Die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine ist in diesem Sommer das große Highlight des Fußball-Jahres. SPOX befasst sich im Vorfeld der Endrunde intensiv mit den Teilnehmern und liefert zu den Top-Nationen eine umfassende Analyse. In Teil vier der Serie steht Italien im Fokus. Die Squadra Azzurra setzt unter Cesare Prandelli auf Variabilität im Mittelfeld und einen Fixpunkt. Die Zeiten des Catenaccio scheinen vorbei.
Es waren ernüchternde Endrunden, die die italienische Nationalmannschaft bei den vergangenen beiden Turnieren hinlegte. In Österreich und der Schweiz 2008 qualifizierte sich das Team des damaligen Nationaltrainers Roberto Donadoni mit Mühe und nur dank der Schützenhilfe der Niederlande fürs Viertelfinale und scheiterte dort an Spanien.
Zwei Jahre später, bei der Weltmeisterschaft in Südafrika, lief es noch schlechter. Als Titelverteidiger blieb die Squadra Azzurra in der Gruppenphase ohne Sieg und schied erstmals seit 1974 schon in der Vorrunde aus. Daran konnte auch Weltmeister-Coach Marcello Lippi nichts ändern.
Zwei Jahre später reist Italien nun erneut mit einem neuen Coach zu einer Endrunde. Unter Cesare Prandelli will man es deutlich besser machen als zuletzt. Und dafür geht Italiens Nationalcoach einen etwas anderen Weg als viele seiner Kollegen.
Das Mittelfeldsystem
Die inzwischen vom Großteil praktizierte Doppelsechs im Mittelfeld, auf die auch fast alle EM-Teilnehmer setzen, gibt es bei Prandelli nicht. Auch lässt der Coach der Azzurri, anders als die vermeintlichen EM-Top-Favoriten, mit zwei statt nur mit einem echten Stürmer spielen.
Während Mannschaften wie Deutschland, Niederlande und Frankreich also auf ein 4-2-3-1-System bauen, agiert Italien in einem 4-3-1-2, in dem vor allem das Mittelfeld dafür verantwortlich ist, dass das komplette System auch tatsächlich funktioniert.
Eine Sache ist dabei ganz zentral: Das Verhalten der beiden Akteure im Halbfeld. Denn was auf dem Papier nach einer Dreierkette vor der eigenen Abwehr und damit ein bisschen nach Catenaccio aussieht, ist in der Praxis weit mehr als das.
Ein zentraler Mittelfeldspieler wird dabei flankiert von je einem Nebenmann im linken und rechten Halbfeld. Auf einer Linie agiert dieses Trio nur dann, wenn der Druck des Gegners hoch und der Ball schon in der italienischen Hälfte ist.
Der Vorteil: Durch die Anordnung als Dreierreihe ist Italien in der Lage, die gegnerischen Flügelspieler schnell doppelt zu besetzen, ohne gleichzeitig das eigene Zentrum zu entblößen. Besonders Mannschaften mit starken Dribblern können dadurch wirkungsvoller verteidigt werden.
Arbeitet die Squadra Azzurra hingegen schon in der gegnerischen Hälfte gegen den Ball, schiebt der ballnahe Halbfeldspieler eine Position weiter nach vorne auf Höhe des eigenen offensiven Mittelfeldspielers. Dort wird dann aggressiv gegen den Ball gespielt. Der ballferne Halbfeldspieler rückt dagegen ein und verstärkt das Zentrum.
Bei eigenem Ballbesitz schieben die beiden Halbfeldspieler einiger Meter nach vorne - je nach Spielsituation auf eine Höhe mit dem eigenen zentralen, offensiven Mittelfeldspieler. Von der defensiven Dreierkette ist dann nichts mehr zu sehen. Stattdessen entsteht im italienischen Mittelfeld eine Raute, bei längeren Ballbesitzzeiten sogar eine offensive Dreierreihe hinter den beiden Spitzen.
Was auffällt: Die Übergänge zwischen den vermeintlichen Systemen im italienischen Spiel sind extrem fließend. Setzen die beiden Spieler in den Halbpositionen ihre Vorgaben gut um, kann sich das Mittelfeld innerhalb weniger Momente (und abhängig vom Spielgeschehen) von einer defensiven Dreierreihe mit einem Zehner davor in eine Raute bis hin zu einer offensiven Dreierreihe mit einem Sechser dahinter verwandeln.
Der Fixpunkt
Er war der Spiritus rector der Weltmeister-Mannschaft von 2006 und womöglich sogar der beste Spieler der WM in Deutschland. Nach dem Champions-League-Sieg 2007 mit Milan wurde es allerdings etwas ruhiger um Andrea Pirlo.
