Von der Grundordnung bis zu kleinen Details: Deutschland geht mit einigen Problemen ins EM-Achtelfinale gegen England (18 Uhr im LIVETICKER). Es gibt aber auch entsprechende Lösungsmöglichkeiten. Die Taktikanalyse.
Darum müsste Löw im 4-3-3 spielen lassen
Wie viel eine - im besten Wortsinn - blendende Gruppenphase mit Beginn der K.o.-Runden noch wert ist, haben am Sonntagabend die Niederländer erfahren. Nämlich gar nichts. Beim 0:2 gegen den krassen Außenseiter Tschechien wurde der vermeintliche Favorit kalt erwischt. Über die Elftal und ihre Leistungsfähigkeit war im eigenen Land trefflich spekuliert worden und am Ende dürfen sich die Skeptiker bestätigt fühlen, die der Mannschaft kaum Widerstands- und Leidensfähigkeit attestiert hatten.
So ähnlich erscheint die Lage auch bei der deutschen Nationalmannschaft und es stehen Fragen im Raum: War das nun eine gute oder eine mühsame Vorrunde? Ist eine Leistung wie gegen Portugal der Maßstab oder jene gegen die Ungarn? Wann bekommt die Mannschaft endlich ihre Probleme in den Griff - und wie ist das alles auf den kommenden Gegner England (18 Uhr im LIVETICKER) anzupassen?
In die Partie gehen die beiden Erzrivalen mit recht unterschiedlichen Vorzeichen: Während Deutschland mit teilweise krassen Ausschlägen in beide Richtungen für Aufsehen sorgte und kurz vor dem Aus stand, marschierten die Three Lions fast schon stoisch und unspektakulär durch die Gruppenphase. Die Rollen haben sich also ein wenig verschoben, die Engländer präsentieren sich bisher als pragmatische Turniermannschaft, während Deutschland zwischen Highlights und Rückschlägen oszilliert.
Das dürfte auch die Vorbereitung der deutschen Mannschaft auf die Partie in Wembley beeinflussen. Jedenfalls sind die deutschen Hoffnungen groß, anders als in großen Teilen gegen Frankreich oder die Ungarn auf einen Gegner zu treffen, der sich nicht mit einer Fünfer- und einer Viererkette um den eigenen Strafraum verschanzt. Dafür sollte die deutsche Mannschaft aber ausnahmsweise mal nicht früh in Rückstand geraten.
Fehlende Abstimmung zieht sich wie ein roter Faden durch die Spiele
Es waren im Grunde recht simple Abstimmungs- und Konzentrationsprobleme, die bisher zu den Gegentoren führten. Wobei sich die fehlende Abstimmung im zentralen Mittelfeld unter den Spielern wie ein roter Faden durch die Spiele zieht. Sobald der zentrale der drei Angreifer defensiv mal nicht aufmerksam genug mit nach hinten arbeitet, sind die beiden Sechser im 5-2-3 gegen den Ball gefragt, sich sauber aufzuteilen. Das funktionierte aber oft genug zwischen Toni Kroos und Ilkay Gündogan nicht. Das wirkt im defensiven Umschalten immer mal wieder nicht abgestimmt, sondern eher improvisiert.
Deutschland hat in der Formation mit "nur" zwei zentralen Mittelfeldspielern keinen richtig absichernden Spieler auf dem Platz, der im Nachrücken und Zuordnen absolut verlässlich ist und auch das Gespür für das richtige Timing hat. Einen wie Joshua Kimmich. Will Löw das Beste aus seinem gewiss großen Potenzial im Mittelfeld herausholen, müsste er die Grundordnung verändern und im 4-3-3 spielen lassen.
Denn die Probleme sind nicht nur in der defensiven Absicherung erkennbar, sondern auch im Spiel mit dem Ball. Da hielten sich Kroos und Gündogan zu oft auf einer horizontalen Linie im Aufbau auf, verschenkten so quasi eine zusätzliche Aufbaulinie weiter vorne und am Ende war es in jeder Partie so, dass Gündogan im Schnitt zu tief positioniert war und damit zu weit weg vom gegnerischen Tor, als dass er seine im Klub gezeigten Fähigkeiten hätte einbringen können.
gettygettyDFB-Team: Die gefährliche Zone war bisher Sperrgebiet
Was wiederum dazu führt, dass die deutsche Mannschaft bisher mit Angriffen durch das Zentrum oder zumindest die Halbspuren wenig bis gar keine Torgefahr entwickeln konnte. Nur rund 27 Prozent aller deutschen Angriffe gingen bisher durch die Mitte, die gefährliche Zone zentral vor dem gegnerischen Strafraum ist quasi Sperrgebiet.
