Geschmäcker sind bekanntlich verschieden. Die einen fanden die Fotomontage auf dem Cover des "The Economist" erheiternd, für die Gläubigen unter den Lesern hingegen war sie schlicht blasphemisch, weswegen in der Zentrale des angesehenen Wochenmagazins im November letzten Jahres Beschwerdebriefe erzürnter Christen eingingen.
Dabei hätte das Bild nicht besser zur Titelstory passen können. Die weltbekannte Jesusstatue Cristo Redentor, das 30 Meter hohe Wahrzeichen von Rio de Janeiro, zündet einer Rakete gleich die Triebwerke und hebt ab - analog zur Überschrift: "Brazil takes off."
Die Grundaussage der folgenden 14 Seiten: Nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit hat sich Brasilien zu einer boomenden Industrienation entwickelt, welche in einigen Jahren sogar Frankreich und Großbritannien als fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Erde überholen könnte.
Robinho in der Liga der Legenden
Eine rasante Entwicklung, die nüchtern-ökonomisch am starken Real, der Währung in Brasilien, oder am fünfprozentigen Wachstum festzumachen ist. Fühlbar wird der Aufschwung, wenn in den Stadien von Rio, Sao Paulo oder Santos die Rückkehr eines an Europa verloren geglaubten Fußball-Idols gefeiert wird.
Die brasilianische Liga ist mittlerweile so etwas wie der Gradmesser für den Zustand einer ganzen Nation. Nachdem bereits letztes Jahr Ronaldo und Adriano eine Renaissance des brasilianischen Klub-Fußballs einläuteten, wagten in der Winterperiode mit ManCity-Leihgabe Robinho und Roberto Carlos weitere Weltstars den Weg zurück.
"Finanzierbar sind solche Transfers nur, weil es der Wirtschaft so gut geht. Mittlerweile wurde ein Prozess gestartet, an deren Ende die brasilianische Liga in Südamerika wohl eine einzigartige Rolle zukommen wird, da sie finanziell in einer anderen Liga spielt", erklärt Tim Vickery, in Rio lebender Brasilien-Experte der "BBC" und des Fachmagazins "World Soccer".
Vagner Love: HSV wird von Flamengo ausgestochen
Seit Jahrzehnten blutet Brasilien fußballerisch aus - doch nun kündigt sich zumindest eine zarte Trendwende an. Zwar werden weiterhin die besten Fußballer nach Europa wechseln, nichtsdestotrotz hat sich dank der neu gewonnenen Wirtschaftskraft ein verändertes Selbstverständnis bei den Klubs entwickelt.
Vom Meistertitel beflügelt, setzte sich beispielsweise Adriano-Klub Flamengo im Poker um Vagner Love gegen den Hamburger SV durch, der FC Sao Paulo wiederum widerstand in der Winterperiode den Offerten von AC Milan, Inter, Real Madrid oder dem FC Barcelona und verzichtete auf einen Verkauf des Nationalspielers Hernanes. Wolfsburgs Wunschkandidat Miranda blieb genauso in Sao Paulo wie Ex-Lyon-Stürmer Fred bei Fluminense.
Selbst eine Vielzahl begehrter Top-Talente entschied sich für einen Verbleib, ob sie nun Neymar, Paulo Henrique (beide Santos) oder Dentinho (Corinthians) heißen. U-20-WM-Star Henrique etwa weigerte sich, zu ManCity zu wechseln, "weil ich nur nach Europa gehen würde, um bei Milan, Real oder Barca zu spielen".
Bis zu 45 Millionen Fans
Kaum ein Bereich in der Gesellschaft hat derart sichtbar vom brasilianischen Boom profitiert wie der Fußball. Großkonzerne sehen das immense Potenzial des nach Fläche und Bevölkerungsanzahl fünftgrößten Landes der Welt. Wenn Menschen mehr Geld verdienen, konsumieren sie auch mehr - und dieser Logik folgend versuchen die Unternehmen, die Kunden von morgen bereits heute an sich zu binden, indem sie sich im Fußball engagieren.
Das finanziell im Grunde bankrotte Flamengo (130 Millionen Euro Schulden) kann sich einen Adriano oder Vagner Love nur leisten, weil Trikotsponsor "Olympiakus Tube" komplett oder zum Großteil deren Gehälter übernimmt. Warum sich der Sportartikel-Hersteller so kostspielig engagiert, ist einfach zu erklären: Als beliebtester Verein Brasiliens verfügt Flamengo über 35 bis 45 Millionen Fans - was einen Markt von 35 bis 45 Millionen potenziellen Olympiakus-Tube-Käufern bedeutet.
Corinthians, mit rund 25 Millionen Anhängern der zweitpopulärste Klub, wird nicht nur bei der Finanzierung von Ronaldo großzügig durch den Lebensmittelkonzern "Bonzano" unterstützt und Fluminense (10 bis 12 Millionen Fans) baut auf die Millionen von "Unimed", der größten Krankenversicherung der Welt.
Interesse an Ronnie, Guti oder Vieri
"Dieses Finanzierungsmodell wirkt in der Tat wundersam. Aber es ist der einzige Weg für brasilianische Vereine, um einen Star zu verpflichten", sagt Vickery. "Den Firmen geht es darum, die Fan-Basis der Klubs anzuzapfen. Um den größtmöglichen Werbeeffekt zu haben, müssen sie aber Stars holen. Das ist ein wichtiger Faktor, denn in Brasilien ist der Personenkult noch viel ausgeprägter als in Europa."
