Die Niederlande starteten mit einer überzeugenden Leistung und einem knappen Sieg gegen die Ukraine in die Europameisterschaft. Mit dabei: euphorische Fans, überraschende Startelf-Gäste, ein stürmender Verteidiger und ein verteidigender Stürmer.
Als in der 85. Minute Bierbecher samt Inhalt über die Tribünen der Amsterdamer Johan Cruyff Arena flogen, da wusste man es schließlich ganz sicher: Ja, die Niederlande sind nach sieben Jahren Turnier-Abstinenz zurück im großen Fußball. Und: Ja, der Fußball ganz generell ist auch zurück. Der echte Fußball, der Fußball vor Fans und deren Emotionen.
Denzel Dumfries hatte gerade eben das siegbringende 3:2 gegen die Ukraine geschossen und einem begeisternden Spiel mit zwischenzeitlicher 2:0-Führung und Doppelschlag-Ausgleich eine letzte Wendung gegeben. "Es war ein großartiger Moment, eine große Erleichterung", sagte der 25-jährige rechte Außenbahnspieler der PSV Eindhoven nach dem Spiel. Mit seinem Tor krönte Dumfries den Gala-Auftritt der niederländischen Nationalmannschaft vor 16.000 Fans und einen perfekten Fußballtag für seine Nation.
Niederlande: Zunächst feierten sich die Fans selbst
Bei sommerlichen Temperaturen schien die Sonne über Amsterdam und je länger der Tag dauerte, desto orangener wurden die Straßen und Kanäle. Am Leidseplein, am Rembrandtplein und all den anderen großen Plätzen der Stadt wurde getrunken und gesungen. Zu diesem Zeitpunkt feierten die niederländischen Fans aber noch vor allem sich selbst und die Rückkehr von einem Hauch an Normalität nach langen Monaten geprägt von der finsteren Corona-Pandemie. Große Hoffnungen in die eigene Nationalmannschaft hatten unterdessen die wenigsten. In einer Umfrage der Tageszeitung AD vor Turnierstart gaben 68 Prozent an, dass sie mit einem Aus spätestens im Achtelfinale rechnen.
2019 standen die Niederlande noch im Nations-League-Finale (0:1 gegen Portugal) und galten als Mitfavorit auf den EM-Titel, dann häuften sich aber die Probleme. Erfolgstrainer Ronald Koeman wechselte vergangenen Sommer zum FC Barcelona. Sein Nachfolger Frank de Boer geriet bei Fans und Experten schnell in die Kritik. Von den elf Länderspielen unter seiner Aufsicht gewannen die Niederlande bis zum Turnierstart nicht einmal die Hälfte.
Erschwerend hinzu kamen zahlreiche Verletzungsprobleme. Europas Fußballer des Jahres von 2019 Virgil van Dijk fehlt seit Monaten wegen eines Kreuzbandrisses, kurz vor dem EM-Start erwischte es Donny van de Beek (Leiste) und Stammkeeper Jasper Cillessen (Corona). Gegen die Ukraine musste dann auch noch Abwehrchef Matthijs de Ligt (Leiste) passen. Und so stellte sich de Boer eine durchaus überraschende Gästeliste mit reanimierten Veteranen und jungen Talenten für seine Startelf gegen die Ukraine zusammen.
gettyFrank de Boer und die überraschende Startelf-Gästeliste
Der vielleicht schönste Kontrast: Im Tor der 38-jährige Ajax-Keeper Maarten Stekelenburg, in der Innenverteidigung davor sein exakt halb so alter Klub-Kollege Jurrien Timber. Der eine vor 17 Jahren erstmals Teil der Nationalmannschaft und zwischendurch jahrelang nicht, der andere mit seinem dritten Länderspieleinsatz.
Und es gab noch weitere Startelf-Spieler, mit denen bis vor wenigen Wochen nicht zu rechnen war. Auf der linken Außenbahn im 3-5-2-System begann Patrick van Aanholt (30) von Crystal Palace, der zwar bereits 2013 für die Nationalmannschaft debütierte, sich aber nie durchsetzte, und im Sturm neben Memphis Depay: Wout Weghorst (28).
Nach eineinhalb Jahren Abstinenz hatte de Boer den 20-Tore-Stürmer vom VfL Wolfsburg kurz vor der EM in den Kreis der Nationalmannschaft zurückgeholt und ihm trotz vehementer Kritik von allen Seiten sofort das Vertrauen geschenkt. Gegen die äußerst engagiert auftretende Ukraine zahlte Weghorst zurück und krönte seine Leistung mit dem zwischenzeitlichen 2:0 (58.).
Stürmender Verteidiger, verteidigender Stürmer
Die Niederlande begannen druckvoll und spielten sich in der ersten Halbzeit etliche gute Möglichkeiten heraus, scheiterten aber wieder und wieder an Keeper Georgi Bushchan. Auf den Rängen sorgten die niederländischen Fans unterdessen wie zuvor in der Stadt für gute Stimmung. "Ich habe viel orange gesehen", sagte Weghorst nach dem Spiel und lächelte. Trotz des Chancenwuchers verabschiedeten die Fans ihre Mannschaft mit Applaus in die Kabine.
Als Dank gab es nach der Pause zwei schnelle Tore durch Kapitän Georginio Wijnaldum (52.) und Weghorst. Eingeleitet wurden beide Treffer vom späteren Siegtorschützen Dumfries, der einen extrem angriffslustigen rechten Außenbahnspieler gab. In der realtaktischen Aufstellung war Dumfries sogar der am offensivsten positionierte Spieler seiner Mannschaft, was ihm durchaus zusagte: "Das ist der Stil, den ich mag."
Während sich der eigentliche Verteidiger Dumfries also vor allem mit seinem Angriffsspiel auszeichnete, war es beim eigentlichen Stürmer Weghorst umgekehrt. Auf dessen Leistung angesprochen, erwähnte Innenverteidiger Stefan de Vrij nicht das Tor, sondern sagte: "Er hat sehr hart für das Team gearbeitet, unter Druck Bälle gehalten und sehr gut verteidigt." Mit seiner Physis und seinem Kampfgeist gibt Weghorst dem Spiel seiner Mannschaft neben dem flinken Memphis Depay eine weitere Dimension.
EM 2021: Niederlande gegen Österreich am Donnerstag
Beinahe wäre Weghorst aber noch zum tragischen Helden geworden. Nach Andriy Yarmolenkos traumhaftem Schlenzer zum 1:2 (75.) köpfelte Weghorsts Gegenspieler Roman Yaremchuk eine Freistoßflanke zum 2:2 ins Tor (79.). Doch dann kam Dumfries, dann kam das 3:2 und mit ihm kamen die fliegenden Bierbecher. Der Sieg, vor allem aber die beeindruckende Leistung hoben die Niederlande in den Kreis der EM-Mitfavoriten.
"Ich habe ein Team gesehen, das sehr ausbalanciert und dominant gespielt hat", lobte de Boer bei der anschließenden Pressekonferenz. Seine Mannschaft war da gerade von einer umjubelten Ehrenrunde zurückgekehrt, bei der sie von den positiv überraschten Fans lautstark gefeiert wurde. Fortsetzen könnte sich die orangene Party beim zweiten Gruppenspiel am Donnerstag (21 Uhr) gegen Österreich, das zum Auftakt mit 3:2 gegen Nordmazedonien gewonnen hat und die Gruppe C vor den Niederlanden anführt.