Das lag natürlich auch an der Spielweise der zum Teil sehr destruktiven Gegner, muss aber gerade gegen die Engländer, die mehr Platz für kleinteilige Kombinationen bieten dürften, deutlich besser werden. Das deutsche Spiel wir dann je näher am gegnerischen Tor und je mehr auf die Spielmitte konzentriert immer bewegungsloser. Sobald der Gegner das Spielfeld also auf ein kleines Format zusammenschrumpft, findet Deutschland keine Lösungen mehr. Dabei war das im Ballbesitz- und Positionsspiel mal eine deutsche Spezialdisziplin.
gettyDFB-Team: Nutzlose Flanken, tote Bälle und die Torhüter
Die Folge ist eine Flut an Flanken, bisher waren es schon 67 in drei Spielen. Das ist sehr untypisch und ohne einen echten Zielspieler, sprich: einen Mittelstürmer, im Zentrum auch immer nur die B-Lösung. Was im Übrigen auch bei den Offensiv-Standards bisher nur leidlich funktioniert. Ein Tor nach einem Freistoß steht zu Buche, auf Einladung von Ungarns Keeper Peter Gulasci.
Nach Eckbällen gab es einen Lattenreffer von Mats Hummels - das war's. Die groß angekündigten Varianten bei eigenen Standards greifen noch nicht, stattdessen brennt es vor dem eigenen Tor nach ruhenden Bällen immer gleich lichterloh. Gegen die Engländer mit ihren vielen Standard-Ideen und den wuchtigen Kopfballspielern kann das tödlich sein.
In den letzten Tagen war viel die Rede davon, dass die Engländer vor rund 40.000 Fans und im eigenen Wohnzimmer kaum so destruktiv agieren könnten wie etwa die Ungarn mit ihrem Außenseiter-Fußball. Und wahrscheinlich ist auch tatsächlich davon auszugehen, dass die Gastgeber am Dienstag selbst initiativ werden wollen. Das Spiel gegen Portugal soll der deutschen Mannschaft demnach als Blaupause dienen, als man gegen die Viererkette des Gegners mit seinen hoch postierten Flügelspielern deren Außenverteidiger förmlich festpinnen konnte und so mehr Raum vor der gegnerischen Abwehrkette vorfand - beziehungsweise über schnelle Verlagerungen den ballfernen Flügelspieler hinter den Außenverteidiger schicken konnte.
Das soll nun auch gegen die Engländer ein Rezept sein und das kann es auch. Allerdings halt nur dann, wenn Gareth Southgate nicht ein gar nicht so altes anderes Rezept wieder entdeckt: Denn mit der Viererkette spielt England erst wieder seit diesem Jahr. Die Qualifikationsrunde absolvierte die Mannschaft mit der Dreier- beziehungsweise Fünferkette in der letzten Linie. Und nimmt man Southgates bisherigen Pragmatismus als Grundlage, ist nicht ganz auszuschließen, dass der Coach gegen Deutschland mit der Rückkehr zu dieser Variante überrascht - je nachdem, was sich Joachim Löw überlegt.
Unabhängig von der Grundordnung und Spielausrichtung geht es um auf den ersten Blick kleine, aber doch sehr wichtige Details. Zum Beispiel den ersten Kontakt und damit die unmittelbare Spielfortsetzung. Die deutschen Gegner konzentrierten sich im Anlaufen bisher auf den zentralen Innenverteidiger Mats Hummels und wollten den beim ersten Pass blockieren. Besonders Antonio Rüdiger, dessen Einsatz gegen England trotz eines Infekts nun doch wahrscheinlich ist, bekam deshalb mehr Freiheiten, weiß die aber nicht zu nutzen.
DFB-Team: Zu viele "tote Bälle"
Rüdiger als erster Spielmacher ist ein Problem für die deutsche Mannschaft, weil der Bälle mit dem ersten Kontakt nicht mutig nach vorne und vielleicht gleich am ersten Gegenspieler vorbei mitnimmt, sondern den Ball querlegt und dann einen zweiten, dritten oder vierten Kontakt benötigt - ohne damit aber Raumgewinn zu erzielen. Stattdessen sind in jedem deutschen Spiel bisher so genannte "tote Bälle" zu sehen, also Sequenzen, in denen der Ball regungslos vor dem Ballbesitzenden liegt und der eine Anspielstation sucht. Das raubt jegliches Tempo und Dynamik und gibt dem Gegner selbst in unorganisierten Momenten wieder die nötige Zeit, sich zu positionieren.
Vermutlich werden sich auch die Engländer Rüdiger als Pressingopfer aussuchen, also muss die Unterstützung der Mittelfeldspieler schneller erfolgen oder mit Freiziehbewegungen der Mittelfeldspieler Räume geschaffen werden, um auch mal direkt auf einen Angreifer durchzuspielen.
Und dann sind da ja noch die Torhüter - eine große Hoffnung aus deutscher Sicht. Manuel Neuer ist im Vergleich zu Jordan Pickford der deutlich bessere Keeper und der einzige im deutschen Team, der auf seiner Position sein englisches Gegenüber überragt. Aber: Neuer muss diese Diskrepanz nun auch mal zeigen. Fünf der acht Schüsse auf das deutsche Tor waren bisher auch drin, Neuer hat noch keine wirklich starke Parade gezeigt oder seiner Mannschaft ein Spiel gewonnen. Im Gegenteil: Bei beiden Gegentoren im Ungarn-Spiel war der Kapitän maßgeblich beteiligt. Ohne einen Neuer in Topform dürfte es aber schwer werden gegen England.