Dementsprechend beherzt traten die brasilianischen Klubs in den letzten Monaten auf. Mehr oder weniger seriös wurden Ronaldinho (von Botafogo), Cicinho, Juninho (beide von Sao Paulo), Guti, Breno (beide von Corinthians), Tinga (von Fluminense) oder Christian Vieri (von Paranaense) Angebote unterbreitet.
Ze Roberto hätte statt in Hamburg auch bei Corinthians für das stolze Jahresgehalt von 2,4 Millionen Euro netto unterschreiben können.
Marketing als große Chance
Ein undurchsichtiges Finanzkonstrukt wie bei Santos, das auch ohne potente Geldgeber Robinhos Ausleihe stemmte, ist mittlerweile die Ausnahme unter den Spitzenklubs in Brasilien. "Das hat nichts mit Verstand zu tun, aber der neue Santos-Präsident ging das Risiko ein, um ganz eitel mit Robinho eine neue Ära einzuläuten", sagt Vickery.
Ausgerechnet Corinthians, der Skandal-Klub des letzten Jahrzehnts mit einer Schuldenlast von 100 Millionen Euro, legt im Gegensatz Wert auf eine nachhaltige Entwicklung. Neben dem erhöhten Sponsoringvolumen ruhen die Hoffnungen vor allem auf der Professionalisierung der Marketing-Abteilung.
So entdeckte Corinthians im Zuge der Ronaldo-Verpflichtung die Möglichkeit, durch Trikotverkäufe und Promo-Aktionen einen wichtigen Teil des Etats zu refinanzieren. Wie der Verein nun bekannt gab, soll der Roberto-Carlos-Transfer zu großen Teilen durch ein verbessertes Marketing getragen werden.
Ebenfalls hilfreich: Höhere Einnahmen durch Pay-TV (dreimal mehr Kunden seit 2006) sowie die starke heimische Währung, die die brasilianischen Klubs bei Verhandlungen mit in Europa unter Vertrag stehenden Spielern bevorteilen. Im Vergleich zu 2005 hat der Real zum Euro fast 24 Prozent an Wert hinzugewonnen, im Vergleich zu März 2009 sind es immerhin noch 13 Prozent.
"Als Star wird man vergöttert"
Die Finanzen sind eine wichtige, aber nicht die einzige Facette, um die Welle der heimkehrenden Fußballer zu verstehen. Robinho entschied sich auch für Santos, weil es in Brasilien schlichtweg leichter ist zu brillieren und sich für ein WM-Ticket anzubieten. Einen ähnlichen Weg ging bereits Nilmar, der in Brasilien derart auftrumpfte, dass er nicht mehr aus der Selecao wegzudenken ist und seit dem Sommer in Villarreal einen neuerlichen Versuch in Europa wagt.
Vickery: "Als Star wird man in Brasilien fast vergöttert. So sehr, dass sich Robinho nicht für jede verpasste Trainingseinheit rechtfertigen muss und dennoch spielt. Als Star wird man von den Schiris so geschützt, dass man im Grunde jeden Pfiff bekommt. Als Star hat man in Brasilien mehr Privilegien als in Europa. Das alles spielt natürlich eine große Rolle für Kindsköpfe wie Robinho."
Für Ronaldo und Adriano ging es hingegen mehr darum, sich im familiären Umfeld von ihren privaten Problemen zu erholen und sich sportlich zu rehabilitieren - was beiden bisher erstaunlich gut gelang. "Fußballerisch wie auch disziplinarisch profitieren die beiden von den niedrigeren Standards als in Europa und nutzen Brasilien als eine Art Kuraufenthalt", sagt Vickery.
Attraktiv auch für Argentinier
Aus welchen Motiven die Fußballer auch immer zurückkehren: Die brasilianische Liga bietet mittlerweile einen abwechslungsreichen Mix aus Stars (Robinho, Adriano, Ronaldo), aktuellen Nationalspielern (Fred, Vagner Love, Diego Tardelli, Hernanes, Miranda, Alex Silva, Richarlyson), langjährigen Europa-Legionären (Edu, Kleberson), Veteranen vor dem Karriereende (Roberto Carlos, Emerson, Ricardinho) und jungen Hoffnungsträgern wie eben Henrique.
Selbst für Spieler aus dem benachbarten Argentinien ist Brasilien dank guter Verdienstmöglichkeiten eine Alternative zu Europa. Dribbelwunder Dario Conca, vor zwei Jahren von Hertha umworben, gehört bei Fluminense zu den Attraktionen, der ehemalige Wolfsburger Andres D'Alessandro ist bei Internacional seit 2008 der größte Name.
Der 20-jährige Matias de Frederico, einer der begehrtesten Offensivspieler Argentiniens, schloss sich wiederum Corinthians an - trotz zahlreicher Angebote aus Europa.
Sein Kommentar: "Corinthians ist ein großartiger Schritt für mich. Hier kann ich zeigen, warum mich alle mit Lionel Messi vergleichen. Warum hätte ich nach Europa wechseln sollen?"