Außerdem: Joshua Kimmich spielte sich endgültig auf der rechten Seite fest und Kai Havertz zeigte, warum er auch im zweiten EM-Spiel zu Recht den Vorzug vor Leroy Sane erhielt. Drei Thesen zum 4:2.
1. Löw behält recht: Es liegt nicht am System
Die Dreierkette ist tot? Lang lebe die Dreierkette! Was gegen Frankreich überhaupt nicht funktionierte, funktionierte gegen Portugal mit demselben Personal und derselben Grundordnung, dem 3-4-3, umso besser.
"Das System an sich spielt keine Rolle", sagte Joachim Löw vor dem Spiel - und sollte recht behalten: Wichtiger als die Grundordnung sind das Besetzen der Räume, das Nachrücken, das Antizipieren von Spielsituationen, die Entscheidungsfindung im letzten Drittel und nicht zuletzt die Überzeugung der Mannschaft in ihre Fähigkeiten. Von angezogener Handbremse oder übermäßigem Respekt war gegen die Portugiesen nichts zu sehen, die Deutschen diktierten ihrem Gegner ihr Spiel auf und rissen das Publikum in München so von der ersten bis zur letzten Minute mit.
Der Schlüssel zum Erfolg aus taktischer Sicht: das Spiel über die Außen. Allein ein Blick auf die "Heatmaps" der Flügelspieler Robin Gosens und Joshua Kimmich verrät, wie sehr die Löw-Elf ihr Spiel im Gegensatz zum 0:1 gegen den Weltmeister nach vorne verlagerte und vor allem mit ihrem schnellen Nachsetzen nach Ballverlust die im Vorfeld als kombinationsstark ausgemachten, auf dem Platz aber schläfrig daherkommenden Portugiesen zu Ballverlusten zwang.
Zwar stimmte die deutsche Konterabsicherung beim Führungstreffer der Iberer durch Cristiano Ronaldo nicht, insgesamt ging der Matchplan, sehr hoch zu verteidigen und gerade den portugiesischen Außenverteidigern wenig Luft zum Atmen zu lassen, aber voll auf. Nelson Semedo (rechts) und Raphael Guerreiro (links) waren mit dem deutschen Angriffs- und Gegenpressing heillos überfordert und rückten bei Gegner-Ballbesitz im letzten Drittel sehr oft sehr weit ein, um das Zentrum abzusichern. Dadurch bot sich sowohl Gosens als auch Kimmich viel Platz zum Kombinieren und Flanken.
Unzureichende Flügelverteidigung: Portugals Trainer verzockt sich
"Wenn wir die Außenspieler wie Robin und mich ins Spiel bekommen, müssen die Laufwege abgestimmt und die Box richtig besetzt sein", sagte Kimmich vor dem Spiel. Dass das der Fall war, zeigten nicht nur die erzwungenen Eigentore durch Ruben Dias und Guerreiro vor der Pause, sondern auch der Abstauber von Kai Havertz in der 51. Minute zum 3:1 und Gosens' Kopfballtreffer neun Minuten später zum 4:1.
"Die Basis ist, dass wir mutig spielen", stellte Kimmich klar, "das hat dann auch nur bedingt mit dem System zu tun, sondern mit der Einstellung." Bei allem berechtigten Lob für den beeindruckenden Auftritt der DFB-Elf sei aber auch erwähnt, dass sich Portugals Coach Fernando Santos mit seiner Taktik verzockte und es seinen Außenverteidigern von Halbzeit zwei an sogar noch schwerer machte.
Anstatt der unzureichenden Flügelverteidigung entgegenzuwirken, brachte er zur Pause den eher im Halbraum agierenden Renato Sanches für Rechtsaußen Bernardo Silva. Seine Begründung: "Ich wollte mehr Muskeln im Zentrum." Damit erwies er vor allem Semedo einen Bärendienst. Der Rechtsverteidiger der Wolves erhielt zu wenig Unterstützung - und Matchwinner Gosens sagte "Obrigado".
2. Kimmich hat sich auf der rechten Seite festgespielt
"Löws Plan mit Kimmich ist nicht gescheitert", hielten wir nach dem 0:1 gegen Frankreich fest. Warum, das zeigte der Auftritt des Bayern-Spielers im zweiten Gruppenspiel. Kimmich wirkte vertrauter mit seiner Rolle, suchte oft das Eins-gegen-Eins und machte zudem viel häufiger als gegen die Franzosen - vor allem beim 2:1 - den Weg bis zur Grundlinie.
Das hing sicherlich auch damit zusammen, dass er sich diesmal keine frühe Gelb-Verwarnung abholte und keinen so unangenehmen Gegenspieler wie Lucas Hernandez hatte. Gleichwohl war Kimmichs Leistung eine beispielhafte für einen rechten offensiven Außenspieler im 3-4-3. Mit 60 Ballaktionen hatte er zudem nur neun weniger als der im Zentrum agierende Ilkay Gündogan (69) - die Behauptung einiger Experten, er nehme auf der rechten Seite zu wenig am Spiel teil, wurde am Samstagabend also ebenfalls widerlegt.
Dass Löw ihn im Laufe des Turniers noch einmal ins von ihm bevorzugte Zentrum zieht, ist nicht ausgeschlossen, aber spätestens nach dem Portugal-Spiel unwahrscheinlich. Zum einen macht Kimmich seine Sache auf der rechten Seite gut, zum anderen fällt die einzige echte Alternative - Lukas Klostermann - mit einem Muskelfaserriss aus. Darüber hinaus ist Leon Goretzka zurück - und dürfte sich nun vor allem mit Gündogan um einen Platz neben Toni Kroos streiten.
3. Havertz nutzt seine Chance - Sane bisher der große Verlierer
Anhand der Statistik von 18 Pässen bis zu seiner Auswechslung in der 73. Minute könnte man meinen, Havertz sei wie schon gegen Frankreich nicht ins deutsche Spiel eingebunden gewesen. Dem war aber nicht so. Wenn es im zweiten Gruppenspiel gefährlich wurde, dann mischte meist auch Chelseas Champions-League-Held mit.
Havertz gab mit vier Torschüssen die meisten aufseiten der DFB-Elf ab. Das erste Tor erzwang er, das dritte erzielte er selbst. Gerade seine Strafraumbesetzung war hervorragend. Löw durfte sich nach der Partie also bestätigt fühlen, dem 22-Jährigen im dritten Länderspiel in Folge den Vorzug vor Leroy Sane gegeben zu haben.
Sane kam übrigens erst in der 88. Minute zum Einsatz, nachdem er sich fast die gesamte zweite Halbzeit über aufgewärmt hatte. Für den Bayern-Star dürfte es jetzt umso schwieriger werden, noch einmal in die Startelf zu drängen. Seine Vereinskollegen Serge Gnabry und Thomas Müller sind ohnehin unter Löw gesetzt - und an dem System dürfte sich erst recht nach diesem Spiel vorerst auch nichts mehr ändern. Sane ist bis dato der große Verlierer des Turniers.
EM 2021: Tabelle der deutschen Gruppe F
Platz | Mannschaft | Sp. | S | U | N | Tore | Dif. | Pkt. |
1 | Frankreich | 2 | 1 | 1 | 0 | 2:1 | 1 | 4 |
2 | Deutschland | 2 | 1 | 0 | 1 | 4:3 | 1 | 3 |
3 | Portugal | 2 | 1 | 0 | 1 | 5:4 | 1 | 3 |
4 | Ungarn | 2 | 0 | 1 | 1 | 1:4 | -3 | 1 |