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EM-Erlebnisse - Vor Ort in St. Petersburg: Der beglückende Hradecky und eine Nacht-und-Nebel-Aktion

Von Stanislav Schupp
Lukas Hradecky sorgte für gute Stimmung.
© getty

EM-Stimmung in St. Petersburg? Fehlanzeige! Wobei, eine Nation sorgte dann doch für etwas Atmosphäre. Stanislav Schupp hat für SPOX und Goal von der Europameisterschaft berichtet. Erlebnisse von vor Ort.

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Auf meiner Reise als EM-Reporter für SPOX und Goal war ich im russischen St. Petersburg vor Ort. Von einem übersehenen Großevent in einer Millionenstadt, finnischer Vorherrschaft und einer chaotischen Nacht-und-Nebel-Aktion.

St. Petersburg als EM-Hochburg - und keiner weiß Bescheid

Die Fußgängerzone des Newski-Prospekts ist überfüllt, auf der Fahrbahn herrscht absolutes Chaos. Die Autos machen selbst vor grünen Fußgängerampeln nicht Halt. Die Fortbewegung auf der 4,5 Kilometer langen Straße im historischen Herzen St. Petersburgs gleicht einem Slalomlauf.

Die Cafes und Restaurants an den Straßenrändern sind restlos besetzt. Links und rechts übertönen sich mehrere Frauen und Männer über ein kleines Megafon mit Bootstour-Angeboten auf dem Fluss Newa. Untermalt wird der Menschentrubel durch ein Zusammenspiel aus Straßenmusikern, Sirenen und einem lautstarken Hupkonzert.

Dass das Leben in der russischen Metropole trotz rasant steigender Corona-Zahlen in vollem Gange war, wirkte von Anfang an paradox. Dass hier gleichzeitig im Rahmen einer paneuropäischen Europameisterschaft sieben Spiele (nur im Wembley wurde mit acht Partien häufiger gespielt) mit Fans aus insgesamt sechs Ländern stattfinden sollten, auch.

Noch paradoxer wurde es, als ich feststellte, dass die Menschen zum Teil gar nichts davon wussten. Nahezu stets überlaufene Straßen, doch kaum einheimischer Anhang in erkennbarer Fanmontur, keine Jubeltrauben oder Feierlichkeiten nach dem Sieg am zweiten Gruppenspieltag und dem (seinerzeit) noch realistischen Weiterkommen.

"Viele haben nicht mitbekommen, dass die EM hier stattfindet", erzählte mir ein junger Mann, der mir eines Abends beim Essen gegenübersaß. Die großen Menschenmassen seien vielmehr auf Inlandsreisende zurückzuführen, die in der Zarenstadt ihren Jahresurlaub verbrachten.

Ob das fehlende Wissen und Interesse mit der coronabedingten Verschiebung zusammenhing, konnte er mir nicht beantworten. "Man kann hier gut feiern, deswegen kommen die Menschen hierher", fügte er an.

Viel Liebe von Hradecky: Finnische Vorherrschaft in Russland

Eine Gastnation hatte St. Petersburg dennoch für sich entdeckt und war besonders präsent: Finnland.

Egal, zu welcher Tages- und (durch die weißen Nächte sehr hellen) Nachtzeit man sich auf die Straßen begab, finnische Fans waren fast immer zu sehen. Mal lagen sie sich mit wildfremden Personen - und dem ein oder andere Kaltgetränk zu viel - in den Armen und schwärmten von der sensationellen EM-Teilnahme ihrer Jungs, mal erklärten sie Nicht-Finnen die Vorzüge finnischer Frauen.

Mal sangen sie ein eigens komponiertes Liebeslied über Nationalkeeper Lukas Hradecky, in dem er St. Petersburg auf, nun ja, ganz besondere Art und Weise beglückte. Die wortgetreue Übersetzung lieferten mir die finnischen Anhänger auf Nachfrage dankenswerterweise gleich mit.

Die Finnen zogen auch die nicht-fußballinteressierten St. Petersburger in ihren Bann. Und alle zückten sie ihre Handys und gesellten sie sich zur weiß-blauen Feier dazu - sie wussten ja schließlich nicht, worum es ging.

Sie waren omnipräsent. Egal, ob die Haare im Stile des blauen skandinavischen Kreuzes der Flagge gefärbt oder im Wikinger-Outfit. Unweit des Stadions hatten die Finnen einen mit "Oktoberfest" beschrifteten Biergarten erobert und kurzerhand zu einem inoffiziellen Fantreff umfunktioniert, auf dem sie Schals und weitere Utensilien verkauften.

Was sie sich denn vom Turnier erhofften, fragte ich eine Fangruppe. "Wembley", sagte einer selbstbewusst mit Blick auf das Endspiel in London. Dort sollte es am besten gegen Portugal gehen, "denn ich will Cristiano Ronaldo weinen sehen".

Ronaldo vergoss seine Tränen vermutlich nach dem Achtelfinal-Aus gegen Belgien, während die Skandinavier bereits in der Gruppenphase ausschieden - doch die gute Laune der Finnen wirkte ansteckend.

"Habt Ihr schon gehört?": Aus dem Boot in den Flieger

So euphorisch und mitreißend die Zeit mit den finnischen Anhängern war, so chaotisch und abrupt war das Ende meiner Reise.

Nachdem ich eines Freitags nichtsahnend mit einem Kollegen eines der zahlreichen Bootstour-Angebote in Anspruch genommen und mich auf eine entspannte Nacht gefreut hatte, erreichte mich plötzlich ein Anruf meiner Mutter.

"Habt Ihr schon gehört? Deutschland hat Russland zum Virusvariantengebiet ernannt", sagte sie am anderen Ende der Leitung. Stichtag: Dienstag. Die Folge: 14 Tage Quarantäne.

Um dieser zu entgehen, sah ich nur einen Ausweg: Heimflug. Also buchte ich um 1 Uhr nachts einen Flug für 9 Uhr morgens, packte meine Sachen, ließ die Dame an der Rezeption wissen, dass ich das Hotel in wenigen Stunden leider verlassen müsse und erntete daraufhin nur einen verdutzten Blick.

Das war's also gewesen mit meinem Russland-Aufenthalt. Einfach so. Über Nacht. Dabei stand noch das Viertelfinale in der Folgewoche auf dem Programm, doch Corona machte mir - wenn auch mit Blick auf die steigenden Infektionszahlen nicht sonderlich überraschend - einen Strich durch die Rechnung.

Eigentlich paradox, denn der Trubel auf den Straßen wurde nicht einmal ansatzweise weniger.

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