So will England Europameister werden

Daniel Börlein
05. April 201217:39
Drei Köpfe der englischen Nationalmannschaft: Steven Gerrard, Wayne Rooney und John Terry (v.l.)Getty
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Die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine ist in diesem Sommer das große Highlight des Fußball-Jahres. SPOX befasst sich im Vorfeld der Endrunde intensiv mit den Teilnehmern und liefert zu den Top-Nationen eine umfassende Analyse. Los geht's mit England und der Erklärung, warum die Three Lions keinen Robben oder Ribery brauchen sowie der Frage, weshalb England kein Pressing spielt. Eine Analyse in fünf Teilen.

Die Grundordnung

Noch ist nicht geklärt, wer bei der EM Trainer der englischen Nationalmannschaft sein wird. Klar ist allerdings, dass dem neuen Mann einige taktische Varianten zur Verfügung stehen werden, die unter Fabio Capello und Interims-Teamchef Stuart Pearce zum Repertoire der Three Lions gehörten.

Auf ein spezielles System ist England nicht festgelegt. In den letzten Länderspielen agierte die Elf von der Insel mal im 4-2-3-1 (z.B. gegen die Niederlande und Bulgarien), im 4-1-4-1 (gegen Spanien) oder in einer Mischung aus 4-1-2-2-1 und 4-3-3 wie gegen Schweden.

Vom System hängen auch das Verhalten und die Ausrichtung der einzelnen Mannschaftsteile ab. Die Viererkette steht allerdings grundsätzlich vergleichsweise tief und verzichtet meist darauf, dem Mittelfeld im gleichen Maß hinterher zu schieben, wenn sich dies nach vorne orientiert.

Der Grund: Bei Ballverlust hat die Abwehrreihe so mehr Raum und vor allem Zeit, auf die veränderte Spielsituation zu reagieren. Sicherheit statt Risiko, lautet die Vorgabe, die ein typisches Merkmal einer Capello-Mannschaft ist.

An der Ausrichtung des englischen Mittelfeldes lässt sich meist die Qualität des Gegners ablesen. Gegen starke Teams setzen die Three Lions darauf, den Gegner bei dessen Ballbesitz mit zwei eng beieinander stehenden Verteidigungslinien keinen Spielraum in der englischen Hälfte zu geben.

Vor der Viererkette wird dann im Mittelfeld eine weitere Vierer- (wie gegen Holland) bzw. gar eine Fünferreihe (gegen Spanien) etabliert, die nur wenige Meter vor der eigenen Abwehrkette steht und das Ziel hat, keinen Raum für Passfolgen durchs Zentrum zu bieten (siehe Bild).

Gegen vermeintlich schwächere Teams steht die Mittelfeldreihe dagegen etwas höher, der Abstand zur Viererkette ist größer und für die Verknappung des Raumes vor der Deckung sind in erster Linie die zwei bzw. drei Sechser zuständig, während die Flügelspieler nicht in letzter Konsequenz ins Verteidigungsverhalten einbezogen werden. Bei eigenem Ballbesitz verschiebt sich die Grundordnung dann zunächst wieder ins "eigentliche" System.

Was sich in den letzten Monaten bei den Three Lions nie änderte, war die Ausrichtung, nur mit einer zentralen Spitze zu spielen. Im Normalfall übernimmt diesen Part Wayne Rooney. Der United-Star wird allerdings die ersten beiden EM-Spiele aufgrund seiner Rot-Sperre aus der Qualifikation verpassen. Als Alternativen kommen vor allem Danny Welbeck, Darren Bent und Bobby Zamorra in Frage.

Teil 2: Die Spieleröffnung

Teil 3: Die Offensiv-Idee

Teil 4: Das Spiel gegen den Ball

Teil 5: Die Besonderheiten

Die Spieleröffnung

Auch in Sachen Spieleröffnung hat die Zeit unter Fabio Capello deutliche Spuren hinterlassen. Der Italiener hat den Engländern eingeimpft, den ersten Ball aus der eigenen Defensive nicht ohne Not risikoreich zu platzieren, sondern durch einen simplen Auftakt-Pass Sicherheit und Ruhe ins Spiel zu bringen.

Die Spielauslösung findet in der Regel über einen der beiden Innenverteidiger statt, wobei der nur ganz selten auf einen Vertikalpass über mehr als zehn Metern zurückgreift. Ein gravierender Unterschied zur deutschen Mannschaft, wo Löw von seinen zentralen Abwehrspielern das flache Spiel in die Tiefe immer wieder einfordert.

