Ganz ohne Drama geht es nicht. Vor dem emotionalen Showdown im EM-Halbfinale gegen Spanien mutierte Italiens Nationaltrainer Roberto Mancini ungewollt zum "Torero". "Mancini rüstet die Azzurri für den Euro-Stierkampf", schrieb der Corriere dello Sport und färbte das Sakko, das Mancini wie die berühmten Matadoren in Händen hielt, in leuchtendes Rot. Der Pathos ist begründet, schließlich haben Europas wiedererstarkte Fußball-Großmächte einige Rechnungen miteinander offen.
Im Vorfeld des Krachers in der "Stierkampf-Arena" von Wembley am Dienstag (21.00 Uhr/ARD und MagentaTV) wurde viel über die lange Rivalität beider Nationen gesprochen. Natürlich kam Italiens schmerzhafte 0:4-Pleite im EM-Finale 2012 wieder auf den Tisch, aber vor allem erinnerten sich die Spanier an den 9. Juli 1994. An den Tag, als Luis Enriques Nase und Spaniens Hoffnungen auf den WM-Titel zersplitterten.
Damals bekam Spaniens heutiger Coach im Viertelfinale von Mauro Tassotti im Luftzweikampf den Ellenbogen ins Gesicht gerammt, doch einen Elfmeter gab es nicht und die Italiener siegten 2:1. Spanische Medien schrieben daher von der persönlichen "Vendetta" des heutigen Nationaltrainers, nach der er in London trachte. Die Italiener sahen es anders. Laut Gazetta dello Sport hat Enrique den Vorfall "bestimmt nicht vergessen, doch er hat verziehen".
Tatsächlich hat Enrique mit der sportlichen Vorbereitung genug zu tun. Ihm wird aufgefallen sein, dass sich Italien und Spanien in ihrer Spielweise keinesfalls unähnlich sind. Beide pflügen ohne echten Superstar geschlossen durch das EM-Turnier. "Viele Aspekte verbinden die beiden Nationalmannschaften: Sowohl Mancini als auch Enrique haben die Mannschaften in die Hand genommen und sie neu gegründet", befand der Corriere.
Seit Mai 2018, als Italien schon die WM in Russland verpasst hatte und die Fußball-Nation Trauer trug, betrieb Mancini den Wiederaufbau. Nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland wurden die Tifosi zu oft bitter enttäuscht, der einzige Europameistertitel rührt aus dem Jahr 1968. Doch diesmal könnte es klappen, seit 32 Spielen ist die Squadra Azzurra ungeschlagen. Die große Qualität der Italiener ist dabei das Kollektiv.
gettyItalien: Roberto Mancinis Plan geht voll auf
Szenen wie die spektakuläre Rettungstat des überragenden Leonardo Spinazzola, der im Viertelfinale gegen Belgien (2:1) erst auf der Linie geklärt und sich später tragisch die Achillessehne gerissen hatte, sind der offensichtliche Beweis dafür. Mancinis Spieler feiern gelungene Abwehraktionen wie Traumtore, was bedeutet, dass der Plan des Trainers aufgeht.
"Der Coach hat uns eine Siegermentalität eingeflößt und wir wollen den Ball die ganze Zeit über kontrollieren", berichtete Mittelfeldspieler Nicolo Barella. Damit erinnert Mancinis Ansatz an die Spielweise der Spanier unter Enrique, unter dessen Ägide jedoch nicht immer alles glatt ging. In der Vorrunde wollte der Ball lange einfach nicht ins Tor, zudem litt die Mannschaft unter der Corona-Infektion von Kapitän Sergio Busquets.
Doch gemeinsam überwand die Seleccion bislang sämtliche Widerstände, als Einheit stieß sie endlich wieder unter die besten Vier in einem großen Turnier vor - die dunklen Jahre scheinen auch für die Spanier vorbei. Bei der EM 2016 und WM 2018 waren sie jeweils im Achtelfinale ausgeschieden, nachdem Spanien mit den EM-Titeln 2008 und 2012 sowie der WM 2010 lange den Weltfußball dominiert hatte.
"Die Leute dürfen sagen, was sie wollen, das ist Teil des Fußballs", sagte Stürmer Mikel Oyarzabal in Richtung der Kritiker: "Aber wir hatten nie irgendwelche Zweifel, wir haben immer an uns geglaubt." Auch RB Leipzigs Dani Olmo lobte im Interview mit der Marca: "Dass die Mannschaft so vereint ist und alle in dieselbe Richtung gehen, hat uns sehr geholfen." Darauf werden sie auch am Dienstag in Wembley hoffen.
Italien - Spanien: Die voraussichtlichen Aufstellungen
- Italien: Donnarumma - Di Lorenzo, Bonucci, Chiellini, Emerson - Barella, Jorginho, Verratti - Chiesa, Immobile, Insigne. - Trainer: Mancini
- Spanien: Simon - Azpilicueta, Garcia, Laporte, Alba - Koke, Busquets, Pedri - Moreno, Morata, Olmo. - Trainer: Enrique
- Schiedsrichter: Felix Brych (München)