiger, die dann Außenstürmer waren, wurden zu selten angespielt, um vor dem Strafraum den Gegner in die Breite zu ziehen.
SPOX: Das auffälligste Merkmal der Russen war das Dreier-Mittelfeld mit Roman Schirokow, Konstantin Syrjanow und Igor Denissow. Drei in Westeuropa fast gänzlich unbekannte Spieler, dabei vereinen sie fußballerische Fähigkeiten mit Zweikampfstärke und taktischer Disziplin. Wie gefiel Ihnen Russland?
Wormuth: Ich habe die Russen live gesehen und fand die Interpretation ihres Spiels absolut der Philosophie und der Qualität der Nationalmannschaft passend. Wenn auf der linken Außenbahn ein Andrei Arschawin rumsteht, der nach vorne unglaubliche Qualitäten besitzt, dafür defensiv kaum mitarbeitet, benötigt es Abräumer dahinter, die gleichzeitig den Ball von A nach B bringen können. Vielleicht nicht so spektakulär wie andere - Andrea Pirlo etwa - trotzdem effektiv fürs Team. Daher fand ich die Russen im Vergleich zur EM 2008 viel cleverer. Damals agierten sie unglaublich schnell, vor allem im offensiven Umschalten. Heute wechseln sie ständig ihr Tempo zwischen Schlafwagenfußball und Highspeedaktionen. Sie wirken in der 80. Minute ohne Kondition und plötzlich schlagen sie im Umschalten ein Tempo an, dass der Gegner die Welt nicht mehr versteht. Ich glaube, dass sie aus der Vergangenheit gelernt haben. Hauruckfußball allein macht keinen Europameister.
Schirokow, Syrjanow und Denissow: Sie hassten und sie liebten ihn
SPOX: Gibt es beim amtierenden Europameister Spanien etwas Neues?
Wormuth: Spanien ist Spanien. Sie ziehen ihr Programm runter, egal gegen wen es antritt. Das konnte ich bei der U-21-EM in Dänemark und der U-17-EM in Lichtenstein beobachten. Die Spanier spielen mit den gleichen Spielertypen immer ihr Spiel. Es ist noch immer verdammt schwer, gegen diese Ballbesitzer anzukommen.
SPOX: Eines der neuen Trends heißt: "falsche Neun". Fanden Sie Spaniens Versuch gegen Italien, ohne einen echten Stürmer zu spielen, so enttäuschend wie viele Experten? Jose Mourinho sprach von einem "sterilen Fußball".
Wormuth: Der Trend kann zukünftig weiter in diese Richtung gehen. Variabilität ist im Kommen. Wir sprechen hier vom beweglichen Mittelstürmer, der sich immer abwechselt mit einer hängenden Spitze. Dadurch bekommt die Verteidigung keinen richtigen Zugriff. Die Spanier passen den Ball teilweise noch am Strafraum raus zum Flügelspieler, der den Gegner wieder zum Verschieben bringt, damit Räume im 16er frei werden. Es hat was - alleine schon wegen der Herausforderung für die gegnerischen Innenverteidiger, im leeren Raum zu decken. Natürlich ist die Aufstellung mit Cesc Fabregas extrem, weil sie oft tatsächlich keine Anspielstation im Strafraum haben. Doch wenn ein Spieler mit vollem Speed in die Tiefe rennt, wie es Messi sehr oft tut, ergeben sich selbst gegen tiefstehende Mannschaften gute Chancen.
SPOX: Dafür, dass so viel über "falsche Neuner" gesprochen wurde, ist diese Variante bei der EM eigentlich nebensächlich. Von Spanien und Russland abgesehen setzen fast alle Teams mit einem Zentralstürmer auf einen klassischen Neuner.
Wormuth: Das stimmt: Das 4-2-3-1 ist bei vielen Teams für einen Targetplayer konzipiert, der großgewachsen ist, den Ball hält, sich mit dem Rücken zum Tor gegen zwei Gegner behauptet und als Kopfballungeheuer die Flanken verwertet. Aber auch das wird sich im Laufe der Zeit wieder verändern, weil die Trainer immer auf Innovationen aus sind.
SPOX: Italien verwehrt sich allen Trends und funktionierte De Rossi erfolgreich zum Libero um. Obwohl im modernen Fußball der Libero fast schon verpönt ist - kann De Rossi eine Renaissance einleiten?
Wormuth: Warum nicht? Wenn man sich mit der Geschichte des Fußballs beschäftigt, erkennt man, dass vermeintlich Neues schon mal da war. Die Viererkette hatte es schon lange gegeben, bevor Arrigo Sacchi sie in Italien einführte. Das schnelle Umschalten in die Offensive, also der Konter, wurde in England Anfang des letzten Jahrhunderts von Herbert Chapman "erfunden". Also wird auch irgendwann der Libero zurürckkommen, wie immer er interpretiert wird. Ich verstehe eines ohnehin nicht: Warum soll der Libero prinzipiell schlecht sein? Das ist mir zu Deutsch gedacht.
Wormuth ist während der EM als SPOX-Eperte tätig und meldet sich regelmäßig zu Wort, um über taktische Trends bei der EM aufzuklären.
Was erreicht Team Deutschland bei der EM? Jetzt mittippen und absahnen!