Wie beim DFB-Team sind allerdings auch in England beim geordneten Spielaufbau hohe lange Bälle aus der eigenen Abwehr verpönt. Gelegentlich wird mal ein Diagonalball zur Spielverlagerung eingestreut. Generell gilt für die Defensivreihe aber: Flach und ohne Risiko eröffnen.

Der Adressat dieses einfachen ersten Passes ist in der Regel ein defensiver Mittelfeldspieler, der den Ball in den Fuß bekommt, sich dann aber eher selten (am häufigsten Gareth Barry) aufdreht, um das Spiel vor sich zu haben, wie es Sechser anderer Nationen (z.B. Schweinsteiger, Busquets) in der Spieleröffnung gerne machen.

Die Aufgabenstellung an einen Sechser der Three Lions ist allerdings auch eine andere. Der englische Sechser ist dafür verantwortlich, die Ballzirkulation (und nicht das Offensiv-Geschehen) in Gang zu setzen. Das bedeutet: Einen Ball ins vordere Angriffsdrittel spielt der Sechser nur äußerst selten.

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Stattdessen bringt er durch den ersten Ball Ruhe und Ordnung ins Spiel oder gibt mit einem schnellen ersten Kontakt das Signal, dass der Ball nun druckvoll und möglichst direkt durch die Reihen rotieren soll, bis man sich so in eine aussichtsreiche Position gepasst hat.

In der Praxis sieht das dann so aus: Der Sechser geht beim Zuspiel aus der Abwehr mit dem Rücken zum gegnerischen Tor in den Ball, lässt ihn mit einem Kontakt zurück auf einen Innenverteidiger prallen oder - und das ist die bevorzugte Variante - verteilt ihn sofort auf die Außenbahn, von wo der Ball dann im Idealfall schnell weiter zirkulieren soll.

Das Ganze zeigt: Englands Sechser sind keine Gestalter oder Entscheider in der Spieleröffnung, sondern lediglich Impulsgeber für den Spielrhythmus. Sie sind angehalten, auf Risikobälle zu verzichten und die defensive Stabilität jederzeit über die Teilnahme am Offensivgeschehen zu stellen.

Agiert England mit einer Doppelsechs, gibt es deshalb auch keine klassische Rollenverteilung, wonach einer der beiden Sechser ganz klar offensiv und der andere defensiv orientiert ist.

Scott Parker, inzwischen Kapitän der Three Lions, mimt zwar eine Art Abräumer vor der Abwehr, einen Offensivsechser, der bei eigenen Angriffen regelmäßig vorne auftaucht und gerne auch mal mit Tempo in die Tiefe geht, gibt es im englischen Team allerdings nicht.

Teil 1: Die Grundordnung

Teil 3: Die Offensiv-Idee

Teil 4: Das Spiel gegen den Ball

Teil 5: Die Besonderheiten

Die Offensiv-Idee

Durchs Zentrum wird das englische Spiel eröffnet und in Gang gesetzt, den Weg zum Erfolg versucht man allerdings bevorzugt über die Flügel zu finden. Dafür sind die Außenbahnen doppelt besetzt - mit offensivstarken Außenverteidigern und starken Tempodribblern davor.

Dieses Duo versucht die englische Mannschaft möglichst häufig in eine günstige Position zu bringen. Dazu rücken Links- bzw. Rechtsaußen von der Außenlinie immer wieder ins Halbfeld ein, sobald der Ball gezielt ins vordere Angriffsdrittel gepasst werden kann, veranlassen den Gegner dadurch, das Zentrum zu verstärken und öffnen so die Außenbahn für die eigenen Außenverteidiger, die immer wieder anlaufen.

Das Ziel der Three Lions: Die Flügel sollen bei einer Offensivaktion doppelt besetzt und der Gegner durch zwei mögliche Angriffswellen ausgehebelt werden. Heißt: Das Außenbahn-Pärchen versucht, mindestens einen von beiden (AS oder AV) zum Flanken oder - noch besser - zum Torabschluss zu bringen. Dazu setzt England immer wieder auf das inzwischen alltägliche, aber häufig effizient praktizierte Hinterlaufen. Erst wenn der Ball auf der Außenbahn gelandet ist, nimmt das englische Spiel so richtig an Tempo auf.