Auch er vermochte Italiens schlechtes Abschneiden 2008 und 2010 nicht zu verhindern. Immer wieder plagten ihn Verletzungen. In der vergangenen Saison kam er in Mailand deshalb nur auf 17 Einsätze. Spötter schimpften, der bald 33-Jährige sei inzwischen in die Jahre gekommen. Auch beim AC Milan traute man Pirlo offenbar keine Großtaten mehr zu und ließ ihn deshalb zu Konkurrent Juventus Turin gehen.
Bei der Alten Dame blühte Pirlo allerdings wieder auf. 36 von 38 Partien bestritt er für die Bianconeri und führte das Team von Trainer Antonio Conte zur ersten Meisterschaft seit dem Manipulationsskandal 2006.
Bei Juve entwickelte sich Pirlo wieder zum Strategen vergangener Tage. Und der ist er nun auch wieder im Nationalteam. Der Platz zentral vor der Abwehr ist an ihn vergeben. Er bestimmt den Rhythmus der Squadra Azzurra wie kein anderer. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen.
Das Erstaunliche: Obwohl er nominell der defensivste Mittelfeldspieler in der Mannschaft ist, ist er für die Offensive der entscheidende Mann. In direkte Defensivzweikämpfe hingegen ist Pirlo nur äußerst selten unmittelbar verwickelt. Im Spiel nach vorne gibt es dagegen kaum einen Angriff, an dem er nicht beteiligt ist.
In der Regel lässt er sich schon im Spielaufbau tief in die eigene Hälfte zurückfallen und bekommt den Ball von einem Innenverteidiger in den Fuß gepasst. Mit dem Ball ist Pirlo dann allerdings unberechenbar, ein wiederkehrendes Muster ist nicht erkennbar.
Mal verteilt er den Ball in die Breite, mal kurz und flach ins offensive Mittelfeld, mal spielt er schier ansatzlos den weiten Ball in die Spitze. Fast immer allerdings beschleunigt Pirlo das italienische Spiel mit seinem ersten Pass.
Und: Selbst schaltet sich Pirlo nur selten in einen Angriff mit ein. In Abschlussposition kommt er gelegentlich mal aus der zweiten Reihe. Viel häufiger verfolgt er das offensive Geschehen allerdings von seiner zentralen Position und bietet sich nach hinten immer wieder als Anspielstation an. Heißt: Selbst wenn Italien den Ball nach vorne passt, bewegt sich Pirlo regelmäßig erstmal nach hinten, um sich im Rücken des Gegners und entgegensetzt zur Spiel- und Laufrichtung Raum zu verschaffen.
Durch die Pirlo-Fokussierung im italienischen Spiel ist der nominelle Zehner im System der Squadra Azzurra weitaus weniger spielbestimmend. Italiens offensiver Mittelfeldspieler (meist Riccardo Montolivo) ist nur selten derjenige, der strategisch in Erscheinung tritt und den finalen Pass spielt. Vielmehr soll er sich ins Mittelfeldsystem einfügen, als Passempfänger im offensiven Mittelfeld zur Verfügung stehen und bisweilen auch in die Tiefe gehen.
Die Offensivabläufe
Durch den Verzicht auf offensive Außenspieler scheint das italienische System auf den ersten Blick flügellahm. Das Gegenteil ist allerdings der Fall. Die Squadra Azzurra sucht regelmäßig den Weg über die Außenbahnen. Die Voraussetzung dafür sind auf beiden Seiten Außenverteidiger, die unaufhörlich die Linie entlang marschieren.
An der Spieleröffnung aus der Abwehr heraus sind Rechts- und Linksverteidiger deshalb nur äußerst selten direkt beteiligt. Stattdessen kommt der erste Ball aus der Viererkette meist von einem der beiden Innenverteidiger. Bevorzugt wandert dieser erste Pass zu Pirlo, gelegentlich greift man allerdings auch auf einen langen Ball nach außen oder in die Spitze zurück.
Sobald ein Innenverteidiger den Ball im kontrollierten Spielaufbau erhält, greifen verschiedene Automatismen: Die beiden Außenverteidiger schieben sofort zehn bis 15 Meter nach vorne und werden quasi zum Mittelfeldspieler.
Pirlo bietet sich im Zentrum für den kurzen Ball in den Fuß an, seine beiden Nebenleute rücken im linken und rechten Halbfeld einige Meter nach vorne, achten allerdings darauf, nicht zu weit nach außen zu schieben. Denn: Die Außenbahn soll für den jeweiligen Außenverteidiger offen bleiben.
