SPOX: Viele Ihrer Spieler aus der amerikanischen Nationalmannschaft sind in Europa aktiv, einige davon in Deutschland. Da aber nicht immer nur in der ersten Liga.
Klinsmann: Die Liga ist nicht das primäre Ziel. Zunächst einmal heißt es: ‚Raus aus deinem Nest, rein ins kalte Wasser.' Bei unserem Test gegen Italien habe ich Terrence Boyd eine halbe Stunde spielen lassen. Der spielt hier in der vierten Liga, bei Borussia Dortmund II. Aber wir kennen ihn aus unserer Olympiamannschaft, er hat sich hochgearbeitet. Ich sehe da nicht die Verbindung, dass einer in Deutschland in der dritten oder vierten Liga spielt, sondern dass er bei uns in der U 21 spielt. Wir haben auch auf einen Spieler wie Royal Fennell von den Stuttgarter Kickers, ebenfalls vierte Liga, ein Auge und Zugriff drauf.
SPOX: Für uns Deutsche ein ungewohnter Ansatz.
Klinsmann: Wir sind da anders strukturiert als Spanier, Engländer, Deutsche, die ihre Spieler alle zwingend aus der ersten Liga rekrutieren und wenn möglich dann auch noch von den Top-Klubs des Landes. Diese Ansprüche haben wir nicht. Wir müssen vielmehr schauen, wo der Spieler heute steht und wo er in zwei, drei Jahren stehen könnte. Wir können dafür aber auch behutsamer mit einem Spieler umgehen, als es zum Beispiel in Deutschland der Fall ist. Unsere Jungs sind hungrig. Der große Fußball wird nunmal in Europa gespielt und da wollen sie auch hin. Aber sie hören auf mich, wenn ich ihnen sage, dass sie besser noch ein oder zwei Jahr ein der MLS spielen sollen. Da müssen sie geduldig sein.
SPOX: Ist das auch ein großer Nachteil der MLS, dass sich die Spieler da entwickeln und dann nach Europa wechseln, wenn sie so weit sind?
Klinsmann: Die MLS will ihre Talente halten und dazu noch große ausländische Namen holen, um die Liga präsenter zu machen. Aber sie wissen auch, dass gewisse Spieler irgendwann auch nicht mehr zu halten sind. Die gesamte Entwicklungsarbeit mit jungen Spielern ist eine ganz andere als damals beim DFB.
SPOX: Die USA haben im Gegensatz zum DFB aber immerhin noch die Chance, eine Auswahl nach London zu den Olympischen Spielen zu schicken.
Klinsmann: Wir sehen uns in Nord- und Mittelamerika auf einer Augenhöhe mit Mexiko, vor denen brauchen wir uns nicht verstecken. Das wiederum ist ein Qualitätsmerkmal, denn in Mexiko hat sich sehr viel getan in den letzten Jahren. Es qualifizieren sich zwei Mannschaften für das Turnier, eine Teilnahme ist für uns sehr wichtig. In Amerika hat Olympia eine enorm hohe Bedeutung, da muss jeder Mannschaftssport bei Olympia präsent sein. Ein Scheitern wäre für das Prestige des Fußballs in den Staaten fatal.
SPOX: Wie könnte Ihr Kader bei der WM 2014 denn zusammengestellt sein?
Klinsmann: Sollten wir uns dafür qualifizieren, rechne ich mit 75 Prozent Legionären und fünf oder sechs Spielern aus der MLS. Wir haben in den USA Spieler, die da mithalten können. Kyle Beckerman etwa, knapp 30, spielt auf der Sechs. Das ist mein Rasta-Dunga. Ein genialer Spieler, der im Winter auch für drei Wochen in Kaiserslautern mit trainiert hat. Nur hatte der FCK auf dieser Position schon genügend Alternativen.
SPOX: Michael Ballack wird sehr wahrscheinlich zu Red Bull New York wechseln. Haben Sie Kontakt mit ihm und ihm zum Wechsel in die MLS geraten?
Klinsmann: Wir haben immer Kontakt, über das Thema aber noch nicht gesprochen. Aber Michael weiß, dass er mich jederzeit anrufen kann, wenn er Infos zur MLS braucht. Ich bin gespannt, was er machen wird. Ich wünsche mir aber auf alle Fälle, dass er noch ein paar Jahre weitermacht. Sollte er dann Amerika als nächsten Schritt wählen, wäre ich doppelt begeistert: Er würde der MLS sehr viel geben und könnte nochmal einiges dazulernen.