Auch in der Umsetzung des Flügelspiels unterscheidet sich England also von anderen Nationen: Die Niederlande oder Frankreich (wie auch der FC Bayern) versuchen beispielsweise, ihre Flügelstürmer (Arjen Robben/Franck Ribery) möglichst oft zu isolieren, um so ihre Stärken im Eins-gegen-Eins optimal einsetzen zu können und entscheidende Aktionen zu ermöglichen.

Durch die Doppelung auf der Außenbahn versucht England zudem vor allem gegen vermeintlich schwächere Gegner und bei längeren Ballbesitzzeiten, jedes einzelne Glied der gegnerischen Abwehrreihe zu beschäftigen.

Heißt: Die Three Lions schieben in der Offensive vier Mann auf eine Linie und lassen ein 4-2-4 bzw. 3-3-4 entstehen. Der Grund: Alle vier Abwehrspieler des Gegners sehen sich so einem unmittelbaren Gegenspieler ausgesetzt. Das Verschieben innerhalb der Viererkette wird dadurch erschwert, das Übergeben des Gegenspielers zum hohen Risiko, einlaufende Spieler sind kaum zu kontrollieren. SPOX

Mittelfeldspieler werden gezwungen, sich auf Höhe der Abwehr zurückfallen zu lassen, um die defensive Sicherheit zu gewährleisten. Die Folge: Lücken entstehen, die Räume sind nicht mehr adäquat besetzt, Unordnung ist nur schwer zu vermeiden und der Gegner (in diesem Fall England) ist in der Lage, den Ball in der gefährlichen Zone zentral vor dem Tor festzumachen.

Doch selbst wenn England dort den Ball kontrolliert, werden durchs Zentrum nur selten einstudierte Abläufe vorgetragen. Der Ball in die Tiefe auf Mittelstürmer oder den offensiven Mittelfeldspieler findet fast nie statt, stattdessen wird steil fast nur auf einen der Außenbahnspieler gepasst.

Teil 1: Die Grundordnung

Teil 2: Die Spieleröffnung

Teil 4: Das Spiel gegen den Ball

Teil 5: Die Besonderheiten

Das Spiel gegen den Ball

Im Spiel gegen den Ball gibt es längst verschiedene Ansätze, die erfolgreiche Top-Mannschaften praktizieren. Während beispielsweise Spanien bei den Nationalmannschaften oder Borussia Dortmund in der Bundesliga auf aggressives Pressing und sofortiges Gegenpressing nach Ballverlust setzen, bevorzugt England ein anderes Defensivkonzept.

Auf das klassische Pressing wird dabei in der Regel verzichtet, Gegenpressing findet nur in ganz seltenen Fällen statt. Für die Three Lions gilt stattdessen: Nur dort, wo eine vielversprechend hohe Wahrscheinlichkeit eines Ballgewinns vorhanden scheint, wird intensiv gegen den Ball gearbeitet und Kraft in die Balleroberung investiert.

Ist das nicht der Fall, lässt man den Gegner zunächst agieren und beschränkt sich aufs Verschieben. Allerdings nur auf den ersten Blick. Das Ziel der Engländer: Durch gezieltes Anlaufverhalten, geschicktes Positionsspiel und geordnetes Raumverhalten soll der Ball dorthin "gelockt" werden, wo die Aussicht auf Ballgewinn und ein anschließend möglichst erfolgreiches Umschaltspiel am höchsten ist. Im Normfall ist das der Bereich im Zentrum, einige Meter vor oder hinter (abhängig von der Qualität des Gegners) der Mittellinie.

Bei gegnerischen Ballbesitz in der Abwehr sieht dies dann wie folgt aus: Der englische Mittelstürmer betreibt leichtes Forechecking und läuft den ballführenden Innenverteidiger möglichst so an, dass der Passweg zum anderen Innenverteidiger sowie zum ballferneren Außenverteidiger zugestellt ist.

Der zentral-offensive Mittelfeldspieler oder der Flügelspieler übt gleichzeitig leichten Druck auf den ballnahen Außenverteidiger aus. Bekommt dieser den Ball, wird der Druck etwas erhöht, während gleichzeitig der englische Mittelstürmer den Rückpassweg zur Innenverteidigung zuläuft.

Für den gegnerischen Abwehrspieler (ob nun AV oder IV) bleiben so nur die Möglichkeiten des langen Balles oder Rückpasses auf den Keeper (risikoloseste Lösung), eines Dribblings (keine Absicherung bei Ballverlust) oder des Passes ins Zentrum auf einen zentralen Mittelfeldspieler. Diese Option bietet England seinem Gegner durch das Anlaufen seiner Offensivkräfte immer wieder an und versucht ihn so, in eine vermeintliche Falle zu locken.

