"Wo ist der Ort für einen ehrlichen Kuss?" Das fragen Die Toten Hosen immer dann auf ihren Konzerten, wenn sie zwischen Punkrock und Party auch mal leise, bedächtige Töne anschlagen: "Wo ist der Ort für einen ehrlichen Kuss, den Einzigen, den ich dir noch geben muss", heißt es in einer Textzeile, untermalt mit trauriger, melancholischer Musik.
Nun ist nicht zwingend anzunehmen, dass Hazard jemals etwas von der Band aus Düsseldorf gehört hat, geschweige denn die deutschen Zeilen versteht. Aber jene bedächtige Frage, die sich die Gruppe um Campino stellt, beschäftigte den 28-Jährigen schon seit mindestens einem Jahr: Die Frage nach dem Ort, aber besonders dem Zeitpunkt für seinen letzten Kuss an die Fans des FC Chelsea. Hätte man ihm eine Wahl gelassen, hätte er sich wohl eher nicht Baku als Ort und das Ende der Saison 2018/19 als Zeitpunkt ausgesucht.
Einerseits, weil Baku in Aserbaidschan liegt. Ein Land, das 4000 Kilometer weit weg ist, dem die Human Rights Watch systematische Folter bescheinigt und das es auch mit der freien Presse nicht so hat. Kein besonders guter Ort also für einen Abschiedskuss. Und auch nicht für das Finale eines Fußballwettbewerbs.
Andererseits hatte Hazard nach seiner grandiosen WM keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Stamford Bridge noch im Sommer 2018 verlassen wollte. Den Ort, wo am "Shed End", der legendären Fan-Tribüne der Blues, sein Konterfei mit der Aufschrift "Garden of Eden" hängt. Zu Real Madrid sollte es gehen. Der vielzitierte "nächste Schritt" eben, doch der kam und kam nicht.
Hazard nach Finaltriumph: "Ich denke, es ist ein Abschied"
Vielleicht sollte es einfach so sein, dass Hazard sein wohl letztes Spiel für Chelsea erst knapp ein Jahr später macht. Und vielleicht sollte es einfach in Baku stattfinden. Warum? Das weiß nur die UEFA. Aber als es vorbei war, schien eine Last von Hazard gefallen zu sein. Er holte einmal tief Luft und antwortete erst dann auf die Frage einer Reporterin von BT Sport.
"Ich denke, es ist ein Abschied", sagte Hazard, sprach davon, eine neue Herausforderung zu wollen und von seiner großen Liebe für die Chelsea-Familie. Dabei grinste er immer wieder, hin- und hergerissen zwischen dem Ernst der Frage und seiner Antwort und der Freude über das soeben Erreichte: den perfekten Abschied und den letzten liebevollen Kuss an den Verein, bei dem er seit sieben Jahren spielt und zu einem Superstar gereift ist.
Mit einem deutlichen 4:1 hatte sich der FC Chelsea im ersten rein englischen Finale der Europa League zum zweiten Mal nach 2013 den Titel geholt. Ausgerechnet gegen den Stadtrivalen Arsenal. Und Hazard? Der hatte den im ersten Durchgang noch sehr biederen und harmlosen Blues nach der Pause ein kraftvolles Gesicht verliehen. Wachgeküsst hatte Chelsea zwar der vielkritisierte Olivier Giroud mit einem herrlichen Flugkopfball zum 1:0 (49.).
Aber die Abschiedsküsse an die Titelträume der Gunners verteilte Hazard. Das Derby-Finale wurde zu einer Gala des 28-Jährigen. Nicht nur wegen seiner zwei Tore (64./FE, 72.) und seiner Vorlage zum 2:0 für Pedro (60.). Hazard spielte wunderbare Pässe auf Giroud, bewegte sich fließend zwischen linkem Flügel und Zentrum und war schlichtweg nach der Pause unkontrollierbar.
Hazard auf dem Sprung zu Real Madrid: Sehnsucht nach Zizou
Auch deshalb kam Arsenal-Trainer Unai Emery, eigentlich nach drei Titeln mit Sevilla ein ausgewiesener Europa-League-Experte, richtigerweise zu dem Schluss, dass Arsenal verdient verloren habe. "In der ersten Halbzeit hatten wir gute Chancen auf einen guten Ausgang des Spiels, aber das zweite Tor hat es zu schwierig gemacht", sagte Emery.
Tatsächlich war Arsenal in der ersten halben Stunde besser im Spiel, doch von dem gefürchteten Duo um Pierre-Emerick Aubameyang und Alexandre Lacazette ging kaum Gefahr aus. Und noch während sich die anfällige Gunners-Defensive in der zweiten Halbzeit ihrem Schicksal ergab, berichtete die britische The Sun via "Breaking News" von einer Einigung zwischen Chelsea und Real Madrid in der Causa Hazard.
Eine 130 Millionen Euro schwere Einigung. Der Spieler, dem Maurizio Sarri - hauptberuflich Fußballlehrer, nebenberuflich Knurrer - mangelnde Führungsqualitäten vorgeworfen und mit ihm als Falsche Neun fahrlässig herumexperimentiert hatte, wollte von einer fixen Abmachung jedoch noch nichts wissen. Im Fußball wisse man schließlich nie, sagte er: "Wenn das jetzt ein Abschied ist, möchte ich mich für sieben tolle Jahre bedanken."
Hazards Titelsammlung beim FC Chelsea
Saison | Titel |
2012/13 | Europa League |
2014/15 | Premier League, Ligapokal |
2016/17 | Premier League |
2017/18 | FA Cup |
2018/19 | Europa League |
Hazard: Der perfekte Abschied trotz ungünstigem Zeitpunkt
Sieben Jahre, in denen er in 245 Premier-League-Spielen 85 Mal getroffen hatte, zweimal englischer Meister wurde, den FA Cup und den Ligapokal holte. Und sich gerade in der Saison, in der er eigentlich schon längst bei Real Madrid und seinem Idol Zinedine Zidane sein wollte, nicht etwa divenhaft schmollte, sondern die beste Spielzeit seiner Karriere hinlegte (16 Tore, 15 Vorlagen).
Auch deshalb werden sie ihm an der Stamford Bridge seinen Abschied nicht übel nehmen. Zu groß sind seine Verdienste für den Verein. Zu professionell war sein Auftreten in jener Zeit, in der er eigentlich schon längst woanders hätte sein wollen. Zwar hat sein Abschied mehr als nur einen faden Beigeschmack, weil Chelsea nicht nur seinen besten Spieler verliert, sondern die Einnahmen wegen der Transfersperre auch erst einmal nicht wird reinvestieren können.
Doch das alles rückte an diesem Abend an einem fragwürdigen Ort in den Hintergrund. Einem Abend, an dem Hazard reichlich Abschiedsküsse verteilte und von denen der letzte wohl auf der silbernen Europa-League-Trophäe gelandet sein dürfte.