SPOX: Trotzdem wird die MLS in Europa immer noch ein wenig belächelt.
Klinsmann: Die Liga hat sich enorm gemacht. Die Klubbesitzer dort sind die Creme de la Creme der Industrie, aus der Öl- oder Unterhaltungsbranche. Solche Eigentümer hat nicht mal die Premier League. Die Liga steht nicht mehr in Gefahr, zusammenzuklappen wie damals nach der Beckenbauer- und Pele-Ära. Das wird nicht mehr passieren. Es gibt fast an jedem Standort fußballspezifische Stadien. Nicht wie die Allianz Arena, aber trotzdem top: 25.000 bis 30.000 Zuschauer Fassungsvermögen, zugeschnitten auf den Soccer. Letzte Saison hatten wir einen Schnitt von 18.000 Fans und sind damit an der NHL vorbeigezogen. Das ist schon ein Signal in Amerika. Die Dynamik des Fußballs ist da eine ganz andere als in Europa. Ballack, Henry, Beckham, Marquez, Frings - die haben Anziehungskraft auf Kinder und Jugendliche. Der Fußball in den USA hat seine eigene Nische und wird sich nur noch nach oben entwickeln.
SPOX: Wie schätzen Sie eigentlich Ihre Qualifikationsgruppe für die WM 2014 ein? Die Gegner hören sich nicht eben Furcht einflößend an.
Klinsmann: Ich rate jedem, mit uns mitzufliegen nach Guatemala und sich das schöne Stadion da anzuschauen... Länder wie Guatemala, Costa Rica oder Panama sind ganz harte Nüsse. Die haben gar nichts zu verlieren, wenn sie gegen die großen USA spielen. Wenn Deutschland dahin fliegt, gibt es das beste Hotel, die Mannschaft wird in Ruhe gelassen, am Ende gibt's ein schönes Freundschaftsspiel und alles ist gut. Wenn es für die USA nach Mittelamerika geht, geht's richtig ab. Dann weiß niemand, was in der Küche gekocht wird, was in den Zimmern ist oder wie lange Autos vorm Hotel stehen mit voll aufgedrehter Stereoanlage. Die Platzverhältnisse sind unklar und vor allem: Du hast keine Ahnung, wer der Schiedsrichter sein wird. Vielleicht gibt's zufällig noch einen Elfmeter, der gar keiner war... Da kann's nur heißen: Augen zu und durch. Denn es wird natürlich erwartet, dass du da bestehst und dich qualifizierst. Aber es ist nicht so, dass man zum Beispiel in Guatemala mal eben mit zwei, drei Toren Unterschied gewinnt.
SPOX: Der FC Barcelona hat letzte Woche Bayer Leverkusen in seine Einzelteile zerlegt. Leverkusen war letzte Saison immerhin deutscher Vizemeister. Ist Deutschlands Klubfußball noch nicht so weit wie die Nationalmannschaft?
Klinsmann: Ich kann nicht jeden Bundesligaklub beurteilen. Aber was Barcelona da praktiziert, ist die Verfeinerung von über 25 Jahren Arbeit. Ich durfte das als Spieler schon bewundern mit dem AS Monaco, da war Johan Cruyff noch Trainer. Da haben sie die Prinzipien bereits verfolgt, die heute den Grundstock des Erfolgs ausmachen. Das Wundervolle beim FC Barcelona ist ja nicht der Ballbesitz, sondern das Spiel ohne Ball. Wie sich das komplette Team bewegt, wenn der Ball gar nicht in der Nähe ist. Die Aufbauarbeit bis dahin hat über 20 Jahre gedauert.
Das können die in jedem Spiel abrufen, auch als ich damals mit dem FC Bayern 4:0 verloren habe - das war die Demonstration reiner Spielkunst. Wenn die einen dieser Tage erwischen, können sie dir auch zehn Stück geben und nicht ‚nur' sieben oder vier. Die kleinen Details, zusammen mit ihren Protagonisten Xavi, Iniesta, Messi, sind so extrem fein entwickelt. Das muss man auch anerkennen. Man kann sie natürlich auch mal schlagen - einmal in zehn Spielen. Oder man hat Glück und kommt mit zwei Unentschieden weiter. Das ist deine Ausgangskonstellation für Barcelona. Aber wenn sie's durchziehen, holen sie wieder die Champions League.
Jürgen Klinsmann im Steckbrief