Durch diese Rochaden bieten sich den italienischen Innenverteidigern und Spielmacher Pirlo zahlreiche Passmöglichkeiten - vor allem im Zentrum. Für den Gegner wird es so besonders schwierig, die Mitte und damit den kürzesten Weg zum Tor zu verteidigen.
Der Grund: Mannschaften mit einer Doppelsechs vor der Abwehr bekommen es zentral vor dem eigenen Tor gleich mit drei italienischen Mittelfeldspielern (Zehner und zwei Halbfeldspieler) zu tun.
Die Crux für den Gegner: Weil Italien mit zwei Stürmern spielt, kann im Normalfall auch kein Innenverteidiger des Gegners aus der Abwehr rücken, um gegen die Unterzahl im Mittelfeld auszuhelfen. So muss meist ein Flügelspieler oder der jeweilige Außenverteidiger weiter als gewöhnlich einrücken und ist damit veranlasst, weiter als üblich von seiner Position abzurücken. Durch das ballseitige Verschieben ergeben sich für den ballfernen italienischen Außenverteidiger bei schnellen Seitenwechseln zudem immer wieder Freiräume.
In der Spieleröffnung hat Italien nun verschiedene Optionen zur Verfügung: Den Weg über die Flügel, wo die beiden Außenverteidiger postiert sind. Den Weg durchs Zentrum über flache, kurze Pässe auf die Halbfeldspieler oder den Zehner. Oder den Weg direkt Richtung Tor über den langen Ball über die gegnerische Abwehr auf einen der beiden Angreifer.
In der Regel kombiniert die Prandelli-Elf diese Optionen. Heißt: Zunächst wird über zwei, drei Stationen im Zentrum gepasst, wobei die Halbfeldspieler wie auch der Zehner den Ball meist nur prallen lassen und sich nur selten aufdrehen. Dann folgt der weite Ball vertikal in die Spitze oder diagonal auf die Außenbahn.
Bisweilen rochieren ein Stürmer und der offensive Mittelfeldspieler auch, indem der Angreifer sich als Anspielstation ins Mittelfeld fallen lässt und der Zehner mit Tempo in den geöffneten Raum geht und das schnelle Anspiel in die Spitze fordert.
Die Gefahren
Prandelli hat es nach seiner Amtsübernahme relativ schnell geschafft, die Squadra Azzurra nach seinen Vorstellungen umzubauen. Die Qualifikation zur EM meisterte Italien deshalb mehr oder weniger mühelos. In zehn Spielen gelangen acht Siege und zwei Unentschieden bei einem Torverhältnis von 20:2.
Noch allerdings scheint Italien nicht so gefestigt und konstant wie in vergangenen Jahren. Zum Beleg: Zuletzt gab es vor heimischem Publikum zwei 0:1-Niederlagen gegen Uruguay und die USA.
Was dabei auffiel: In beiden Partien bestimmte die Prandelli-Elf das Spiel, hatte deutlich mehr Spielanteile und einige gute Torchancen. Das Problem: Macht Italien vorne keinen Treffer, wird's gefährlich. Denn in der Defensive ist man längst nicht mehr so sattelfest, wie erfolgreiche italienische Mannschaften vergangener Tage. Mit ihrer Spielweise geht die Squadra Azzurra für eine italienische Mannschaft ungewöhnlich hohes Risiko.
Dadurch dass die beiden Außenverteidiger im Spielaufbau sofort mit nach vorne rücken und mindestens einer die Angriffe im Normalfall mit zu Ende spielt, entstehen in der Hintermannschaft Lücken.
Bei Ballverlust muss deshalb ein Innenverteidiger häufig seinen Platz im Zentrum aufgeben, um andernorts Löcher zu stopfen, Bälle auf außen abzulaufen oder ins Tackling zu gehen. Die gegenseitige Absicherung ist dadurch nicht immer gewährleistet, Balance und Ordnung innerhalb der Viererkette gehen bisweilen verloren.
Und: So gut es Italiens Mittelfeld gelingt, zwischen verschiedenen Systemen zu variieren und dadurch schwer ausrechenbar zu sein, so schwer tut man sich, nach Ballverlust schnell umzuschalten. Immer wieder brauchen die Spieler im Halbfeld relativ lange, die Positionen zu besetzen, Räume zu schließen und das eigene Tor somit ausreichend zu schützen.
Die Folge: Ab und an sind die beiden Innenverteidiger für einen Moment sogar in Unterzahl und müssen hohes Risiko gehen, um das eigene Tor zu verteidigen. Die Zeiten, in denen die Sicherung des eigenen Tores im italienischen Nationalteam an oberster Stelle steht, sind unter Prandelli also scheinbar vorbei.