Denn: Wird ein gegnerischer Spieler in der Zentrale angespielt, bekommt er sofort Druck von einem Engländer und nach Möglichkeit aus einer zweiten Richtung durch einen weiteren englischen Spieler. Gleichzeitig blockiert der Mittelstürmer den Passweg zur Innenverteidigung.

Erobert England nun den Ball, hat man alle Möglichkeiten fürs Umschaltspiel. In der Regel geht zumindest einer der Außenbahnspieler nach Ballgewinn sofort in die Tiefe und ist damit die erste Option für den schnellen Gegenstoß. Ist der nicht möglich, wird häufig der eigene Zehner gesucht, der in den Ball gehen und ihn festmachen soll, um den Außenbahnspieler so die nötige Zeit zu verschaffen, das Spielfeld möglichst groß zu machen und Raumgewinn zu erzielen.

Was auffällt: Kombiniert sich der Gegner etwas tiefer in die englische Hälfte, verlässt der ballnahe Außenverteidiger Englands gerne seinen Platz in der Viererkette und setzt einen gegnerischen, im Halbfeld postierten, Mittelfeldspieler unter Druck, allerdings nur, wenn der mit dem Rücken zum englischen Tor steht.

Der Rest der Viererkette hält dagegen seine (tiefe) Position und wartet darauf, dass der Außenverteidiger an seinen Platz zurückkehrt (siehe Bild 5 bis 8).

Teil 1: Die Grundordnung

Teil 2: Die Spieleröffnung

Teil 3: Die Offensiv-Idee

Teil 5: Die Besonderheiten

Die Besonderheiten

Englands Offensivspiel ist auf ein funktionierendes Flügelspiel ausgerichtet. Das Gute: Während im Sturmzentrum die Alternativen zu Wayne Rooney überschaubar sind, haben die Three Lions auf den offensiven Außenbahnen eine ganze Reihe von Optionen.

Dank Linksfüßern wie Stewart Downing, Daniel Sturridge und Adam Johnson sowie Ashley Young, James Milner oder Theo Walcott (rechts) kann England auf den Flügeln viel variieren, sowohl in der Wahl der Besetzung der Außen als auch in der Ausrichtung. Sprich: Agiert man zum Beispiel auf dem rechten Flügel mit einem Rechts- oder einem Linksfuß?

Durch die Fokussierung auf das Flügelspiel nimmt der einzige zentrale Angreifer am englischen Spiel scheinbar recht wenig teil. Im Spiel gegen den Ball ist er vor allem fürs Anlaufen der Innenverteidiger sowie das Zustellen von Passwegen verantwortlich. In der Offensive soll er in erster Linie der Endverwerter des Flügelspiels sein. SPOX

Als Wandspieler oder zum Festmachen des Balles im Angriffszentrum ist er dagegen im Normalfall nicht vorgesehen. Zwar bietet sich der Mittelstürmer (v.a. Rooney) ab und an fürs Anspiel in den Fuß an oder lässt sich etwas tiefer fallen, allerdings eher dann, wenn Englands Spiel zu statisch und ausrechenbar zu werden droht.

In der Defensive neigen die Three Lions dazu, den Gegner bisweilen zu tief in die eigene Hälfte kommen zu lassen, bieten ihm dadurch die Möglichkeit für das Anspiel an den Sechzehner und gehen damit im gefährlichen Bereich vor dem eigenen Tor (unnötig) hohes Risiko.

Um dem entgegen zu wirken, schiebt die Mittelfeldreihe häufig weiter nach vorne gegen den Ball. Weil die Ablaufautomatismen allerdings nicht immer stimmen, verpasst die Abwehrkette teilweise den richtigen Moment, um aufzuschließen. (siehe Bild 1 bis 4)

Gerade hinter den Sechsern fehlt so bisweilen die unmittelbare Absicherung für einen verlorenen Zweikampf, was gegen spielstarke Gegner wie Spanien ebenso zur Bedrohung werden kann, wie die Tatsache, dass die gegnerischen Angreifer den vorhandenen Raum nutzen, um sich zwischen den beiden Linien zu bewegen und dadurch nur schwer greifbar sind. (siehe Bild 1 bis 4)

Teil 1: Die Grundordnung

Teil 2: Die Spieleröffnung

Teil 3: Die Offensiv-Idee

Teil 4: Das Spiel gegen den Ball